Brettspielakademie: Spielen als Ganztagsangebot : Datum: Autor: Autor/in: Claudia Pittelkow
Sind Brettspiele aus der Zeit gefallen oder sorgen sie im Ganztag immer noch für Spaß und die Stärkung wichtiger Kompetenzen? Christina Valentiner-Branth, die ihre Passion zum Beruf gemacht hat, im Interview.
Ob Mensch ärgere dich nicht, Domino, Scrabble, Das verrückte Labyrinth, Monopoly, Schoko-Hexe oder das uralte Backgammon – Brettspiele, die in unserer zunehmend digitalen Welt so herrlich altmodisch und analog daherkommen, haben während der Corona-Pandemie ein echtes Revival erfahren. Auch im schulischen Bereich gewinnt das vermeintlich altbackene Medium an Bedeutung. Christina Valentiner-Branth liebt nicht nur Gesellschaftsspiele, sondern hat ihre Passion gleich zum Beruf gemacht. Seit 2014 gibt sie als Spielexpertin ihr Wissen in Fortbildungen an Schulen, Kitas und Bibliotheken weiter. Vor sechs Jahren hat sie das Programm „Spielstarke Schule“ entwickelt und im Herbst letzten Jahres die Brettspielakademie gegründet.
Online-Redaktion: Frau Valentiner-Branth, wie sind Sie zur Spielexpertin geworden?
Christina Valentiner-Branth: Ich selbst habe schon immer gerne gespielt, mit Freunden und natürlich in der Familie. Beruflich befasse ich mich seit knapp 30 Jahren mit dem Thema. Seit 1993 rezensiere ich für den NDR und für Deutschlandfunk Kultur Gesellschaftsspiele und habe seitdem geschätzt mehr als 1.000 Spiele getestet.
Online-Redaktion: Heute besuchen Sie Schulen und bringen Lehrkräften bei, wie man richtig spielt. Kann man denn beim Spielen so viel falsch machen?
Valentiner-Branth: Oh ja! Wenn man beispielsweise Gesellschaftsspiele als Bildungsmedium an einer Grundschule etablieren will, reicht es nicht, einfach ein paar Spiele in den Raum zu stellen, sondern es braucht Anleitung. Das ist so ähnlich wie mit Mikroskopen, die kann man auch nicht einfach hinstellen, sondern die Lehrerin oder der Lehrer muss erklären, was man damit macht. Leider ist es heutzutage keine Selbstverständlichkeit mehr, dass Kinder wissen, wie sie würfeln, Karten richtig in der Hand halten oder im Uhrzeigersinn spielen.
Online-Redaktion: Wie läuft denn so eine Schulung von Pädagoginnen und Pädagogen konkret ab?
Valentiner-Branth: Ich zeige Lehrerinnen und Lehrern, Erzieherinnen und Erziehern, wie sie im Unterricht und in der Nachmittagsbetreuung im Ganztag ein Spielangebot hinbekommen, bei dem alle Kinder mitgenommen werden. Damit das auch bei einer heterogenen Schülerschaft gelingt, habe ich das Modell „Spielstarke Schule“ entwickelt. Dabei handelt es sich um ein unterrichtliches Angebot für Ganztagsschulen, bei dem alle Kinder miteinander spielen können, unabhängig von Geschlecht, Alter oder Herkunft. Dass so etwas im Unterricht oder in einem Nachmittagskurs funktioniert, ist keine Selbstverständlichkeit.
Online-Redaktion: Was braucht es, damit Gesellschaftsspiele in der Schule für alle Kinder funktionieren?
Valentiner-Branth: Vor Jahren haben mir Schulen oft berichtet, sie hätten zwar eine Spiele-AG, aber es würden nur Kinder teilnehmen, die wissen, wie Gesellschaftsspiele funktionieren. Wer nicht weiß, wie würfeln geht, will sich nicht blamieren und geht da nicht hin. Das war der Moment, in dem ich angefangen habe, zu überlegen, wie ich Schulen und Lehrkräfte dabei unterstützen kann, Gesellschaftsspiele in der Schule zu etablieren. Und zwar als quasi gebundenes Angebot, bei dem alle Kinder mitmachen müssen.
An der Anton-Rée-Schule in Hamburg Allermöhe hatte ich 2013 drei Jahre die Gelegenheit, mein Programm „Spielstarke Schule“ zu entwickeln. Die damalige Schulleiterin hatte mich kontaktiert, weil sie im Rahmen der Umstellung auf die Ganztagsbetreuung ein Projekt mit Gesellschaftsspielen machen wollte. Ich habe während dieser Zeit viel darüber gelernt, was Lehrkräfte brauchen, damit Gesellschaftsspiele an Schule funktionieren, und was Kinder brauchen, um davon zu profitieren.
Wenn wir mit der ganzen Klasse spielen wollen, dann brauchen wir Klassensätze von guten Spielen mit einfachen Regeln. Wenn dann alle Kinder spielen können, dann können auch Einzelexemplare der Spiele zum Freispiel in der Pausenhalle, in der Betreuung und in der Schulbibliothek angeboten werden. Die Klassensätze bleiben im Lehrerzimmer und können in die jeweiligen Klassen mitgenommen werden. Es gibt auch Schulen, die alle Klassen mit Klassensätzen von Brettspielen ausstatten, aber da braucht man schon ein gewisses Budget. Gerade letzte Woche hatte ich einen Anruf einer Schulleiterin aus Hamburg, die genau das machen möchte. Ihr Argument: Das sind doch Lehrmittel.
Online-Redaktion: Wird immer nur im Klassensatz gespielt?
Valentiner-Branth: Nein, es gibt insgesamt vier Level, auf denen gespielt wird. Aber für den Anfang auf Level 1 sind Klassensätze von Vorteil, um auch Schülerinnen und Schüler mitzunehmen, die keine Erfahrung mit solchen Spielen haben. Im ersten Level werden die Kinder in unterschiedliche Gruppen geteilt. Ich rate dazu, zu mischen, also nicht vier Kinder, die besonders leidenschaftlich sind und noch Entwicklungspotential in Sachen Impulskontrolle haben, an einen Tisch zu setzen. Dann wird das Spiel – an allen Tischen das gleiche – erklärt und durch Auswürfeln ein Spielleiter oder eine Spielleiterin bestimmt. Jetzt kann gespielt werden. Erfahrungsgemäß bleiben auch bewegungsintensive Kinder am Tisch sitzen, weil sie weiter mitspielen wollen. Sie lernen, dass sie das aushalten und sich beherrschen können.
Wenn das gut klappt, können wir auf Level 2 gehen, immer noch in festen Gruppen, da das emotionalen Halt gibt, aber nun mit unterschiedlichen Spielen. Im nächsten Level dürfen die Kinder sich selbst in Gruppen zusammenfinden, zunächst mit dem gleichen Spiel, in Level 4 dann mit unterschiedlichen Spielen. Wenn Kinder in der Nachmittagsbetreuung Lust haben zu spielen, werden sie sich selbst zusammenfinden – vorausgesetzt, es stehen attraktive Spiele zur Verfügung. Ich kenne viele Schulen, in denen die Spiele-AGs zu den beliebtesten Nachmittags-AGs gehören!
Online-Redaktion: Sie sprachen eingangs von einem unterrichtlichen Angebot für Ganztagsschulen und empfehlen Gesellschaftsspiele ausdrücklich auch für den Unterricht. Nun stehen Gesellschaftsspiele aber normalerweise nicht in den Bildungsplänen.
Valentiner-Branth: Viele Lehrkräfte sagen, sie würden ja so gerne spielen, aber es stünde nicht im Lehrplan. Das stimmt nicht! In jedem Lehrplan steht, dass Lehrerinnen und Lehrer die emotionalen und sozialen Kompetenzen ihrer Schülerinnen und Schülern stärken sollen. Deshalb haben sie immer einen guten Grund, Spiele einzubeziehen. Meiner Meinung nach sollte es in jeder Ganztagsschule ein unterrichtliches Angebot geben, in dem Kinder das Spielen lernen. Denn Gesellschaftsspiele sind nicht nur ein wichtiges Kulturgut, sondern stehen als Bildungsmedium gleichwertig zum Buch.
Online-Redaktion: Was genau können Schülerinnen und Schüler durch Gesellschaftsspiele lernen?
Valentiner-Branth: Im Gesellschaftsspiel lernen Kinder erstens Impulskontrolle: Sie müssen abwarten, bis sie dran sind, und aushalten, wenn sie nicht gewinnen. Zweitens bekommen sie ein prächtiges Arbeitsgedächtnis, indem sie sich Regeln merken und aktiv einsetzen. Und drittens lernen sie flexibles Denken, weil sie immer wieder ihre Strategien ändern und anpassen müssen. Diese drei Funktionen sind das Fundament, auf dem das Haus des Wissens steht.
Deshalb ist es sinnvoll, schon in der ersten Klasse mit dem Spielen anzufangen. Und wenn es nebenher noch ein bisschen Mathematik und Sprachförderung gibt, was bei vielen Gesellschaftsspielen der Fall ist, umso besser. So macht Lernen Spaß. Und für die Lehrkräfte gibt es noch einen positiven Nebeneffekt: Lehrerinnen und Lehrer, die im Unterricht spielen, sind ungemein beliebt. Eine Win-Win-Situation also!
Online-Redaktion: Haben Sie noch ein paar Tipps für Schulen, die Gesellschaftsspiele ausprobieren möchten?
Valentiner-Branth: Alle alten, zerfledderten Spiele müssen aussortiert werden. Und aus meiner Sicht auch alle allzu offensichtlichen Lernspiele. Es gibt einfach zu viele schlechte Spiele. Was noch? Wenn ich Lehrkräften sage, dieses oder jenes Spiel ist ein Bildungsmedium, dann sagen viele: „Aber das macht doch Spaß“, und was Spaß macht, kann nicht gut sein. Doch, es ist gut, nur eben ein anderes didaktisches Medium!
Mit Gesellschaftsspielen erwischen wir Kinder bei ihrer intrinsischen Motivation, bei ihren ganz persönlichen Wünschen. Kinder wollen spielen, weil es Spaß macht. Ich sage immer „Nutzt das doch im Unterricht und macht damit gleichzeitig euer Klassenklima besser!“ Kinder lernen und entwickeln sich im Spiel. Und sie lieben Regeln. Kinder brauchen Regeln, und genau daraus bestehen Gesellschaftsspiele. Wenn wir Schule als ganztägigen Lernort verstehen, dann gehören für mich Gesellschaftsspiele dazu.
Online-Redaktion: Frau Valentiner-Branth, herzlichen Dank für das Gespräch.
„Schließlich schafft die Schule – insbesondere die Grund- und Ganztagesschule – pädagogisch strukturierte Spielmöglichkeiten im Klassenzimmer, im Schulgebäude und ‑gelände. Indem die Schule solche Pausen-Zeiten und Freiräume lässt, nutzt sie die Bildungs-Bedeutung des Spielens von Spielen und achtet aber auf die pädagogische Erwünschtheit der Spiele. (...) Spielen Lehrer mit, so wird anschaulich, dass Lehrer auch „Menschen“ sind, die auch in symmetrischen Interaktionsbeziehungen mitspielen und auch verlieren können.“
Aus „Spiel und Spielen – Sinn und Grenzen der pädagogischen Nutzung in Schule und Unterricht“ des Erziehungswissenschaftlers und Bildungssoziologen PD Dr. Frank Olhaver.
Kategorien: Ganztag vor Ort - Bildungspolitik: Interviews
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