FSJ Ganztagsschule: Einstieg in den pädagogischen Berufsalltag : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Christian Tischer koordiniert seit 2015 das FSJ Ganztagsschule in Sachsen-Anhalt und erläutert im Interview, welche Potenziale das Freiwillige Jahr für junge Menschen ebenso wie für die Schulen bereithält.
Online-Redaktion: Was hat die Landesvereinigung kulturelle Kinder- und Jugendbildung Sachsen-Anhalt e. V. vor drei Jahren veranlasst, als Träger für das Freiwillige Soziale Jahr (FSJ) in Ganztagsschulen aktiv zu werden?
Christian Tischer: Unser Ziel ist es, kulturelle Bildung noch stärker in den Schulen von Sachsen-Anhalt zu verankern. Im Rahmen des FSJ Kultur gelang es uns seit 2013, auch Schulen als Einsatzstellen zu gewinnen. Das Problem ist aber, dass die beteiligten Einrichtungen beim FSJ Kultur eine Eigenbeteiligung, genannt Einsatzstellenbeitrag, zahlen müssen, um jungen Menschen einen Freiwilligendienst in ihrer Einrichtung zu ermöglichen. Daran scheitert eine Kooperation häufig. Wir haben daher 2015 sozusagen eine Initiativbewerbung beim damaligen Kultusministerium, heute Bildungsministerium, abgegeben, um ins entsprechende Ganztagsangebot aufgenommen zu werden. Dort fiel die Idee auf fruchtbaren Boden und so konnten wir zur Schnittstelle Ganztagsschule-FSJ werden. Im Programm FSJ Ganztagsschule entstehen den Ganztagsschulen nun keine direkten Kosten mehr, sondern das Projekt wird über die finanziellen Mittel für Ganztagsschulen im Land mit gefördert.
Online-Redaktion: Wie viele Plätze stehen Ihnen zur Verfügung?
Tischer: Jährlich können wir 25 jungen Menschen ein Freiwilliges Soziales Jahr an vom Land anerkannten Ganztagsschulen ermöglichen. Dabei arbeiten wir aktuell mit 21 Schulen aller Schulformen außer der Grundschule zusammen.
Online-Redaktion: Bedauern Sie, dass Grundschulen nicht dabei sein können?
Tischer: In der Tat ist es bedauerlich, dass Grundschulen in Sachsen-Anhalt bislang nicht ins FSJ Ganztagsschule aufgenommen werden können. Aber wir befinden uns darüber im Gespräch mit dem Bildungsministerium. Uns allen ist der Bedarf der Grundschulen, die immer wieder bei uns anfragen, aber auch der Bedarf von Bewerberinnen und Bewerbern, die immer wieder diesen Einsatzort suchen, bekannt. Wir hoffen, dass sich an diesem Zustand eines schönen Tages etwas ändern wird.
Online-Redaktion: Wenn junge Menschen sich für ein Freiwilliges Soziales Jahr interessieren, denken die meisten spontan an soziale Einrichtungen, nicht aber an eine Schule. Warum sollten sie umdenken?
Tischer: Es gibt viele verschiedene Freiwilligendienstformate mit unterschiedlichen Einrichtungen, auch im kulturellen, im politischen, im ökologischen Bereich – oder eben in der Schule. Doch für diejenigen, die später einmal als Lehrerin und Lehrer oder in einem anderen pädagogischen Beruf arbeiten wollen, ist dies eine hervorragende Möglichkeit, alle Bereiche von Schule vor dem Studium kennenzulernen.
Sie erleben die Vielfalt der Aufgaben und die damit verbundenen Herausforderungen. Und sie können sich selbst beispielsweise hinterfragen, ob sie sich diesen Job zutrauen, ob sie sich vorstellen können, den Alltag in der Schule ein Berufsleben lang bewältigen zu können. Für die Schulen birgt die Kooperation mit Freiwilligen eine große Chance. Sie rückt plötzlich in die Mitte der Gesellschaft, ermöglicht freiwilliges Engagement in einer Einrichtung, der ein Stück weit der Ruf der Exklusivität anhaftet.
Online-Redaktion: Wie groß ist die Nachfrage der Ganztagsschulen?
Tischer: So groß, dass wir nicht alle Wünsche erfüllen können. Die Schulen schätzen die Anregungen, Impulse und Sichtweisen der Freiwilligen. Das trägt durchaus zur Schulentwicklung bei. Schulen, die sich darauf einlassen, wissen auch, dass sie auch Mehrarbeit erwartet. Denn jeder und jede Freiwillige hat ein Anrecht auf einen Mentor oder eine Mentorin und eine regelmäßige pädagogische Anleitung in einem komplexen Berufsfeld.
Online-Redaktion: Ein Jahr ist schnell vorüber. Kaum ist das FSJ gestartet und die oder der Betreffende eingearbeitet, ist die Zeit wieder vorbei. Ein Problem für die Schulen?
Tischer: Natürlich finden es die Schulen bedauerlich, wenn eine gut funktionierende Zusammenarbeit nach einem Jahr wieder endet. Anderseits entsteht so auch eine gewisse Dynamik, und Stagnation wird verhindert. Viele Schulen bleiben nach dem Jahr weiter in Kontakt mit ihren Freiwilligen, unterstützen sie, bieten ihnen die Gelegenheit zum Referendariat und hoffen, sie später als Kollegin oder Kollegen begrüßen zu können.
Online-Redaktion: Was schätzen die Freiwilligen besonders an ihrer Tätigkeit in der Ganztagsschule?
Tischer: Sehr viele spiegeln uns, dass ihnen der Rollenwechsel sehr viel bringt. Die meisten saßen bis vor kurzem ja selbst noch auf der Schulbank, hatten mitunter vielleicht auch kein Verständnis für Abläufe und Entscheidungen der Lehrkräfte und der Schule. Auf einmal aber erleben sie Schule aus der anderen Perspektive. Der Lernprozess für die Freiwilligen ist enorm groß. Ich nenne als Beispiel mal die Gemeinschaftsschule Kastanienallee in Halle. Diese Schule sieht sich im Verhältnis zu anderen Schulen in Halle vor enormen Herausforderungen. Hier lernen vergleichsweise viele Kinder mit Migrationshintergrund, fast zwei Drittel der Schülerinnen und Schüler. Auch Kinder mit Fluchterfahrung sind dabei, manche kaum alphabetisiert. Hier ist eine ganz andere Art der pädagogischen Arbeit als an vielen anderen Schulen erforderlich. Dieser Blick hinter die Prozesse im Umgang mit verschiedenen Herausforderungen ist bereichernd. Der Lebensraum Ganztagsschule hat unglaublich viel Potenzial.
Online-Redaktion: Sie sind mit dem Ziel gestartet, die kulturelle Bildung an den Schulen zu stärken. Wie können „Ihre“ Freiwilligen diese Aufgabe erfüllen?
Tischer: Die Möglichkeiten sind vielfältig. Entscheidend ist, dass die Interessen der Schulen und der Freiwilligen in Einklang zu bringen sind. Also: Was interessiert die jungen Menschen? Welche Bedürfnisse hat die Schule? Das können Arbeitsgemeinschaften rund um Kunst und Kultur, die Arbeit mit der Schulband, die Organisation von Kulturfesten oder interkulturellen Begegnungsprojekten sein, aber das können auch die Unterrichtshospitation, die Hausaufgabenbetreuung, die Begleitung auf Klassenfahrten und Ausflügen, individuelle Förderung, die Gestaltung eines Jahresheftes der Schule oder des Internetauftritts oder Projekttage, etwa zu Hass und Diskriminierung im Internet, sein.
Online-Redaktion: Was dürfen angehende Freiwillige von Ihnen als Träger erwarten?
Tischer: Zunächst einmal können sie sich bei uns von Januar bis Ende März für ein Freiwilliges Soziales Jahr bewerben. Wir koordinieren das Bewerbungsverfahren. Die Entscheidung, welche Person an welcher Schule angenommen wird, entscheiden diese beiden Partner selbst. Wir begleiten und beraten die Freiwilligen während des Sozialen Jahres. Dazu zählt die Teilnahme an 25 verpflichtenden Bildungstagen. An ihnen stehen der Umgang und die Erfahrung mit dem bereits erwähnten Rollenwechsel, Kommunikationsfragen, Konfliktmanagement, Fragen der Inklusion und Antidiskriminierungsarbeit, aber auch der künstlerisch-kreativen Auseinandersetzung mit den eigenen Erfahrungen auf der Tagesordnung. Wir unterstützen die Freiwilligen, die übrigens während des Jahres ein eigenes Projekt an der Ganztagsschule umsetzen müssen, auch bei ihrer Selbstreflexion oder wenn es einmal Konflikte mit der Schule, die wir ebenfalls jährlich besuchen, gibt.
Online-Redaktion: Welche Konflikte können das sein?
Tischer: Für die meisten stellt das Freiwillige Soziale Jahr so etwas wie die erste Erfahrung am Arbeitsplatz dar. Und damit dreht es sich zumeist um ähnliche Konflikte wie bei jedem Berufseinstieg. Im Arbeitskontext haben alle Bedürfnisse. Diese werden mitunter nicht früh und präzise genug abgestimmt, und im Arbeitsprozess selbst gerät das dann mitunter in Vergessenheit. Es entstehen Konflikte, die aber zumeist durch eine offene Kommunikationskultur ausgeräumt werden können.
Online-Redaktion: Welchen Stand der Kooperation zwischen Freiwilligen und Ganztagsschulen wünschen Sie sich für Ihr erstes kleines Jubiläum 2020, zum fünfjährigen Bestehen des FSJ Ganztagsschule?
Tischer: Wir wollen die bestehenden Kooperationen vertiefen und ausbauen. Das FSJ Ganztagsschule soll sich so etabliert haben, dass es eine feste Größe in der Bildungslandschaft von Sachsen-Anhalt geworden ist. Es soll eine wichtige Option für junge Menschen sein, bevor sie in eine Ausbildung oder ein Studium gehen. Damit wir das schaffen, müssen wir inklusiver werden und noch mehr junge Menschen erreichen, damit sich alle von dem Angebot angesprochen fühlen.
Kategorien: Kooperationen - Lokale Bildungslandschaften
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