„Ganztagsbildung: gemeinsam lernen, gemeinsam aufwachsen“ : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Kaum jemand hat so lange die neuere Entwicklung der Ganztagsschulen verantwortlich begleitet wie Dr. Norbert Reichel. Im Interview spricht er über Anforderungen an Ganztagsangebote im Zusammenspiel von Jugendhilfe und Schule.
Online-Redaktion: Herr Dr. Reichel, Sie haben mehr als zwei Jahrzehnte den Ganztag mit allen Vorläuferentwicklungen in Nordrhein-Westfalen in verantwortlicher Position begleitet, wenn nicht mit initiiert. Vielleicht können Sie kurz diese „Vorgeschichte“ erläutern, wie kamen Sie persönlich zum Thema Ganztag?
Reichel: Ganztagsschulen, Ganztagsangebote, Ganztagsbetreuung – wie auch immer Sie es nennen wollen – waren schon immer ein Thema in meiner Arbeit. 1990 war ich im damaligen Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft für die Konzeption und Betreuung der Ganztagsstudie von Tino Bargel und Manfred Kuthe zuständig, die einen Bedarf für etwa 40 Prozent der Eltern errechnete. Mit meinem Wechsel nach Düsseldorf im Jahr 1994 übernahm ich die Betreuung des GÖS-Programms, des Landesprogramms „Gestaltung des Schullebens und Öffnung von Schule“, das die Zusammenarbeit mit außerschulischen Partnern förderte.
1999 erhielt ich die Möglichkeit, die Erfahrungen dieses Programms für den Ausbau erster Ganztagsangebote in Schulen zu nutzen. Das GÖS-Programm half bei Konzeption und Akzeptanz. Richtig Fahrt nahm das Thema wenige Jahre später auf. Ein wesentlicher Pull-Faktor waren die vier Milliarden Euro, die die Bundesregierung für Investitionen im Ganztag zur Verfügung stellte. Dazu kamen mehrere Länderinitiativen, die auf den hohen Bedarf der Eltern reagierten, als erste in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen.
Online-Redaktion: Wie schauen Sie heute auf die Entwicklung in Nordrhein-Westfalen – auch im Vergleich zur bundesweiten Entwicklung?
Reichel: Nordrhein-Westfalen hat vor allem in den Grundschulen eine Besonderheit. Während in anderen Ländern der Ganztag für Schulkinder vorrangig über Horte oder ausschließlich über Schulen organisiert wird, hat Nordrhein-Westfalen von Anfang an auf ein Trägermodell gesetzt. Das gibt es in dieser Form übrigens auch in Hamburg, dort allerdings in Konkurrenz mit einem schulischen Modell. Im Trägermodell übernehmen Träger der freien Jugendhilfe die Organisation der außerunterrichtlichen Angebote der offenen Ganztagsschule.
Schule und Jugendhilfeträger arbeiten auf der Grundlage von Kooperationsverträgen zusammen. Dieses Modell funktioniert auch in der Sekundarstufe I, dort allerdings eher selten mit einem einzigen Träger. Im Primarbereich liegt die gesamte Organisation des Ganztags in der Regel in einer Hand. Das Modell ist höchst attraktiv und nutzt effektiv möglichst viele Ressourcen des jeweiligen Schulumfelds.
Die Qualität des Trägermodells lässt sich gut in dem Motto „Gemeinsam lernen – gemeinsam aufwachsen“ zusammenfassen. Inhaltlich helfen in Nordrhein-Westfalen die von Schul- und Jugendministerium gemeinsam mit vielen Partnern erstellten „Bildungsgrundsätze für Kinder von 0 bis 10“ sowie die Unterstützungsangebote der Serviceagentur Ganztägig lernen in Münster, insbesondere das Instrument „QUIGS – Qualitätsentwicklung in Ganztagsschulen“.
Online-Redaktion: Quantitativ und qualitativ hat sich also viel bewegt...
Reichel: In den Quantitäten liegt Nordrhein-Westfalen unter den Flächenländern an der Spitze. In einigen Regionen gibt es bereits eine Versorgungsquote von bis zu 80 Prozent, nicht nur in Großstädten. Manche offene Ganztagsschule darf sich über die Teilnahme fast aller Schülerinnen und Schüler freuen. Diese Schulen arbeiten dann als „OGS für alle“. Da gibt es keinen Unterschied mehr zu einer gebundenen Ganztagsschule. Ohnehin denke ich, dass die Zeiten, in denen über die Alternative offener oder gebundener Ganztagsschulen gestritten wurde, vorbei sein sollten.
Ich spreche lieber von einem strukturierten Ganztag, der Verbindlichkeit, Verlässlichkeit und Flexibilität vereint und so eine an den Bedarfen der Kinder orientierte Mischung freiwilliger und pflichtiger Angebote garantiert. In der Sekundarstufe I sieht dies ähnlich aus. Allerdings gibt es hier noch Nachholbedarf bei Gymnasien und Realschulen. In anderen Schulformen, vor allem in der Gesamtschule, ist Ganztagsbetrieb die Regel. Es gibt viele Schulen, die es schaffen könnten, die diversen Arbeitsgemeinschaften außerhalb des Unterrichts zu einem kohärenten Ganztagsangebot zu verbinden.
Online-Redaktion: Vor zwei Jahrzehnten gab es in NRW Widerstände gegen die Schließung der Horte. Wie hat sich die Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule aus Ihrer Sicht entwickelt?
Reichel: Das ist lange vorbei. Die OGS wurde sehr schnell von allen Seiten akzeptiert. Die OGS hat der Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule einen großen Schub gegeben. Die Kommunen haben Verantwortung übernommen, Schulen und Jugendhilfeträger arbeiten in vielen Kommunen vorbildlich zusammen. Das heißt nicht, dass dies überall gleichermaßen gut funktioniert. Das liegt nicht nur an Einstellungen, sondern auch an der Finanzierung des Ganztags. Mittelfristig könnten sich die Länder an den Berechnungen des Deutschen Jugendinstituts orientieren. Mit der Anwendung dieser Berechnungen ließe sich flächendeckend eine verlässliche Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule sichern.
Online-Redaktion: Wo sehen Sie in diesem „Zusammenspiel“ von Jugendhilfe und Schule die Zukunft, wenn alles gut läuft?
Reichel: Wenn alles gut liefe, hätten Ministerien, Schulaufsicht, Landesjugendämter weniger Arbeit. Das wird jedoch so nicht eintreffen. Die Qualität der Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule muss ständig neu verhandelt werden. Kinder verändern sich, Lebenswelten, auch Eltern in ihren Ansprüchen an eine gute Ganztagsbildung. Es ist gut, dass in den Ganztagsschulen immer häufiger multiprofessionelle Teams entstehen. Ideal wäre es, wenn die Ganztagsschulen enger mit den örtlichen Unterstützungssystemen für Familien vernetzt wären, beispielsweise in Form von Familienzentren.
In Nordrhein-Westfalen gibt es bereits – auch dank des Engagements der Wübben-Stiftung – erste Landesförderprogramme für Familiengrundschulzentren. Ziel ist es, Kindern und Eltern die Chance zu geben, ohne großen Aufwand die gewünschte Beratung zu finden oder zumindest in ihrer Ganztagsschule jemanden zu haben, der diese Beratung vermitteln kann. Das würde auch die Akzeptanz des Ganztags noch einmal wesentlich erhöhen.
Online-Redaktion: Neben dem quantitativen Ausbau der Ganztagsangebote darf die Qualitätssicherung nicht vergessen werden. Wie gelingt sie und was heißt das für die Ganztagsschulforschung?
Reichel: Qualitätssicherung ist auch eine Frage der Qualifizierung des Personals, in Ausbildung, Fortbildung sowie in der regelmäßigen Unterstützung bei der konkreten Arbeit in den Ganztagsschulen. Leider spielt der Ganztag in der Ausbildung der Lehrkräfte wie der pädagogischen Fachkräfte der Jugendhilfe noch keine Rolle, sodass die jungen Absolventinnen und Absolventen der Ausbildungs- und Studiengänge sich das gesamte Know-how erst „on the job“ aneignen. Das muss sich dringend ändern.
Inzwischen gibt es eine Fülle von Studien, auch Doktor- und Masterarbeiten. Es gab Studien auf Bundes- und auf Länderebene. Eine wissenschaftliche Begleitung, gegebenenfalls sogar eine Dauerbeobachtung, wäre eine wichtige Hilfe für diejenigen, die über die Weiterentwicklung des Ganztags entscheiden, in den Ländern, in den Kommunen, bei den Trägern, aber auch in den Einrichtungen, die für die Aus- und Fortbildung zuständig sind. Wichtig wäre ein ständiger Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis.
Online-Redaktion: Die Serviceagentur „Ganztägig lernen“ haben Sie selbst mit ins Leben gerufen und sind ihr weiter verbunden. Was kann sie für die weitere Entwicklung der Ganztagsschulen tun?
Reichel: Die Serviceagentur Ganztägig lernen ist ein Produkt des von Bundesseite 2004 eingerichteten Begleitprogramms. In Nordrhein-Westfalen ist sie der Kern der Qualitätsentwicklung, eine Erfolgsgeschichte. Sie sorgt mit ihren Materialien, ihren Veranstaltungen, Fortbildung sowie diversen Projekten dafür, dass Schulen und Träger der Jugendhilfe sich untereinander austauschen, verständigen und gemeinsam weiterentwickeln können. Sehr erfolgreich waren und sind die kommunalen Qualitätszirkel für Ganztagsschulen, ebenso aber das Evaluationsinstrument QUIGS und die umfangreiche Broschürenreihe.
Online-Redaktion: Sie sind seit 2019 im Ruhestand – und mit dem „Demokratischen Salon“ in einem neuen Feld aktiv. Was ist Ihr Anliegen?
Reichel: Nach meiner Pensionierung habe ich ein Internetmagazin aufgebaut. Das hatte ich nicht so geplant, es ergab sich. Der Demokratische Salon (www.demokratischer-salon.de) bietet Essays, Begegnungen, Rezensionen mit Argumenten zur historisch-politischen Bildung. Es gibt elf Rubriken, darunter die Rubrik „Kinderrechte“, in der die Ganztagsbildung ihren Platz hat. „Ganztagsbildung ist Kinderrecht“ – das war auch der Titel einer Veranstaltung, die ich Anfang November 2021 mit der Serviceagentur Ganztägig lernen angeboten habe.
Jeden Monat gibt es einen Newsletter mit kurzen Zusammenfassungen sowie Hinweisen auf Veranstaltungen, Lesens- und Besuchenswertes meiner Partner. Ich arbeite mit diversen Organisationen im Kulturbereich, in der politischen Bildung aber auch mit einzelnen Künstler*innen sowie mit Galerien und Verlagen zusammen. Mir ist es wichtig, dass politische und historische Inhalte miteinander verbunden werden. Das geschieht oft im Grenzbereich mit diversen Künsten, beispielsweise Literatur, Malerei oder Fotografie.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
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