Bistum Speyer: „Räume der Stille“ im Ganztag : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Das Bistum Speyer, das an Ganztagsschulen in Rheinland-Pfalz und im Saarland präsent ist, hat 2006 eine „Koordinationsstelle für Ganztagsschularbeit“ eingerichtet. Leiterin Monika Schuster berichtet im Interview, wie sich die Arbeit über Jahre entwickelt hat.
Online-Redaktion: Warum engagiert sich das Bistum Speyer seit nunmehr 17 Jahren in und an Ganztagsschulen?
Monika Schuster: Die Schule hat eine viel größere Bedeutung für die Kinder und Jugendlichen bekommen. Durch den Ganztag hat sie sich vom reinen Lern- zum Lebensort gewandelt. Besonders die Jugendverbände und Horte haben sich gefragt, ob die Ganztagsschule eine Konkurrenz für ihre Arbeit darstellt. Doch es hat sich gezeigt, dass die kostenpflichtigen Horte in Rheinland-Pfalz keinen Rückgang der Anmeldungen zu verzeichnen hatten. Im Saarland, in das ein kleiner Teil des Bistums hineinreicht, beschlossen einige Pfarreien aber, ihre Horte in die Freiwillige Ganztagsschule einzugliedern.
Bei den Jugendverbänden mussten wir einen Rückgang der Mitglieder verzeichnen. Die Frage lautete also: Wie erreichen wir als Kirche noch die Kinder und Jugendlichen? Auch vom Bischof und dem Allgemeinen Geistlichen Rat, in dem Grundsatzfragen aller Bereiche und aktuelle Themen beraten werden, wurde die Bedeutung des Arbeitsfeldes Schule gesehen. Als eine Konsequenz daraus wurde die „Koordinationsstelle für Ganztagsschularbeit“ eingerichtet.
Online-Redaktion: Was waren Ihre ersten Maßnahmen an den Ganztagsschulen?
Schuster: Ganztagsarbeit entwickelt sich ständig. Das wirkt sich natürlich auch auf die Formate und Inhalte unserer Arbeit aus. Früher lag der Schwerpunkt auf Arbeitsgemeinschaften an Ganztagsschulen. Sie wurden oft von ehrenamtlichen Honorarkräften durchgeführt, auch von Gruppenleiterinnen und -leitern aus den Verbänden. Allerdings war es für diese schwierig, die von den Schulen gewünschte und erforderliche Kontinuität zu gewährleisten. Grund dafür waren auch die Zeiten, zu denen AGs stattfanden. Die stellten für unsere Ehrenamtlichen häufig wegen der eigenen Berufstätigkeit, des Studiums oder der verlängerten Schulzeit ein Problem dar.
Online-Redaktion: Heißt das, die Zeit der Ehrenamtlichen ist vorüber?
Schuster: Nicht völlig. Aber heute sind es überwiegend Hauptamtliche, die Projekte an den Schulen anbieten. Es wurden teilweise auch neue Stellen, beispielsweise die Stabsstelle youngcaritas, die Jugendbewegung des Caritasverbandes, und das Referat Globales Lernen geschaffen, die schwerpunktmäßig mit Halbtags- und Ganztagsschulen zusammenarbeiten. Auch der Fortbildungsbereich hat sich geändert. Früher gab es mehr spezifische Fortbildungen für pädagogische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Ganztagsschulen. Inzwischen wurden sie aufgrund des Bedarfs für Lehrkräfte und pädagogische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aller Schularten geöffnet.
Online-Redaktion: Warum bieten Sie inzwischen auch verstärkt schulinterne Fortbildungen an?
Schuster: Wir sind überzeugt, dass nachhaltige positive Veränderungen nur die Schulgemeinschaft vor Ort erreichen kann. Darum bieten wir gezielt Kurse für Lehrkräfte und Eltern unter dem Oberbegriff „Pädagogisches Profil stärken“ an. Wir stärken damit auch das Bewusstsein für den gemeinsamen Erziehungsauftrag und den Blick auf die sozialen Grundbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen.
Online-Redaktion: Erreichen Sie die Eltern?
Schuster: Ich kann nicht behaupten, dass wir Massen bewegen. Und auch wir stehen immer wieder vor der Frage, wie wir alle Eltern erreichen, vor allem die, die am dringendsten Unterstützung brauchen und die wir eigentlich erreichen wollen. Am besten schaffen wir es in der 1. Klasse und dann in der 5. Klasse. Das ist jeweils der Anfang von etwas Neuem, da ist noch keine Routine eingetreten. In dieser Phase kommen wir am meisten mit Eltern ins Gespräch. Unser Programm „KidS – Kess erziehen in der Schule“ – Kess bedeutet: kooperativ, ermutigend, sozial, situationsorientiert – ist dabei ein Fortbildungsprogramm, das pädagogische Fachkräfte, Lehrkräfte und Eltern in ihrem Erziehungsauftrag unterstützt. Es vermittelt eine ermutigende, achtsame und konsequente Erziehungshaltung.
Online-Redaktion: Stehen Eltern der Kirche heute kritischer oder skeptischer gegenüber, nicht zuletzt nach den bundesweiten Vorfällen von sexuellem Missbrauch?
Schuster: Wir waren schon dankbar, dass es von Schulen und Eltern keine Pauschalurteile gab. Dazu beigetragen hat auch, dass das Bistum umfassende Präventionsmaßnahmen eingeleitet hat. Es wurden zudem Beauftragte für Hilfe bei sexuellem Missbrauch und Prävention eingesetzt. Mit der Arbeitsgruppe „Missbrauch und Prävention“, der auch unabhängige Fachleute angehören, ist das Bistum offen für Untersuchungen, auch wenn es in unseren Kooperationen unmittelbar keine Missbrauchsfälle gab.
Aber man kann schon feststellen, dass Eltern insgesamt kritischer geworden sind. Während früher eigentlich per se alles richtig war, was ein Pfarrer oder eine Lehrkraft sagte, wird das heute viel mehr hinterfragt. Die Eltern sind dennoch allgemein mit den Projekten und unserer Arbeit zufrieden. Selbst muslimische Eltern sagen, dass sie froh sind, dass ihr Kind eine Einrichtung eines katholischen Trägers besucht.
Online-Redaktion: Welche Arbeitsgemeinschaften und Projekte gibt es heute noch?
Schuster: Schwerpunkte unserer Arbeit sind Themen aus dem Bereich soziales Lernen und Persönlichkeitsentwicklung. Die Malteser und die Malteser Jugend bieten für die Sekundarstufe I und II beispielsweise die Ausbildung zum Schulsanitätsdienst oder die Vorbereitung auf den Einsatz als Demenzbegleiter an. In den Grundschulen wird das Projekt „Abenteuer Helfen“, ein Erste-Hilfe-Kurs für Kinder ab 4 Jahren, durchgeführt. Im Rahmen von youngcaritas haben wir die AG „Fremde Lebenswelten“ initiiert. Hier steht soziales Lernen im Mittelpunkt. Schülerinnen und Schüler setzen sich mit für sie unbekannten Lebenswelten auseinander, entwickeln Projekte mit und für Flüchtlinge oder für alte und kranke Menschen. „Globales Lernen“ ist ein Kooperationsprojekt mit dem Hilfswerk Misereor. In dessen Projekten werden handlungsorientiert Kompetenzen vermittelt, die wir heute und in Zukunft brauchen, um in unserer Weltgesellschaft verantwortungsvoll zu leben. Themen sind auch Klimaschutz, der verantwortliche Umgang mit Ressourcen oder fairer Handel. Das Förderprojekt „Räume der Stille“ ist ein ökumenisches Projekt. Wir unterstützen die Ganztagschulen darin, auch Orte zu haben, an denen es keinen Leistungsdruck gibt.
Sie sollen Gelegenheit des Atemschöpfens, der Konzentration und inneren Sammlung, der Selbstreflexion, der spirituellen und religiösen Erfahrung, des ganzheitlichen Lernens, des Erinnerns und Trauerns schaffen. Damit sich alle Schülerinnen und Schüler willkommen fühlen, fördern wir in den staatlichen Schulen ganz bewusst Räume, die weltanschaulich offen sind. Wir tun dies durch Beratung, finanzielle Unterstützung und durch das Angebot von Fortbildungen.
Online-Redaktion: Unterscheiden sich Ihre Aktivitäten in Rheinland-Pfalz und im Saarland?
Schuster: Durchaus. Im Saarland sind wir, anders als im Rheinland, in einigen Grundschulen für den gesamten Nachmittagsbereich zuständig. Hier kooperieren vier unserer Pfarreien als Freie Träger der Jugendhilfe mit FGTS, also Freiwilligen Ganztagsschulen. Diese sind aus ehemaligen Horten entstanden. Die Pfarreien übernehmen für die Schule die Nachmittagsbetreuung mit Hausaufgabenbegleitung und die Ferienbetreuung. Das Angebot wird hauptsächlich von ErzieherInnen durchgeführt. Zum Teil sind aber in die Nachmittagsarbeit auch staatliche Lehrkräfte eingebunden, und es gibt eine Steuerungsgruppe, in der Absprachen getroffen werden.
Online-Redaktion: Mit welcher Motivation tun Sie das?
Schuster: Wir wollen die Vernetzung der Bildungsarbeit von Pfarrei, Kita und Schule verbessern. Zudem wird Kirche hier konkret erlebbar. Es entstehen neue Kontakte, und sogar der Übergang von der Kita zur Grundschule gelingt besser. Wir tragen auch zu religiöser Bildung bei. Wobei uns hier auch der interreligiöse Dialog wichtig ist, wir sind überzeugt, so ein Stück weit Präventionsarbeit in Sachen Fundamentalismus zu leisten. Und schließlich gelingt uns auf diesem Weg, schulische Bildungsprozesse vor Ort mitzugestalten.
Online-Redaktion: Wie viele Ganztagsschulen erreichen Sie insgesamt?
Schuster: „Räume der Stille“ fördern wir an rund 20 Ganztagsschulen. Durch Projekte, Kooperationen und durch den Einsatz junger Menschen, die ein Freiwilliges Soziales Jahr ableisten, sind wir an weiteren 45 bis 50 Ganztagsschulen aktiv. In unseren Fortbildungsangeboten zur Allgemeinen Pädagogik begrüßen wir jährlich 350 bis 500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Hinzu kommen noch religionspädagogische -und schulpastorale Fortbildungen, die sich punktuell auch für pädagogische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geöffnet haben.
Online-Redaktion: Und was ist Ihnen für die Zukunft wichtig?
Schuster: Wir möchten weiter dazu beitragen, in den Schulen den Blick auf die Kinder und Jugendlichen und deren Bedürfnisse zu richten. Wir wollen sie in ihrer Entwicklung stärken und selbstbestimmte, sozial gefestigte Persönlichkeiten bilden, wie wir sie in der Kirche und in einer Demokratie dringend brauchen.
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