Ganztag: Chance für Mobilität und Verkehrssicherheit : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Das neue Schuljahr hat begonnen und rückt das Verhalten im Straßenverkehr wieder in den Blick. Verkehrspsychologin Dr. Tina Gehlert im Gespräch über eine Studie zur Verkehrs- und Mobilitätserziehung an Ganztagsschulen.
Online-Redaktion: Schulanfängerinnen und Schulanfänger sind wieder erstmals auf dem Schulweg. Sie leiten den Bereich Verkehrsverhalten bei der Unfallforschung der Versicherer (UDV) und haben eine Studie zu Ganztagsschulen herausgegeben. Mit welchen Motiven?
Dr. Tina Gehlert: In den Zeiten, als der Ganztag immer stärker ausgebaut wurde, haben wir Module für die Verkehrserziehung entwickelt. Nun, mehr als anderthalb Jahrzehnte später, wollten wir wissen, ob die Angebote, die es auf dem Markt gibt, passen. Wir haben daher 2019/2020 den Sport- und Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Ahmet Derecik von der Universität Osnabrück gebeten, zu untersuchen, welche Potenziale für die Verkehrserziehung für welche Ganztagsstrukturen existieren.
Online-Redaktion: Welche Ergebnisse haben Sie überrascht?
Gehlert: Wir haben die Entwicklung der Ganztagsschulen natürlich in den vergangenen Jahren verfolgt. Doch wir waren schon überrascht, wie sehr sich die Strukturen nach Bundesland und Schulform unterscheiden. Das geht deutlich über die Angebotsformen offener, teilgebundener und gebundener Ganztag hinaus. Diese Komplexität macht es durchaus ein Stück weit schwierig, passende Angebote für Verkehrserziehung zu entwickeln.
Online-Redaktion: Und für die Schulen, die sich des Themas annehmen wollen und Verkehrserziehung als ihre Aufgabe betrachten, ist es schwierig, Angebote zu finden…
Gehlert: Das können sie laut sagen. Wir haben alleine 67 Angebote recherchiert, vom ADAC bis zum ADFC, und wir haben sicher nicht alle gefunden. Es bedarf schon erheblichen Spürsinns, hieraus das Passende für meine Schule zu finden. Wir möchten es den Schulen leichter machen und haben eine Kategorisierung der Angebote entwickelt, die die Detektivarbeit vereinfacht.
Auf unserer Webseite unter dem Stichpunkt „Ganztagsschule“ haben wir die zentralen Ergebnisse des Forschungsberichts von Prof. Derecik veröffentlicht. Man kann sich den Bericht herunterladen. Er beinhaltet die Kategorisierung und Beschreibung der Angebote. Es handelt sich um keine Datenbank. Aber mit ein wenig Übung und Lesen findet hier jede Schule etwas. Vor allem aber gibt es auch Checklisten, für die Schulen und für externe Anbieter ebenso wie für die Institutionen der Politik, die die Rahmenbedingungen setzen. Die Checklisten enthalten alle Aspekte, die bei der Planung und Umsetzung von Angeboten berücksichtigt werden müssen.
Online-Redaktion: Warum sind Ganztagsschulen besonders prädestiniert für Verkehrserziehung?
Gehlert: Wegen der curricularen Vorgaben fehlt an Halbtagsschulen häufig die Zeit für Verkehrserziehung. Ganztagsschulen sind dagegen flexibler in der Gestaltung ihrer Angebote. Darüber hinaus besteht eine größere Chance, mit externen Partnern, sei es der Polizei, Verkehrswachten oder Verkehrsbetrieben zu kooperieren. Allerdings kann man das nicht über einen Kamm scheren. Die Anzahl flexibel gestaltbarer Angebote hängt stark von der Organisationsform und der jeweiligen Konzeption des Ganztagsangebots ab. Von daher bietet der Ganztag nicht per se bessere Möglichkeiten. Nach unserer Einschätzung liegen die größten Chancen in der Offenen Ganztagsschule.
Online-Redaktion: Weshalb gerade im Offenen Ganztag?
Gehlert: Ich könnte jetzt viele schöne Argumente aufführen. Aber die Wahrheit ist einfacher: Der Offene Ganztag ist nun einmal die häufigste Angebotsform. Das bedeutet, wir beziehungsweise die Anbieter von Verkehrssicherheitstraining haben dort die Chance, die meisten Kinder und Jugendliche zu erreichen.
Online-Redaktion: Müssen Halbtagsschülerinnen und -schüler dann leer ausgehen?
Gehlert: Sicher nicht. Aber in Halbtagsschulen beschränkt sich die Verkehrserziehung eben auf die wenigen Aspekte und Umfänge, die in den Rahmenlehrplänen bisher vorgesehen sind.
Online-Redaktion: „Was Hänschen nicht lernt“ gilt auch für das Verhalten im Straßenverkehr. Ein Plädoyer für eine möglichst frühe Verkehrserziehung?
Gehlert: Selbstverständlich. Darum ist die Radfahrausbildung ja auch in der Grundschule obligatorisch. Gut, dass es nicht dazu gekommen ist, dass sich die Polizei aus Gründen des Personalmangels aus diesem Teil der Verkehrserziehung zurückgezogen hat. Es wäre jedoch ein Trugschluss, zu glauben, dass Kinder sich schon nach dieser Schulung sicher mit dem Fahrrad allein im Straßenverkehr bewegen können.
Online-Redaktion: Den Weg zur Schule mit den Eltern wochenlang geübt, von den Lehrkräften geschult, vom Polizisten „geprüft“ – das reicht nicht aus?
Gehlert: In der Regel nicht. Unsere Verkehrsneulinge müssen sich noch sehr darauf konzentrieren, die Technik beispielsweise des Fahrrads, das Bremsen oder Schalten, zu beherrschen. Das bindet, einmal fachlich-psychologisch gesprochen, ihre kognitiven Ressourcen. Die Konzentration auf die realistischen Bedingungen auf der Straße leidet darunter. Man kann sagen: Je sicherer das Fahrrad beherrscht wird, desto intensiver können Kinder sich dem Verkehr widmen.
Online-Redaktion: Das heißt?
Gehlert: Wir benötigen dringend Fahrradtraining auch in den weiterführenden Schulen. 50 Prozent der Unfälle von 10- bis 14-Jährigen im Straßenverkehr passieren mit dem Fahrrad. Natürlich liegt das auch daran, dass mit zunehmendem Alter mehr Kinder mit dem Rad fahren als beispielsweise von den Eltern mit dem Auto zur Schule gebracht oder zu Fuß begleitet zu werden. Und dass die Komplexität im Straßenverkehr immer größer wird. Neue Verkehrsmittel wie Roller und E-Scooter sind hinzugekommen. Die Straßen werden insgesamt viel voller.
Online-Redaktion: Dennoch sind die aktuell vorliegenden Unfallzahlen bei unter 15-Jährigen um 4,1 Prozent (28.005) gesunken ist. Wie erklären Sie sich das?
Gehlert: Wir sehen seit vielen Jahren einen erfreulichen Rückgang der Unfallzahlen insgesamt, auch wenn sich der Trend zuletzt abgeschwächt hat. Aber gemessen an der Strecke, die Kinder und Jugendliche im Verkehr zu Fuß und mit dem Rad zurücklegen, verunglücken sie noch überproportional häufig im Straßenverkehr. So verunglücken 10- bis 14-Jährige 3,5mal so häufig als es ihrer mit dem Rad zurückgelegten Strecke entsprechen würde.
Online-Redaktion: Sprechen wir noch einmal über Ihre Checklisten. Was finde ich dort?
Gehlert: Vorwegschicken muss ich, dass wir die Qualität der ermittelten 67 Ganztagsangebote nicht untersucht haben. Leider gibt es tatsächlich bis heute keine Evaluation, die aufzeigt, welche Angebote die Verkehrskompetenz verbessern. Es würde den Rahmen sprengen, hier alle Details jeder Zielgruppe der Angebote aufzuführen. Die Checklisten stellen die vielen verschiedenen Aspekte zusammen, die für die Planung und die Umsetzung eines Angebots der Verkehrserziehung berücksichtigt werden sollten, damit solche Angebote entstehen und gut in den Schulalltag integriert werden können.
Die Checkliste für Schulen beispielsweise zeigt, dass sie ihre eigenen Möglichkeiten, das heißt Zeit, Raum und Ausstattung analysieren sollten. Wichtig ist, dass zeitliche und finanzielle Ressourcen sinnvoll eingesetzt werden. Es wird ferner geraten, zu schauen, welche Kompetenzen vielleicht im eigenen Kollegium stecken. Aber es wird unter anderem auch dargestellt, wie ein Vertrag mit Externen gestaltet werden kann.
Online-Redaktion: Darf jede Lehrkraft, die es sich zutraut, ein Verkehrssicherheitstraining durchführen, gemäß der Devise, wir sind ja alle einmal Fahrrad gefahren?
Gehlert: Aktuell benötigen Personen, die etwa ein Fahrradtraining anbieten möchten, in der Regel eine Übungsleiter/in C-Lizenz. Dies gilt insbesondere für weiterführende Schulen. Für eine solche Ausbildung haben viele Lehrkräfte, die sich der Aufgabe widmen möchten, oft keine Zeit. Wir wünschen uns daher niederschwellige Qualifizierungsangebote für Lehrkräfte, aber auch für Erzieherinnen und Erzieher, die eine Arbeitsgemeinschaft zur Verkehrserziehung oder Verkehrstraining leiten können.
Online-Redaktion: Wenn wir schon bei Wünschen sind. Was sollte sich künftig verbessern?
Gehlert: Dass Verkehrssicherheitstraining noch stärker in den Lehrplänen aller Altersgruppen verankert ist. Wichtig wäre auch eine finanzielle Ausstattung, die es den Schulen ermöglicht, die für dieses Training erforderlichen Materialien anzuschaffen, in erster Linie Fahrräder.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview.
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