AWO Westfalen: Ganztag soll nicht Glückssache sein : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Die AWO Westliches Westfalen ist Träger von 350 Ganztagsschulen. Ursula Hawighorst, Leiterin des Fachbereichs Kinder, Jugend und Familie, begründet im Interview die Notwendigkeit von Standards.
Online-Redaktion: Frau Hawighorst, wie groß ist der AWO-Bezirk Westliches Westfalen, den Sie hier von Dortmund aus überblicken?
Ursula Hawighorst: Das ist ein riesiges Gebiet, das die Regierungsbezirke Arnsberg und Münster umfasst, und von Nord nach Süd von Osnabrück bis Siegen und von West nach Ost von Gelsenkirchen bis fast nach Bielefeld reicht. Es deckt sehr ländliche Gebiete und auch Städte ab, denen es nicht so gut geht. Immer mehr offene Ganztagsschulen sind in Nordrhein-Westfalen in die Trägerschaft von Verbänden gewechselt. Inzwischen sind gut 80 Prozent der OGS in Trägerschaft der Freien Wohlfahrtspflege oder anderer großer Verbände. Die anfänglich stärkere Verbreitung der Gestaltung des Ganztags durch Elterninitiativen und Fördervereine ist entsprechend zurückgegangen.
Wir unterhalten rund 350 Angebote an Ganztagsschulen für etwa 20.000 Schülerinnen und Schüler. Das umfasst den offenen Ganztag im Primarbereich, also die OGS, aber auch die Übermittagbetreuung und Angebote im Sekundarbereich, wobei Letzteres bei uns keine große Rolle spielt. Etwa 2.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind im Einsatz. Das sind sozialversicherungspflichtig und tariflich Beschäftigte. Es gibt auch noch Kooperationspartner, die auf Honorar arbeiten.
Online-Redaktion: An welchen Stellen kommen Sie persönlich mit dem Thema Ganztagsschule in Berührung?
Hawighorst: Als Leiterin des Fachbereichs Kinder, Jugend und Familie im AWO-Bezirk Westliches Westfalen habe ich unter anderem die Verantwortung für Kindertageseinrichtungen, Ganztagsschulen und Hilfen zu Erziehung. Ich koordiniere hier den Arbeitskreis „Weiterentwicklung des offenen Ganztags“, der sich viermal im Jahr trifft. Auf Landesebene gibt es einen weiteren Arbeitskreis der Bezirksverbände, der sich ebenfalls viermal im Jahr trifft, um die AWO-Positionen weiterzuentwickeln. Daneben bin ich noch Mitglied im Arbeitsausschuss der Freien Wohlfahrtspflege Nordrhein-Westfalen. Auch hier befasst sich eine Arbeitsgruppe intensiv mit der Weiterentwicklung des offenen Ganztags.
Online-Redaktion: Was bespricht der erste Arbeitskreis hier vor Ort?
Hawighorst: In diesem Arbeitskreis auf Bezirksebene kommen die Koordinatoren, die vor Ort in den Ganztagsschulen die Arbeit gestalten, viermal im Jahr zusammen. Da geht es darum, eigene Ideen und inhaltliche Schwerpunkte zu entwickeln. Wir besprechen Finanzierungen und Probleme und – das ist im Moment ein Riesenthema – über Personalgewinnung. Die Verwirklichung von Inklusion und die Gestaltung von räumlichen Bedingungen, die von Schulstandort zu Schulstandort sehr unterschiedlich ausfallen, sind weitere Themen. Dazu kommt die Vernetzung mit Partnern. Die Ruhrkohle-AG unterstützt uns zum Beispiel mit einem Projekt in den Ruhrgebietsstädten. In Arbeitsgemeinschaften werden sich Schülerinnen und Schüler im Ganztag mit der Geschichte der Bergbauregionen und der Entwicklung der Kommunen befassen können.
Online-Redaktion: Sie sprachen davon, dass Ihr Bezirk sehr unterschiedliche Kommunen umfasst. Hat das Auswirkungen auf die Arbeit in den Ganztagsschulen?
Hawighorst: Es ist weniger ein Land-Stadt-Gefälle als eine Unterschiedlichkeit zum Beispiel von Stadtteil zu Stadtteil. Es gibt Ganztagsschulen, in denen es keine Unterstützung der Eltern gibt, während sich anderswo die Eltern mehr einbringen und auch schneller ansprechbar sind. Was die Resonanz betrifft, haben die ländlichen Regionen enorm nachgezogen. Dort ist die Nachfrage nach Ganztagsschulplätzen inzwischen genauso groß wie in der Stadt. Die Behauptung, dass es auf dem Land weniger Nachfrage nach Ganztag gäbe, weil mehr Mütter zu Hause sind, stimmt überhaupt nicht mehr. Die Nachfrage ist flächendeckend vorhanden.
Online-Redaktion: Wie viel Flexibilität haben die AWO-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor Ort?
Hawighorst: Wir haben unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern keine AWO-Standards vorgegeben. Das können wir auch nicht. Das Umsetzbare richtet sich vor Ort nach den finanziellen Möglichkeiten in den Kommunen. Unser Hauptproblem ist, dass sich die finanzielle Ausstattung von Ort zu Ort immer mehr unterscheidet und es dementsprechend qualitativ gute und weniger gute ausgestattete Angebote gibt. Das muss man einfach festhalten.
Wir haben einen fachlichen Anspruch und den Anspruch, pro Gruppe mindestens eine Fachkraft einzusetzen. Das können wir auch leisten. Aber alles darüber hinausgehende Personal ist aufgrund der knappen Ressourcen teilweise schwierig zu beschäftigen. Von den Schulen erfahren wir da insofern manchmal keine Unterstützung, weil die 0,1 Lehrerstunden, die eigentlich verpflichtend in den Ganztag wandern sollen, zum Beispiel in die Hausaufgabenbetreuung, bereits am Vormittag verbraucht werden, um Löcher in der Unterrichtsversorgung zu stopfen.
Online-Redaktion: Was würden Sie als größte Herausforderung sehen?
Hawighorst: Das ist die räumliche Situation in den Schulen. Durch das Investitionsprogramm des Bundes (von 2003 bis 2009; die Red.) sind in Nordrhein-Westfalen viele Mensen gebaut worden. Diese Bereiche und andere Räumlichkeiten sind seit zehn Jahren nicht erweitert worden, während sich die Zahl der Zahl der Kinder im Ganztag zum Teil verdreifacht hat. Wir müssen Schulräume doppelt nutzen. In manchen Schulen werden die Schülerinnen und Schüler beinahe in Massenabfertigung durch das Mittagessen geschleust.
Als schwierig empfinden wir an einigen Standorten auch die enge zeitliche Taktung des Tages für die Schülerinnen und Schüler. Sie gehen vom Unterricht zum Mittagessen, dann zur Hausaufgabenbetreuung und dann in die AG. Da gibt es keine Freiräume für die Kinder, keine Zeit für Rückzug, Bewegung, Muße oder Entspannung. Und da sind wir wieder beim Thema Räume: Oft gibt es gar keine Räumlichkeiten, wo dies verwirklicht werden kann.
Online-Redaktion: Können Sie das in Kooperation mit der Schule nicht ändern?
Hawighorst: Ich will nicht alle über einen Kamm scheren. Es gibt Ganztagsschulen, die sich sehr beweglich zeigen und die Chance des Offenen Ganztags sehen, mit der Jugendhilfe die Schule neu zu gestalten. Diese Schulen arbeiten intensiv an einer anderen Tagesrhythmisierung, bei der wir auch schon am Vormittag dabei sein können und umgekehrt mehr Lehrerinnen und Lehrer im Nachmittag eingesetzt werden. Dieses Engagement hängt sehr stark von der Schulleitung ab.
Online-Redaktion: Die Freie Wohlfahrtspflege hat eine Kampagne „Gute OGS darf keine Glückssache sein“ gestartet und ein Positionspapier veröffentlicht. Was möchten Sie erreichen?
Hawighorst: Der Ausschuss „Familie, Jugend und Frauen“ der Freien Wohlfahrtspflege NRW hat eine Arbeitsgruppe gegründet und sich in einem schwierigen Diskussionsprozess mit den einzelnen Verbänden auf vier Kernforderungen verständigt: erstens eine finanziell bessere Ausstattung der OGS, zweitens Standards für Räumlichkeiten und Personal, drittens eine gesetzliche Regelung der Standards, unter anderem für die Kooperation mit Partnern, und viertens ein weiteres Ausbauprogramm. Gerade Letzteres drängt. Die Eltern stehen auf der Matte, es gibt überall Wartelisten. Das Wort „Glückssache“ spielt dabei auf den eingangs geschilderten Zustand an, dass die Bedingungen von Kommune zu Kommune so unterschiedlich sind.
Bildungsministerin Yvonne Gebauer und Familienminister Joachim Stamp haben sich gesprächsbereit gezeigt. An der gesellschaftlichen Entwicklung, dass Eltern ihre Kinder in der Grundschulzeit gut betreut wissen wollen, kommen wir nicht vorbei.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
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