"Der Praxis-Check führt zur Entmystifizierung": Kooperation und lokale Bildungslandschaften - Teil 2 : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf
Im zweiten Teil der Potsdamer Bilanztagung stand das Thema "Professionsentwicklung und regionale Vernetzung" im Mittelpunkt - und damit die Frage der Steuerung und Vernetzung ganztägiger Bildungs- und Betreuungssysteme auf lokaler oder regionaler Ebene. Welche Forschungsbefunde gibt es auf diesem Gebiet, und welche praktische Relevanz könne sie - zum Beispiel für den "Abbau herkunftsbezogener Bildungsbenachteiligung" - beanspruchen?
Im zweiten Teil der Potsdamer Bilanztagung stand das Thema "Professionsentwicklung und regionale Vernetzung" im Mittelpunkt - und damit die Frage der Steuerung und Vernetzung ganztägiger Bildungs- und Betreuungssysteme auf lokaler oder regionaler Ebene. Kein Zufall, denn ein Kernproblem, welches die PISA-Studie offenbarte, besteht bekanntermaßen darin, dass sich die Problematik von Bildungserfolg und sozialer Herkunft nicht nur in Bezug auf die Familie herstellt, sondern auch auf der Ebene des Sozialraums.
Demzufolge ist auch der Anteil jener Schülerinnen und Schüler, die weiterhin mit schlechten Zeugnissen oder gar ohne Abschluss durch die Maschen des Bildungssystems zu fallen drohen, in benachteiligenden Gebieten urbanen oder ländlichen Charakters ungleich höher. Welche Forschungsbefunde gibt es auf diesem Gebiet, und welche praktische Relevanz können sie beanspruchen? Hierüber gaben vier vom BMBF geförderte Forschungsprojekte detaillierte Auskunft.
Den Auftakt bildeten Dr. Heinz-Jürgen Stolz sowie Monika Bradna vom Deutschen Jugendinstitut (DJI) unter der Themenstellung "Professions- und Institutionsverständnis im Gestaltungskontext lokaler Bildungslandschaften". Die zentrale Frage der Studie "Lokale Bildungslandschaften in Kooperation von Ganztagsschulen und Jugendhilfe" war die nach dem "Abbau herkunftsbezogener Bildungsbenachteiligung" von Schülerinnen und Schülern im Rahmen einer lokalen Bildungslandschaft.
Gegenstand der Studie waren sechs Modellregionen (Arnsberg, Landkreis Forchheim, Landkreis Groß-Gerau, "Bildungsoffensive Elbinseln in Hamburg, Jena, Lübeck), die in einem recht aufwendigen Verfahren ausgewählt wurden und somit weit überdurchschnittlich gute Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für eine lokale Bildungslandschaft boten: Gefordert waren etwa die Vernetzung von Schule und Jugendhilfe sowie die Bildung heterogener Lerngruppen.
"Bildungsangebote für alle zugänglich und bezahlbar"
Die fachpolitischen Vorgaben der lokalen Bildungslandschaften lauteten: "Stärker als bisher sollen die Bildungsangebote aufeinander abgestimmt und miteinander verzahnt werden. Sie sollen allen zugänglich, transparent und bezahlbar sein." Vier Gestaltungsdimensionen kennzeichnen laut Heinz-Jürgen Stolz die Bildungslandschaften: Erstens die "Planung" mit dem Fokus auf lokale Bildungsplanung und -berichterstattung sowie eine integrierte Stadtentwicklungsplanung.
Zweitens die zivilgesellschaftlichen Akteure mit dem Fokus auf freie Träger oder Stiftungen. Eine dritte Gestaltungsdimension bezeichneten die Forscher und Forscherinnen als "Aneignung", worunter die Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen sowie der Eltern bei der Gestaltung anregender Lern- und Lebensumgebungen auch außerhalb formaler Bildungsangebote gemeint ist. Eine vierte Gestaltungsdimension lokaler Bildungslandschaft identifizierten die Forscherinnen und Forscher mit der "Profession", die ihren Fokus auf die multiprofessionelle Zusammenarbeit beziehungsweise Fortbildung von Fachkräften und Leitungspersonal legt.
Keine Blue Prints - jede lokale Bildungslandschaft ist anders
Dabei kam die Studie zu folgendem Ergebnis: "Im Lichte der Forschungsergebnisse lassen sich lokale Bildungslandschaften als ein 'kulturelles Projekt' charakterisieren, das weit über die sozialtechnologischen Gestaltungsdimensionen von 'Netzwerkmanagement' und 'Outputsteuerung' hinausweist". Für die lokalen Bildungslandschaften gebe es keine Blue Prints, denn "jede ist anders gestaltet", es dominieren laut Heinz-Jürgen Stolz die lokal angepassten Lösungen. In allen Regionen gibt es allerdings Probleme auf dem Gebiet der professionellen Abgrenzung. So wird die Jugendhilfe von der Schule häufig noch als Dienstleister behandelt, während die Lehrkräfte sich nicht in ihr Geschäft reinreden lassen.
"Den Ganztagsschulen wird eine besondere Bedeutung für die individuelle Förderung zugewiesen - allerdings in recht abstrakter Form", führte Monika Bradna zum Lern- und Bildungsverständnis aus. Nach wie vor dominieren dabei unterschiedliche Zugänge und Denkgewohnheiten der professionellen Akteure. Demzufolge werden Konflikte in den lokalen Bildungslandschaften nicht gelöst, sondern eher geregelt. Gemeinsame Fortbildungen seien eine zentrale Maßnahmen zur Schaffung multiprofessioneller Teams.
Das als "ganzheitlich" ausgegebene Bildungsverständnis führe noch eher selten zu einer "verlässlichen und erwartbaren" Beteiligung der Kinder und Jugendlichen oder der Eltern: "Bildungslandschaften sind derzeit keine Beteiligungslandschaften", so Stolz. Dazu passt, dass das informelle Lernen (Aneignungsdimension) kaum Relevanz für die Bildungslandschaft besitze. Einen Paradigmenwechsel von der Ganztagsschule zur Ganztagsbildung sahen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler noch nicht: Empowerment-Konzepte für Jugendliche in benachteiligenden Quartieren respektive nonfomale Angebote der kulturellen Jugendbildung - wie das BKJ-Programm für Hauptschüler - werden kaum in die Gestaltung der lokalen Bildungslandschaft einbezogen. Allerdings gäbe es erste Ansätze einer lokal moderierten Qualitätsentwicklung im Ganztag.
Kooperation im ländlichen Raum
Die Erforschung lokaler Bildungslandschaften aus der Warte ländlicher Regionen ist ein Novum. Die Ergebnisse des Projekts "Ganztagsschule in ländlichen Regionen" (GaLäR) stellten Dr. Christine Wiezorek, Stefanie Hörnlein sowie Benno Dieminger von der Friedrich-Schiller-Universität Jena vor. Sie präsentierten die Ergebnisse zweier Fallstudien in Rheinland-Pfalz.
"Ich kenne einen, der einen kennt" wird die spezifische Form der Kooperation der Gemeinde "F-Hausen" charakterisiert. Mit Hilfe dieser Ressource wird ein Zirkusprojekt der örtlichen Hauptschule im Verein mit dem Jugendzentrum betrieben. Das Projekt, das sich der Zustimmung des Schulträgers erfreut, ist finanziell gut abgesichert, eine Ganztagskoordination und zwei Schulsozialpädagogen sowie 18 externe Partner garantieren seine Existenz: "Lebensweltliche Netzwerkstrukturen sind der Ausgangspunkt für die Kooperation mit der Ferdinand-Lassalle-Hauptschule", erklärt Christine Wiezorek.
Das Beispiel verdeutlicht, dass ländliche Strukturen sowohl fördern als auch hinderlich für den Aufbau von Kooperationsstrukturen zwischen Schule und Jugendhilfe sein können. Als hemmend werden die räumlichen Distanzen erlebt, die zu überbrücken sind, als förderlich dagegen die partikularistische, auf die Gemeinde oder Region bezogene Gemeinschaftsorientierung. Unterschiedliche landespolitische Rahmenbedingungen in Rheinland-Pfalz und Thüringen wirken sich ebenfalls förderlich oder hemmend aus. Für beide Länder gilt mit Blick auf die Professionalisierung des Ganztags: "Im Hinblick auf die Gestaltung von Ganztagsschulen werden eher prekäre Beschäftigungsmodelle sowie die Kooperation mit nicht einschlägig pädagogisch qualifiziertem Personal befördert."
Das allgemeine Fazit der Studie lautet: Die Jugendhilfe ist nicht der privilegierte Partner für die Ausgestaltung des Ganztags. Ferner verschärft sich unter den Bedingungen der Ländlichkeit die strukturelle Zusammenarbeit zwischen Schule und Jugendhilfe. Auch wird die Ganztagsschulentwicklung auf dem Land in stärkerem Maß als in der Stadt von der regionalen beziehungsweise kommunalpolitischen Konstellation geprägt. "Landespolitische und kommunalpolitische Interessen divergieren teilweise so stark, dass sie die Entwicklung der Ganztagsschulen gefährden können", fügte Heinz-Jürgen Stolz in der anschließenden Diskussion hinzu.
Die Bildungslandschaft im Stadtteil: Bremen und NRW
Vom Land zur Stadt: Das Forschungsprojekt "Stadtteilvernetzung von Ganztagsschulen" wurde von Dr. Ulrike Baumheier, Dipl.-Päd. Claudia Fortmann, Hannah Gundert, Maren Lauf sowie Dr. Günter Warsewa von der Universität Bremen vorgestellt. Ziel der Studie war es, festzustellen, wie durch eine enge Vernetzung von Bildungsakteuren bessere Bildungsergebnisse, eine Verringerung der Selektionswirkungen und eine Verminderung sozialer Segregation erreicht werden kann. Dazu wurden sechs Fallstudien in benachteiligten und durchschnittlichen Stadtteilen in Bremen, Dortmund und Essen durchgeführt. Ergebnis der Studie: Es gibt einen hohen Anteil defizitorientierter Kooperationsangebote in Schulen und benachteiligten Quartieren sowie eine Dominanz additiver Kooperation. Ferner bleibe der Schwerpunkt auf dem Informationsaustausch statt auf der Entwicklung gemeinsamer Angebote, und die Vernetzung beschränke sich häufig auf die Leitungsebene.
Erforderlich erscheint dementsprechend den Forscherinnen und Forschern eine Professionalisierung der horizontalen Kooperation durch Koordination (Quartiersmanagement) sowie eine Verbesserung der vertikalen Kooperation durch ämterübergreifende Unterstützungssysteme. Als Beispiel nannten sie das Bildungsbüro Dortmund. "Wir brauchen integrierte, sozialräumlich orientierte Konzepte der Kommunen", erläuterte Günter Warsewa.
Fast nahtlos an die vorherige Studie schloss sich die Themenstellung des nachfolgenden Forschungsprojektes an: "Ganztagsschule in benachteiligten Stadtteilen - sozialräumliche Intervention und Kooperation". Vorgestellt wurde die Studie von Prof. Peter Floerecke, Michael Pawicki sowie Simone Eibner von der Hochschule Niederrhein Mönchengladbach sowie der TU Dortmund. Die Studie untersuchte insgesamt acht Ganztagsschulen sowie Kooperationsverbünde von Ganztagsschule und Quartiersmanagement in Berlin und Nordrhein-Westfalen.
Es zeigte sich für die Lebensbedingungen in den Stadtteilen eine Häufung komplexer Problemlagen: schwierige Wohnsituation verbunden mit Erwerbslosigkeit, knapper Wohnraum, belastete Partnerschaften, Gewaltpotenzial, mangelnde Erziehungskompetenzen, niedrige Bildungsabschlüsse, sprachliche Defizite. Folglich kamen folgende sozialräumliche Aktivitäten zur Anwendung: Stadtteilarbeit, Sprachförderung, Berufsorientierung, Elternarbeit sowie Einzelprojekte, um die Probleme von Schülerinnen und Schülern in sozial benachteiligten Stadtteilen im Rahmen des Quartiermanagements zu meistern. Anhand einer Matrix, die die Makro- (Politik), Meso- (Organisationen) und Mikroebene (Handeln) im Hinblick auf Einflussfaktoren und Auswirkungen differenziert, präsentierten die Forscherinnen und Forscher ein detailliertes Modell von Gelingens- und Misslingensbedingungen auf den verschiedenen Ebenen.
Hohes Generalisierungspotenzial der Forschungsergebnisse
Zum Abschluss der Tagung übernahm es Prof. Manfred Rolfes, Regionalwissenschaftler und Experte für integrierte Stadtentwicklung von der Universität Potsdam, als "critical friend" die Forschungsergebnisse zu kommentieren: Die Ganztagsschule sei als Ausgangspunkt ein fruchtbarer Ansatz für die Sozialintegration und die Bildungslandschaft. Es bedürfe hier der Ressourcenbündelung und Querschnittsorientierung. Große Probleme bereite erfahrungsgemäß die Nachhaltigkeit beziehungsweise die Verstetigung der Prozesse. Außerdem erinnerte er daran, dass es schwierig sei, alle Wirkungen in den Städten zu operationalisieren.
Abschließend resümierte der Tagungsleiter Prof. Karsten Speck: "Wir haben die Möglichkeiten und Grenzen der Kooperation an Ganztagsschulen kennen gelernt. Die Tagung hat ein Spektrum höchst aktueller Forschungsergebnisse in gebündelter Form dargestellt." Oder wie es der Bildungssoziologe Heinz-Jürgen Stolz zuvor in der Diskussion ausdrückte: "Der Praxis-Check führt zur Entmystifizierung." Obwohl die Befunde teilweise recht ernüchternd sind, zeigen sie doch auf, in welche Richtung man das "Schiff" Bildungslandschaft steuern muss: Pädagogische Innovation, Ko-Konstruktion, Kooperation auf Augenhöhe, Dienstleistungsorientierung. Insgesamt wurde sichtbar, dass trotz unterschiedlicher Herangehensweisen und verschiedener Einzelbefunde die Forschungsergebnisse ein hohes Generalisierungspotenzial haben. Dieses kann nun dem fachlichen Austausch auch in den Entscheidungsgremien dienen.
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