„Ganztag stärkt die Schüler-Lehrer-Beziehung“ : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Der Ganztagsschulverband hat wieder einen Landesverband in Sachsen. Der Vorsitzende Christoph Bülau berichtet im Interview über die Gründungsideen und die Vorhaben zur Unterstützung der Ganztagsangebote.
Online-Redaktion: Herr Bülau, wie kam es dazu, dass Sie den Ganztagsschulverband Sachsen neu gegründet haben?
Christoph Bülau: Zwei Dinge kamen zusammen. Zum einen ist im August 2018 ein neues Schulgesetz in Kraft getreten. Darin ist festgelegt, dass alle Schulen in Sachsen Ganztagsangebote anbieten müssen. Es machen sich jetzt also auch die Schulen daran, solche Angebote zu etablieren, die bisher noch keine hatten. Zum zweiten ist deutlich geworden, dass der Freistaat eine höhere finanzielle Unterstützung bereitstellen wird.
Doch uns als Verband ist auch wichtig, dass das dringend benötigte Unterstützungssystem weiter ausgebaut wird. Die Referentinnen und Referenten des Kultusministeriums leisten tolle Arbeit. Aber wir sehen das Unterstützungssystem insgesamt am Limit. Mit weiteren Schulen wird der Unterstützungsbedarf steigen. Deshalb hatte ich die Idee, den Ganztagsschulverband in Sachsen zu gründen, auch als Interessenvertretung für alle Schulen mit Ganztagsangeboten. Als erstes habe ich meine Kollegin Dr. Sandra Berndt in der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig angesprochen und dann Eva Reiter, die Vorsitzende des bundesweiten Ganztagsschulverbandes. Beide haben sofort ihre Unterstützung zugesagt.
Über den Jahreswechsel 2018/2019 haben wir einen offenen Aufruf geschrieben, den wir an uns bekannte Schulen und außerschulische Partner weitergegeben haben. Schließlich haben wir mit Unterstützung des Arbeitsbereichs Schulentwicklungsforschung an der Universität Leipzig am 2. Mai 2019 zu einer Workshop-Tagung über die Aufgaben und Ziele eines Ganztagsschulverbandes in Sachsen eingeladen. Im Anschluss haben wir die Neugründung vorgenommen. Wobei Neugründung nicht ganz zutrifft, denn den Sächsischen Ganztagsschulverband gibt es schon seit 1990. Die Arbeit ruhte seit 1996. Wir haben den Verband nach 23 Jahren also wiederbelebt.
Online-Redaktion: Was verbindet Ihr Vorstandsteam mit dem Thema Ganztag?
Bülau: Ich selbst bearbeite an der Universität Leipzig seit Jahren das Thema Schulen mit Ganztagsangeboten. Unsere Vorstandsmitglieder Christiane Dubiel, Christoph Arnold, Rainer Müller und Jens Richter arbeiten alle an oder mit Schulen mit Ganztagsangeboten. Uns eint das Interesse, den Ganztag an Schulen weiterzuentwickeln. Es heißt doch so schön, dass dem quantitativen Ausbau der qualitative Ausbau folgen muss – und diesen qualitativen Ausbau wollen wir unterstützen. Für uns ist der Ganztag mehr als nur Betreuung, wir sehen hier große inhaltliche Potenziale, die wir mitgestalten wollen.
Online-Redaktion: Welche Potenziale sehen Sie?
Bülau: Gut gemachter Ganztag ist wesentlich mehr als die Beaufsichtigung und Betreuung von Kindern und Jugendlichen. Die StEG-Studie hat gezeigt, dass sich durch Ganztagsangebote das Sozialverhalten verbessert und – das ist wichtig für ein Bundesland wie Sachsen – dass große Potenziale im Umgang mit Heterogenität und Vielfalt bestehen, auch der Demokratiebildung. Ein besonderes Potenzial liegt bei den Lehrkräften. Sie können ihre Schülerinnen und Schüler in einem anderen Bildungssetting erleben.
Die Schüler-Lehrer-Beziehung, von der wir wissen, dass sie einer der wichtigsten Bausteine für gute Schule und guten Unterricht ist, kann durch den Ganztag gestärkt werden. Ganztagsangebote können den Unterricht verbessern, weil sie diesen neuen Blick auf Schülerinnen und Schüler ermöglichen. Auch im multiprofessionellen pädagogischen Personal sehe ich riesige Möglichkeiten.
Online-Redaktion: Welche Resonanz hatte Ihr Gründungsaufruf im Mai?
Bülau: Zu unserer Workshop-Tagung sind rund 30 Personen gekommen – Schulleitungen, Lehrkräfte, Eltern und sogar Schülerinnen und Schüler aus ganz Sachsen, auch außerschulische Partner. Wir waren also auf allen Ebenen sachsenweit gut aufgestellt. Vier Themen standen im Mittelpunkt: Zeit, Raum, Personal und Geld. Es ging um die hohe Arbeitsbelastung für Lehrkräfte und zu geringe Stundenkontingente für Erzieherinnen und Erzieher und um die Verknüpfung des Ganztagsangebots mit dem Unterricht.
Es ist in vielen Grundschulen immer noch eher die Regel, dass die Lehrerinnen und Lehrer am Mittag die Kinder an die Erzieherinnen oder Erzieher im Hort übergeben. Für die gemeinsame, also die multiprofessionelle Arbeit fehlt es aber auch an Weiterbildungsangeboten. Wichtig finden wir Abminderungsstunden für Koordinatoren und Lehrkräfte, denn momentan wird viel ehrenamtliche Arbeit im Ganztag geleistet. Hinzu kommt, dass in vielen Schulen ein Sanierungsstau besteht, sie müssten aus unserer Sicht im Grunde zu ganztägigen Lern- und Lebensräumen umgebaut werden.
Online-Redaktion: Wie kann der Ganztagsschulverband das alles unterstützen?
Bülau: Wir sind alle neu in der Verbandsarbeit, zugleich aber hochmotiviert und wollen direkt anfangen zu arbeiten. Zunächst werden wir ein eigenes Leitbild entwickeln. Die Ergebnisse unseres ersten Workshops haben wir in Arbeitsschwerpunkte umgesetzt. Einer umfasst die Vernetzung und Beratung von Schulen. Die Qualifizierung des Personals wird ein großes Thema sein, und wir werden Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit leisten. Für Ende August planen wir eine große landesweite Tagung, der Arbeitstitel ist „Qualität im Ganztag“.
Online-Redaktion: Wie groß ist Ihre Zielgruppe?
Bülau: Zurzeit haben wir in Sachsen 1.305 Schulen mit Ganztagsangeboten, und ich bin zuversichtlich, dass wir sie alle erreichen. Wenn am Ende des Jahres alle diese Schulen wissen, dass es einen Verband gibt, der sich für ihre Interessen einsetzt, wäre das ein großer Fortschritt für uns.
Online-Redaktion: Welche Rolle spielt der Bundesverband?
Bülau: Eva Reiter und Rolf Richter haben von Beginn an ihre volle Unterstützung zugesagt. Eva Reiter ist auch bei unserer Gründungsveranstaltung dabei gewesen und hat den Tag mitgestaltet. Unser Vorstand und der Bundesvorstand setzen sich regelmäßig zusammen und planen gemeinsam.
Online-Redaktion: Sie sind Erziehungswissenschaftler an der Universität Leipzig. Ist das Thema Ganztag ein Bestandteil der Lehrerausbildung?
Bülau: An meiner Universität gibt es ein Angebot im Bereich der Grundschule und eine Wahlveranstaltung für Lehramtsstudierende in den Bildungswissenschaften. Das ist nicht viel. In den Lehramtsausbildungen, die es neben Leipzig in Chemnitz und in Dresden gibt, werden auch keine Veranstaltungen zum Thema Ganztag angeboten. Viele Studierende werden also immer noch in eine Ganztagsschullandschaft entlassen – denn 97,4 Prozent aller sächsischen Schulen haben Ganztagsangebote –, von der sie im Studium kaum etwas gehört haben. Die Praktikumsordnung in den Bildungswissenschaften berücksichtigt das Thema Ganztagsangebote explizit nicht.
Das Problem ist aber noch größer. Auch in den Ausbildungen von Erzieherinnen und Erziehern, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern, Sozialpädagoginnen und -pädagogen findet das Thema Ganztag bisher so gut wie nicht statt. Von einer Verankerung als Querschnittsaufgabe in der Ausbildung kann derzeit nicht die Rede sein. Es wird deshalb aus unserer Sicht als Verband eine der großen Aufgaben in den kommenden Jahren sein, uns für die Aus- und Weiterbildung zu engagieren.
Online-Redaktion: Wie könnte diese aussehen?
Bülau: Es gibt einige tolle Beispiele aus anderen Bundesländern. An der Pädagogischen Hochschule Köln gab es einen Zertifikatslehrgang zur Ausbildung von Ganztagspädagoginnen und -pädagogen. In Schleswig-Holstein bietet die Serviceagentur „Ganztägig lernen“ seit 2017 in Kooperation mit der Volkshochschule einen Zertifikatskurs an, in dem das weitere pädagogisch tätige Personal weiterqualifiziert wird. In Bayern gibt es die Akademie für Ganztagsschulpädagogik, die mit der IHK zusammen Fachpädagoginnen und Fachpädagogen für Ganztagsangebote qualifiziert. Eine zweite Möglichkeit wäre, zu schauen, wo einzelne Module in die grundständige Ausbildung von Lehrkräften, Erziehern, Sozialpädagogen und Sozialarbeitern implementiert werden können.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
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