GANZtags Einfallstor für Demokratie : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

„Demokratie GANZtags“ ist ein Pilotprojekt in Sachsen, das Demokratiebildung als Arbeitsgemeinschaft gestaltet, zum Beispiel musikalisch als „Dein Soundtrack“. Leiter Jakob Ole Müschen im Interview.

Online-Redaktion: Woran dachten Sie, als Sie das Projekt „Demokratie GANZtags“ auf den Weg brachten: an den 24-stündigen Tag oder an die Ganztagsschulen?

Jakob Müschen
Projektleiter Jakob Ole Müschen © Andy Sauer

Jakob Ole Müschen: Wir haben tatsächlich an die Schulen mit Ganztagsangeboten gedacht. Wir standen in der Vergangenheit bereits häufiger mit Schulen in Kontakt und haben in der Evaluation unserer Veranstaltungen gespürt, dass sie ein wichtiges „Einfallstor“ für demokratisches Gedankengut sind. In Schulen können wir Kinder und Jugendliche aus allen sozioökonomischen Schichten erreichen. Besonders gut gelingt das über spannende Arbeitsgemeinschaften. Aber es stimmt natürlich: Demokratie ist auch ein Thema des gesamten Tages, ja jeder Sekunde. Und ebenso allen Handelns und Sprechens, will ich hinzufügen.

Online-Redaktion: Wie ist das Projekt „Demokratie GANZtags“ konzipiert?

Müschen: Wir haben unterschiedliche Themen ausgewählt: Ökologie und Nachhaltigkeit, Stadtentwicklung, Social Media, Migration und Flucht, als Medien wiederum Musik, Film und Comic. In den Arbeitsgemeinschaften, die in Sachsen Ganztagsangebote sind, werden die Schülerinnen und Schüler an demokratisches Handeln in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen herangeführt. Wir wollen sie ermutigen, ihre Um- und Mitwelt aktiv zu gestalten.

Online-Redaktion: Politische Jugendbildung hat es mitunter nicht leicht. Wie erreiche ich Jugendliche, die sich nicht ohnehin schon politisch engagieren?

Müschen: Ganz sicher erreichen wir sie nicht, indem wir uns nach dem Schulunterricht hinstellen und einen Vortrag halten. Ziel ist nicht der komplett schulische Blick. Aber wir orientieren uns ein Stück weit an den Lehrplänen, berücksichtigen zum Beispiel bei unseren Angeboten Vorwissen und Alter der Kinder und Jugendlichen, die sich freiwillig für die Teilnahme entscheiden. Aber unsere Arbeitsgemeinschaften sind keine Fortsetzung des Unterrichts.

Unsere Angebote sind vor allem interaktiv, spannend und praktisch, zum Teil auch spielerisch. Wir stehen nicht mit dem erhobenen Zeigefinger vor der Gruppe, sondern die Gruppe wird durch die eben beschriebene Weise von selbst an demokratisches Gedankengut herangeführt. 

Online-Redaktion: Wer ist „wir“?

Müschen: Wir, das sind die Kulturwissenschaftlerin Juliane Leuckfeld, die Forstwissenschaftlerin Monique Schneider mit einem Schwerpunkt der Umweltpädagogik und ich als Politikwissenschaftler. Zu unserem Team gehören außerdem ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sogenannte Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, die auf Honorarbasis tätig sind und die wir an ein bis zwei Wochenenden oder in Peer-to-Peer-Coachings schulen. Wir alle führen die Arbeitsgemeinschaften an den Schulen durch. 

Online-Redaktion: Sie haben auch Materialien entwickelt?

Demokratie GANZtags
Materialkoffer mit Vorlagen und Spielen für ein gesamtes Schuljahr © KulturLeben Dresden UG

Müschen: Wir, also das dreiköpfige Projektteam, haben einen Materialkoffer zusammengestellt. Er ist gefüllt mit Materialien, Vorlagen und Spielen für jede Schulstunde und zwar für ein gesamtes Schuljahr. Alle diese Materialien sind modular nutzbar und auch immer mit konkreten Methodenvorschlägen versehen.

Online-Redaktion: Benötigen Sie nicht auch didaktische Kompetenzen? Wer garantiert, dass die Methoden umsetzbar sind?

Müschen: Ein bißchen Didaktik haben wir im Studium schon mitbekommen. Aber wichtiger ist, dass wir nicht allein, sondern sozusagen Bestandteil des „Roten Baum e.V.“ sind. Der „Rote Baum“ ist ein 1993 in Dresden gegründeter gemeinnütziger Jugendverein, ein anerkannter Träger der freien Jugendhilfe. Im Verein arbeiten unter anderem viele Pädagoginnen und Pädagogen, die uns unterstützt haben. Darüber hinaus wird unser Projekt wissenschaftlich begleitet und evaluiert, unter anderem vom Deutschen Jugendinstitut. Und nicht zuletzt ist es wertvoll, dass wir Hauptamtlichen und Entwickler des Materials es selbst anwenden – wir spüren schnell selbst, wo es Nachbesserungs- und/oder Ergänzungsbedarf gibt. 

Online-Redaktion: Welche Schulen können im Projekt „Demokratie GANZtags“ mitmachen und welche sind schon dabei?

Müschen: Mitmachen können alle Schulformen und tun es tatsächlich auch. Aus organisatorischen Gründen konnte sich anfangs nur eine Schule aus Dresden beteiligen. Inzwischen haben wir unser Betätigungsfeld auf das gesamte Umland der Stadt ausgedehnt. Und da war der Andrang groß. Zehn Schulen haben sich gemeldet – zwei Grundschulen, vier Oberschulen, drei Gymnasien und eine freie Schule. Dort finden jetzt insgesamt 18 Arbeitsgemeinschaften zur Demokratiebildung statt. Die Schulen stammen aus den unterschiedlichsten Orten, mal aus ländlich, mal aus städtisch geprägten Regionen.

Online-Redaktion: Was können Schulen tun, die im nächsten Schuljahr 2022/2023 mit dabei sein wollen?

Müschen: Auf unserer Website finden sich unsere aktuellen Ganztagsangebote, die wir jetzt stetig ergänzen. Wir freuen uns immer über frühzeitige Interessenbekundungen, die können gern telefonisch oder auch formlos via Mail erfolgen. Und nicht zu vergessen: Natürlich sind uns auch jederzeit noch neue Multiplikatorinnen und Multiplikatoren willkommen.

Online-Redaktion: Sprechen wir noch einmal über die Inhalte. Einen Comic und/oder einen Film zum Thema Demokratie zu erstellen, ist leicht nachvollziehbar. Wie entdecke ich Demokratie in der Musik?

Müschen: Unser Angebot lautet „Dein Soundtrack“. Die Liebe zur Musik ist das verbindende Element der Gruppe. Wir geben keine Musikrichtung vor. Hip-Hop, Rock oder Pop, jedes Genre, auch der Schlager, ist willkommen. Musik transportiert Emotionen, Werte und Meinungen. Diese Kraft ist vielen Jugendlichen erst einmal nicht bewusst. Viele wissen nicht, wie komplex sie durch das, was sie hören, beeinflusst werden. Manchmal vielleicht sogar manipuliert werden. Gemeinsam werfen wir in der AG einen Blick auf ihre Lieblingslieder. Wir forschen nach deren Wirkung und Bedeutung, nach der historischen Relevanz und entdecken, wie man mit Musik selbst große Dinge bewirken kann. 

Online-Redaktion: Eine demokratische oder eben nicht demokratische Haltung spiegelt sich auch in der Alltagssprache wider. Sehen Sie da Anlass zu Besorgnis?

Müschen: Wir sind in Regionen tätig, in denen uns das Thema durchaus vertraut ist. Manche diskriminierende Wortwahl überträgt sich erfahrungsgemäß in Familien. Viel läuft über Social Media. Es findet häufig eine Begriffsverschiebung statt, die gefährlich ist. Menschenunwürdige Begriffe für Menschen nehmen manchmal noch zu. Wir möchten immer wieder für Sprache sensibilisieren und Kinder stark machen, zum Beispiel, nicht auf „rechte“ Tricks bei der Wortwahl hereinzufallen. 

Wir kooperieren deswegen auch mit dem Netzwerk „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“. Wir begrüßen es, wenn sich Schulen, die schon „Courage-Schule“ sind, an unserem Projekt beteiligen oder wenn Schulen, die mit einer unserer Arbeitsgemeinschaften starten, sich anschließend um diese Auszeichnung bemühen. 

Online-Redaktion: „Demokratie GANZtags“ endet 2024. Was erhoffen Sie sich für die Zeit danach?

Schulung GANZtags
Multiplikatorinnen und Multiplikatoren schulen © KulturLeben Dresden UG

Müschen: Wir haben uns mit dieser Frage auch beschäftigt: Was wird von unserem fünfjährigen Projekt bleiben? Für 2022 haben wir uns vorgenommen, unsere Multiplikatorinnen und Multiplikatoren weiter zu schulen. Wir möchten sie befähigen, unser Demokratieprojekt oder auch ein nach eigener Idee selbst entwickeltes Projekt so zu konzipieren, dass sie es im Ganztag an weiteren Schulen platzieren können. 

Die Basis für demokratisches Denken und Handeln muss in frühen Lebensjahren wie ein zartes Pflänzchen behandelt, „gegossen“ und gepflegt werden – in den Familien, aber eben auch ganz besonders in Schulen und auch schon den Kitas. Eben sehr früh.

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview.

 

Zur Person:

Jakob Ole Müschen, Jg. 1992, leitet seit dem Projektstart 2020 das Modellprojekt „Demokratie GANZtags“ in Trägerschaft der KulturLeben Dresden UG im Programm „Demokratie leben!“. Er hat Politikwissenschaft in Dresden und Halle studiert und ist seit Jahren in der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung tätig. Darüber hinaus ist er Doktorand an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und forscht dort zum Staats- und Gesellschaftsbegriff des jüdischen Spätaufklärers Saul Ascher, worüber er kürzlich in der HATiKVA e.V. - Bildungs- und Begegnungsstätte für Jüdische Geschichte und Kultur Sachsen in Dresden sprach.

Das Modellprojekt „Demokratie GANZtags“ wird im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“  vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie vom Sächsischen Staatsministerium für Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt gefördert.

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