Ganztagsschule geht ins Kino : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
In mehreren Bundesländern stehen wieder die SchulKinoWochen bevor. Warum Kino und Filmbildung in die Ganztagsschule gehören und welche Filme aktuell sehenswert sind, erläutert Michael Jahn von VISION KINO.
Online-Redaktion: Seit fast zwei Jahrzehnten werden die SchulKinoWochen bundesweit angeboten. Was sollen sie bewirken?
Michael Jahn: Hier gebe ich einmal wieder, was wir als unsere Motivation so auch öffentlich auf unserer Homepage von Vision Kino formulieren: Film gilt heute als das Leitmedium von Kindern und Jugendlichen. So wie Kinder selbstverständlich Texte lesen lernen, sollten sie möglichst früh lernen, bewegte Bilder zu lesen, also sie zu entschlüsseln und zu verstehen. Die SchulKinoWochen verfolgen das Ziel, Kindern und Jugendlichen diese dringend erforderliche basale Filmkompetenz zu vermitteln. Gleichzeitig stärken sie das Bewusstsein für das Kino als Ort der kulturellen Bildung, ob im Kontext des Schulunterrichts oder im Ganztag. Das Projekt zielt ebenso darauf ab, die Zusammenarbeit zwischen Schulen und Kinos zu fördern sowie vorhandene Schulkinoangebote zu ergänzen und zu verstetigen. Lokale und regionale Netzwerke sollen gefestigt werden oder sich neu bilden, um Filmbildung als Baustein einer umfassenden Medienbildung weiter zu etablieren.
Online Redaktion: Nach welchen Kriterien werden die Filme ausgesucht?
Jahn: Wir zeigen reguläre Kinofilme, also solche, die für die große Leinwand produziert wurden. Für uns ist wichtig, dass die Filme etwas Besonderes sind. Dabei schauen wir auf die Gestaltung, einfach darauf, dass es sich um ein tolles Filmwerk handelt. Darüber hinaus ist entscheidend, dass der Film Anknüpfungspunkte für Kinder und Jugendliche bietet und dass er sich thematisch im Unterricht, möglicherweise sogar in Film-Arbeitsgemeinschaften des Ganztags, einbringen lässt.
Unsere Erfahrung lehrt uns, dass die Lehrkräfte sehr viel Kreativität an den Tag legen, um das Erlebte mitunter sogar fächerverbindend aufzugreifen und ihre Schülerinnen und Schüler dazu befähigen, einen kritischen Blick auf die Produktion zu werfen. Wir gehen auf die Suche nach Filmen, die wir, auch mit Blick auf die unterschiedlichen Altersgruppen, ehrlich empfehlen können. Das scheint uns auch gut zu gelingen, denn jährlich nutzt jede fünfte Schule bundesweit unser Angebot. Sechs Prozent aller Schülerinnen und Schüler, in absoluter Zahl 950.000 Kinder und Jugendliche kommen so ins Kino, und nur äußerst selten hören wir etwas Negatives über die Filmauswahl.
Online-Redaktion: Wie gehen Sie bei der Auswahl vor?
Jahn: Wir beobachten eigentlich alle Filme, die in den Kinos starten, davon sichten wir um die 300 Filme pro Jahr und überlegen, welche davon für Schulen besonders interessant sind. Gemeinsam mit den Teams in den Ländern werden dann den Kinos Vorschläge unterbreitet. Dabei haben wir stets auch im Blick, wer welches Unterrichtsmaterial entwickeln kann. Denn unser Ziel ist es eigentlich nicht, dass die Teilnahme an der SchulKinoWoche einen reinen Ausflugscharakter annimmt. Unsere Teams in den Ländern, wie beispielsweise in Berlin und Hamburg, stellen auch die Bezüge zu Unterrichtsfächern dar. Das erleichtert den Lehrkräften die Arbeit.
Online-Redaktion: Welche Filme stufen Sie aktuell bei der Frühjahrsaktion als besonders sehenswert für Schülerinnen und Schüler ein?
Jahn: Da ist zum einen „Die Eiche – Mein Zuhause“ (Frankreich 2021) von Michel Seydoux und Laurent Charbonnier. Darin geht es um eine uralte Eiche. Der majestätische Baum ist im Wandel der Jahreszeiten Heimat und Zufluchtsort für Eichhörnchen, Spechte, Eichelhäher, Rüsselkäfer und Feldmäuse. Die vielen Bewohner streiten, sie feiern, sie unterstützen sich gegenseitig. Der bildgewaltige Dokumentarfilm ist eine sinnliche Reise in den Mikrokosmos der heimischen Tierwelt – mit dramatischen Überflutungen, aufkeimenden Frühlingsgefühlen und wilder Verfolgungsjagd.
Zum anderen fasziniert uns „Alcarràs – Die letzte Ernte“ (Spanien, Italien 2022) von Carla Simón. Der Film erzählt von der Utopie einer funktionierenden Beziehung zwischen Mensch und Natur. In sinnlichen Bildern und genauen Beobachtungen werden drei Generationen der katalanischen Pfirsichbauern-Familie Solé porträtiert, die ganz unterschiedlich auf die Verheißungen und Bedrohungen der Moderne reagieren. Der Film vermittelt Tradition, Frustration und Rebellion und lässt neben dem Einblick in das schwierige Zusammenleben einer Großfamilie auch die politische Dimension des Dramas erahnen.
Beide Filme sind spannend, lehrreich und bieten eine hervorragende Grundlage für die Beschäftigung im Unterricht.
Online-Redaktion: Welche Rolle spielt das Kino als außerschulischer Lernort?
Jahn: Filme ganz allgemein ermöglichen einen emotionalen und greifbareren Zugang zu Themen. Die Wirkmacht, etwas emotional mit zu durchleben, ist enorm. Etwas wird viel plastischer, eindringlicher und berührt häufig deutlich stärker als die Lektüre von Texten oder ein Vortrag, auch beispielweise bei historischen Themen, wenn man an Filme über den Nationalsozialismus denkt. Um diesen Effekt wissen die Schulen, das erfahren wir, wenn wir unser Angebot evaluieren, immer wieder.
Viele Lehrkräfte setzen mit dem Filmbesuch am Ende eines Projektes noch einmal ein deutliches Ausrufezeichen. Andere nutzen den Besuch des Films, um in die Diskussion des Inhalts, aber auch der Produktion selbst einzusteigen. Wir sind überzeugt, dass das Kino einen ebenso bedeutsamen außerschulischen Lernort darstellt wie Museen, Theater oder die Oper. Und das Kino kann diese Rolle nicht selten besonders dort einnehmen, wo es die anderen genannten Kultureinrichtungen nicht gibt.
Das wird im Übrigen auch von den Kultusministerien aller Bundesländer so eingeschätzt. Sie bewerben und unterstützen die SchulKinoWochen im Frühjahr und Herbst jeden Jahres ausdrücklich. Die SchulKinoWochen sollen explizit zu einer Förderung von Filmkompetenz von Schülerinnen und Schülern im Hinblick auf Auswahl, Verstehen, Analyse und Bewertung audiovisueller Angebote beitragen.
Online-Redaktion: Sind die Lehrkräfte auf diese Arbeit durch ihre Ausbildung genügend vorbereitet?
Jahn: Im Studium werden sie meist nur marginal mit Methoden der Filmvermittlung konfrontiert. Deswegen werden sie sowohl im Vorfeld als auch während der SchulKinoWochen aktiv von VISION KINO unterstützt: Fortbildungen für Lehrkräfte ermöglichen das Erlernen grundlegender Methoden zur Behandlung von Filmen im Unterricht. Jährlich beteiligen sich rund 1000 Lehrkräfte an unseren Fortbildungsangeboten. In zahlreichen Vorstellungen sind zudem pädagogische Referentinnen und Referenten im Kino vor Ort, um mit Schülerinnen und Schülern direkt zu dem Film zu arbeiten. Auch hierbei stehen sowohl thematische als auch filmästhetische und ‑dramaturgische Fragestellungen gleichberechtigt im Mittelpunkt der Diskussion.
Online-Redaktion: Wie schätzen Sie die soziale und integrative Kraft der SchulKinoWochen ein?
Jahn: Es freut uns, dass das Angebot durchweg in allen Schularten auf ein enormes Echo stößt. Sicher ist ein Pluspunkt unseres Konzepts, dass auch kleinere Gruppen das Kino besuchen können. Klassen von Förderschulen sind zum Beispiel häufig nicht so groß wie die anderer Schulen. Wichtig erscheint uns zudem, dass eine Kinokarte bei den SchulKinoWochen nur vier Euro kostet. Das ermöglicht vielen Kindern und Jugendlichen möglicherweise sogar den Erstkontakt zum Kino, der ihnen sonst vielleicht verschlossen bliebe. Ein weiterer Effekt ist das Gemeinschaftserlebnis des Kinos. Das Besondere am Kinobesuch ist außerdem, sich einmal für eine längere Zeit konzentriert einer Sache, einem Thema zu widmen, ohne nebenher etwas anderes zu machen. Das alles als Gesamtpaket macht die SchulKinoWochen zu einer runden Sache.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
Kategorien: Forschung - Internationale Entwicklungen
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