Bildungsoffensive Elbinseln: Stimmung für gute Bildung : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Die Internationale Bauausstellung 2006 - 2013 in Hamburg bewirkte auch auf einem anderen Gebiet so einiges: Im vergangenen Jahr startete die "Bildungsoffensive Elbinseln", mit der eine systematische Vernetzung aller Bildungseinrichtungen in den Stadtteilen Wilhelmsburg und Veddel erreicht werden soll. Ganztagsschulen als Bürgerzentren spielen dabei eine zentrale Rolle.
Seit 1901 fanden in Deutschland bereits sieben internationale Bauausstellungen statt. Zum ersten Mal gastiert die Internationale Bauausstellung (IBA) nun in Hamburg: Von 2006 bis 2013 werden auf den Elbinseln beispielhafte Lösungen für städtebauliche Probleme und für Fragen der städtischen Ökonomie gezeigt. Schwerpunkt der IBA Hamburg sind zentrale Aspekte der Metropolenentwicklung. Die IBA möchte mit Modellen, sozialen und kulturellen Projekten, Veranstaltungen, Dialogen und Publikationen Impulse für neue Wege des sozialen und kulturellen Miteinanders in der Stadt und für die Planungs- und Baukultur geben.
Für die Hamburger Elbinseln mit Wilhelmsburg, der Veddel und dem Harburger Binnenhafen bemüht man das viel strapazierte Wort vom "Sozialen Brennpunkt": Das ehemalige klassische Arbeiterviertel ist heute zu etwa 50 Prozent von Migranten bewohnt und von Verkehrsschneisen zerschnitten. Für die Verantwortlichen der IBA bieten sich aber gerade in einem solchen Stadtteil Chancen: "An den sozialen und kulturellen Grenzorten entsteht das Neue oft zuerst. Hier müssen Brücken geschlagen werden, müssen neue Verbindungen gesucht werden - hier helfen die alten Rezepte selten weiter."
Wer von der Stadt der Zukunft spricht, darf von der Bildung nicht schweigen. Die Abiturquote ist auf der Elbinsel deutlich niedriger als im restlichen Hamburg. Bis zu 25 Prozent eines Schuljahrgangs verlassen in Wilhelmsburg die Schule sogar ganz ohne Abschluss. Rund ein Drittel aller Schulabgängerinnen und -abgänger findet im unmittelbaren Anschluss an die Schulzeit keinen Ausbildungsplatz. Eltern ziehen aus dem Stadtteil fort, weil sie glauben, ihr Kind lerne in der Schule den adäquaten Umgang mit der deutschen Sprache nicht mehr. Pädagoginnen und Pädagogen klagen, eine wachsende Anzahl von Kindern sei seelisch, geistig und sozial so vernachlässigt, dass es unmöglich sei, sie zu unterrichten.
Offener Prozess statt fertiger Pläne
Vor diesem Hintergrund kam es 2005 durch die Initiative der Entwicklungspartnerschaft Elbinsel (EP) zu einer neuen Bildungsoffensive unter dem Motto "Die IBA braucht eine IBA" - die Internationale Bauausstellung braucht eine Internationale Bildungsausstellung. Im Beirat für Stadtteilentwicklung, beim Abschluss-Workshop der Entwicklungspartnerschaft Elbinsel und im Rahmen des Expertenforums der IBA fanden Diskussionen zur Bildungssituation in Wilhelmsburg und auf der Veddel statt. Der Hamburger Senat unterstützte diese "Bildungsoffensive Elbinseln" und richtete im Mai 2006 in Wilhelmsburg eine Koordinierungsstelle ein. Sie soll daran mitwirken, dass Ideen, Forderungen, Vorschläge und Erfahrungen der Beteiligten in den Bildungseinrichtungen vor Ort auch tatsächlich bis in die Behörden vordringen.
Leiter dieser von der Bildungs- und Stadtentwicklungsbehörde getragenen Einrichtung wurde Jürgen Dege-Rüger, der zuvor 15 Jahre lang Leiter der Volkshochschule Harburg/Finkenwerder war. In jener Funktion hatte sich Dege-Rüger bereits um die Öffnung der VHS zu anderen Institutionen wie der Technischen Universität oder der Industrie bemüht. Nun nutzt der Leiter der "Bildungsoffensive Elbinseln" seine Erfahrungen, um Verbesserungen im Bereich Bildung durch Zusammenarbeit mit Schulen, Elternschulen, Jugend- und Freizeitheimen zu erreichen: " Unsere Arbeit soll dazu beitragen, die übergroße Abhängigkeit des Bildungserfolges von der sozialen Herkunft zu beenden. Wir können zusammenbringen, moderieren, anregen. Wir können auch Mut machen bei neuen Vorhaben. In der aktuellen Diskussion um die Bedeutung von Bildung in der modernen Gesellschaft hat das Projekt eine besondere Bedeutung."
Die Koordinierungsstelle möchte lokale Bildungsakteure koordinieren, örtliche Netzwerke unterstützen, den Transfer zwischen Fachbehörden und Bezirksverwaltungen zu den lokalen Einrichtungen erleichtern, Mittel akquirieren, Bildungsmarketing und Workshops durchführen. Am 15. September 2006 organisierte die Koordinierungsstelle eine Auftaktveranstaltung. Rund 250 Bürgerinnen und Bürger erschienen. Auf dieser Veranstaltung zog Jürgen Dege-Rüger keine fertigen Pläne aus der Schublade, wie er sich eine Verbesserung der Bildungssituation auf den Elbinseln und die Schritte dazu vorstellte. Stattdessen wurde deutlich, dass die "Bildungsoffensive" ein offener Prozess ist, zeitlich wie personell. Alle an Bildung beteiligten Akteure sollen nicht nur Pläne umsetzen, sondern diese zuvor erst einmal gemeinsam entwickeln. Miteinander sprechen und gemeinsam handeln - das sind auch auf den Elbinseln die Voraussetzungen für eine Veränderung und Verbesserung der Bildungslandschaft.
Sämtliche Schulen werden Ganztagsschulen
Die Bildungsoffensive Elbinseln muss sich dabei auf eine Koordinationsrolle beschränken. Sie verfügt über keinen eigenen Etat. Und sie muss vor dem Hintergrund massiver Mittelkürzungen im Bildungs- und Sozialbereich tätig sein. So sind beispielsweise vom Senat die Mittel für Sprachförderung und für die Ganztagsschulen verringert worden. Manche Beobachter waren deshalb skeptisch, ob mit der "Bildungsoffensive Elbinsel" nur ein Potemkinsches Dorf entstehen würde.
Rund ein Jahr später ist sich Jürgen Dege-Rüger sicher, dass die Arbeit seiner Koordinierungsstelle und der vielen beteiligten Akteure und Institutionen eine ganze Menge bewirkt hat. Es ist gelungen, 100 Bildungseinrichtungen, 14 Schulen und 120 Bildungsakteure zusammenzubringen. Diese haben in 19 lokalen Arbeitsgruppen fünf Handlungsfelder definiert, elf ganz konkrete Vorhaben initiiert und laut Dege-Rüger eine "Aufbruchstimmung" im Stadtteil erzeugen können. "Wir sind der Katalysator eines Stadtentwicklungsprozesses", beschreibt der Leiter die Rolle der "Bildungsoffensive".
Ganztagsschulen sind Teil dieser "Bildungsoffensive". Sämtliche Schulen im Stadtteil sollen zu Ganztagsschulen ausgebaut werden. Für Dege-Rüger ist das aber nur der erste Schritt auf dem Weg zu Schulen als Bürgerzentren. Dass in der Schule um 13 Uhr die Türen geschlossen werden, sie dann eine Straße weiter in der Jugendfreizeitstätte geöffnet werden, während sie wiederum einen Block weiter in der Volkshochschule bis 22 Uhr offen stehen, ist Ausdruck der auch räumlich zersplitterten Bildungslandschaft. Stattdessen sollte Jürgen Dege-Rüger zufolge Schule im Idealfall 24 Stunden am Tag geöffnet sein und Raum für alles Denkbare bieten: künstlerische Betätigung, Freizeitgestaltung, Elternräume, Möglichkeiten für Veranstaltungen und Beratung und Betreuung durch die verschiedenen sozialen Anlaufstellen - leicht erreichbar und jeder Bürgerin und jedem Bürger des Stadtteils bekannt. Die Aufgaben eines solchen Bürgerzentrums ließen sich unter dem Motto "Bildung - Beratung - Betreuung" zusammenfassen.
Schulen werden zu Bildungszentren
Die Schule ist dann nicht länger einfach nur Schule. Die Grundschule Buddestraße und das Gymnasium Kirchdorf-Wilhelmsburg wollen dieser Vision mit einer Umbenennung Rechnung tragen: "Tor zur Welt-Bildungszentrum" soll der neue Schulname lauten. Geplant ist eine enge Zusammenarbeit beider Schulen zum Beispiel in den Naturwissenschaften. In der Grundschule ist vorgesehen, dass Grundschüler und Gymnasiasten gemeinsam Naturwissenschaften zum Anfassen, Ausprobieren und Erfahren in einem "Science Center" erleben. "Schulen müssen sich in den Stadtteil öffnen und neue Unterrichtsformen und -aufgaben zulassen", findet Projektleiter Dege-Rüger.
Fünf Handlungsfelder hat die Bildungsoffensive definiert: Sprache, Abschlüsse, Anschlüsse, Lebenslanges Lernen und Kulturelle Bildung. In einem ,bottom-up'-Prozess des Austauschs, des Abklärens, der Suche nach Verbesserungen für veränderte Bildungs- und Beratungsangebote entstanden in den Ortsteilen der Elbinseln Ideen und Visionen, deren Realisierung man inzwischen nach personellen Ressourcen, Synergiepotenzialen und Finanzierungsmöglichkeiten konkret aufgeschlüsselt hat. Neben dem Konzept des Tor-zur-Welt-Bildungszentrums im Bahnhofsviertel ist in Reiherstieg eine "Bewegungswerft" geplant. Unter der Überschrift "Wer sich nicht bewegt, bleibt sprachlos sitzen" sollen ein Sprach- und Bewegungszentrum, ein Zentrum am Wasser mit festen und mobilen Forscherstationen und ein Haus für Mediation und Streitschlichtung unter einem Dach vereint werden.
Auf der Veddel steht die Kultur im Zentrum: Die Grund-, Haupt- und Realschule Slomanstieg, eine Ganztagsschule, soll mit einem "Atelier der StadtteilKünste" für alle Einrichtungen und Bewohner geöffnet werden. Geplant ist ein Haus der Projekte in Kooperation mit den Kammern, Innungen und den Weiterbildungsträgern in den Themenfeldern Handwerk, Kultur, Integration und Sport. Darüber hinaus möchte man für Eltern und Bewohner eine Börse für Kompetenzen und Talente im Hinblick auf Beteiligung, Qualifizierung und bürgerschaftliches Engagement einrichten. Medien sind unter der Bezeichnung "Kreativwerft" der Schwerpunkt der Kirchdorfer Bildungslandschaft. Vorgesehen sind auch ein Medienhaus mit einem "Leuchtturm" des Beobachtens, der Wahrnehmung und des Forschens, ein Burg-Theater als Zentrum für Tanz, Theater und Musik sowie ein Kinder-, Jugend- und Familienzentrum der kulturellen Vielfalt.
Jürgen Dege-Rüger ist der erweiterte Bildungsbegriff wichtig: "Es geht bei unserer Bildungsoffensive nicht nur um die Schulen. Es geht auch um die Kulturstätten, die Ausbildungseinrichtungen und die Wirtschaft." Man müsse aber auch nicht alles neu erfinden: "Es gibt so tolle, erfolgreiche Projekte in den Stadtteilen, die wir viel mehr herausstellen sollten. Und sie sollten uns Ansporn sein, auf diesem Weg weiterzumachen. Damit richtig Stimmung für gute Bildung aufkommt."
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