Auf die Füße gestellt: "Kooperation und Professionalisierung in der Ganztagsschule" - Teil 1 : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf

Kooperation und Professionalisierung sind das Herzstück der Ganztagsschule als einer künftig "multiprofessionellen Schule". Die Ergebnisse der vom BMBF geförderten Forschungsprojekte, die am 3. und 4. Juni 2010 auf einer Bilanztagung der Öffentlichkeit vorgestellt wurden, stellten manche zu hohen Erwartungen gewissermaßen auf die Füße. Es gibt aber konkrete Gelingensbedingungen für die Kooperation und Professionalisierung von Ganztagsschulen.

Natürlich ist es für eine Schule eine Herausforderung, wenn sie Ganztagsschule wird und von außen Verstärkung bekommt, um ihren Ganztag mit Unterstützung außerschulischer Partner zu gestalten: Die Öffnung zum außerschulischen Partner (bzw. zum 'Anderen') wirkt sich mitunter - vergleichbar einer Reise in ein fernes Land - sehr belebend aus. Schließlich ist auch die Kooperation eine Reise mit offenem Ausgang, deren Gelingen nicht zuletzt mit der Bereitschaft wächst, sich auf andere Kulturen einzulassen.

Dies mag ein Grund dafür sein, weshalb Kooperationen, die ja weit mehr als 90 Prozent aller Ganztagsschulen prägen, teils mit so überhöhten Erwartungen belegt werden. Der kooperative Charakter der Ganztagsschulen in Deutschland schuldet sich nicht zuletzt dem Programm "Zukunft Bildung und Betreuung" (IZBB). Dessen Umsetzung sieht vor, dass die Ganztagsschulen mit inner- und außerschulischen Partnern eng zusammenarbeiten. Ganztagsschule in Deutschland bedeutet - anders als es etwa in Frankreich traditionell der Fall war, obwohl sich auch dort inzwischen Veränderungen abzeichnen - in jedem Fall eine Kooperation mit verschiedenen Partnern und Professionen.

Kooperation im Spiegel der Forschung: vom Desiderat zum Erkenntnisgewinn

Da solche Kooperationen für Schulen oft Neuland sind, war es an der Zeit, dass man parallel zu dem raschen Ausbau der Ganztagsschulen etwas genauer hinschaut und die empirische Forschung zum Thema Kooperation und Ganztagsschulen zu Wort kommen lässt. Zu diesem Zweck trafen sich am 3. und 4. Juni 2010 Vertreter von neun Forschungsprojekten mit Repräsentanten aus Verwaltung (genauer: aus sieben Kultusministerien), Politik, Schulleitungen, Lehrerkollegien, Verbänden sowie den regionalen Serviceagenturen "Ganztägig lernen" in Potsdam, um sich über die Forschungsergebnisse unterschiedlicher und sehr interessanter Projekte zum Themenkomplex Kooperation, Professionalisierung und Ganztagsschulen auszutauschen.

Ein Mann steht einem Rednerpult vor einer Leinwand und spricht.
Prof. Karsten Speck: "Die Ganztagsschulen bieten große Chancen, aber es gibt auch viele Herausforderungen bzw. Konfliktfelder."
Aufnahme einer Fußgängerzone mit einer Palme im Pflanzkübel.
Potsdam

Aufbauend auf der "Studie zur Entwicklung der Ganztagsschulen" (StEG) hatte das BMBF im Jahr 2007 die Förderbekanntmachung zur vertiefenden Forschung zum Aus- und Aufbau von Ganztagsschulen veröffentlicht. 2009 legen die geförderten Projekte nun nach zweijähriger Arbeit ihre Ergebnisse vor. "Kooperation und Professionalisierung sind offenbar der Kern von Ganztagsschulentwicklung", erläuterte Dr. Petra Gruner aus Sicht des BMBF. Auch international kristallisiere sich ein Paradigmenwechsel zur "multiprofessionellen" Schule heraus, der in Deutschland jedoch relativ am Anfang sei. Kooperation sei nicht schon per se gut, sondern es gelte empirisch zu klären, welche Anforderungen sich in der Praxis an Kooperation stellen und inwiefern diese Teil professioneller pädagogischer Arbeit sei.

Die geförderten Forschungsprojekte hätten sich aus unterschiedlichen Perspektiven intensiv mit diesen Fragen befasst und interessanterweise eine Reihe übereinstimmender Ergebnisse beigetragen. Dabei kämen unterschiedliche methodische Zugänge zum Tragen, von kleinen Längsschnittuntersuchungen bis zu qualitativen Fallstudien. Mit Blick auf den immer wieder geäußerten Wunsch nach praxisrelevanten Ergebnissen - "Die Praktiker möchten verständlicherweise wissen, was aus den Forschungsergebnissen für sie folgt" - sei allerdings zu bedenken, dass es keine Empfehlungen gebe, die für jede Schulform, für städtische und ländliche Regionen, für Schulverwaltung und Schule gleichermaßen gültig seien. Mit der Tagung biete sich die Gelegenheit, an der Präsentation empirischer Forschung zu partizipieren,  Fragen an die Forscher zu stellen und Kontakte zu knüpfen.

Herausforderungen und Konfliktfelder

Wie groß das praktische Interesse am Thema ist, zeigte die Vielzahl der Teilnehmer aus den Bereichen schulischer Kooperationspartner: Vertreter von Sportverbänden und der Jugendhilfe, aber auch etwa eine Gruppe Mitarbeiterinnen des Deutschen Roten Kreuzes (DRK), die extra aus dem nördlichen Bad Doberan angereist waren, suchten Anregungen für die systematische Weiterentwicklung ihrer bereits praktizierten Zusammenarbeit mit Ganztagsschulen.

Nun ist der Weg von der Forschung in die Praxis kein kurzer, er bedarf der Vermittlung. Im Mittelpunkt der Fachtagung stand zunächst die Präsentation höchst aktueller Ergebnisse aus den einzelnen Forschungsprojekten. Auch ein Blick ins Ausland verdeutlicht, dass die Herausforderungen, die sich in Deutschland mit dem Thema Kooperation und Professionalisierung stellen, nicht neu sind.

Dementsprechend merkte der Erziehungswissenschaftler Prof. Karsten Speck, soeben von der Universität Potsdam an die Universität Oldenburg gewechselt, in seiner Einführung in das Tagungsthema an, dass bislang kaum empirische Befunde vorgelegen hätten, die sich auf die Auswirkungen von Kooperationen auf die pädagogische Professionalisierung  der Akteure beziehen. Nach rund drei Jahren intensiver Forschung weiß Speck: "Die Ganztagsschulen bieten große Chancen, aber es gibt auch viele Herausforderungen bzw. Konfliktfelder." Diesen Fragen sollte im ersten Block der Bilanztagung unter dem Titel "Professionsentwicklung und Kooperation" nachgegangen werden.

Erwartungen an Kooperation: Anspruch und Wirklichkeit

Die Ergebnisse des ersten Forschungsprojektes "Professionelle Kooperation von unterschiedlichen Berufskulturen an Ganztagsschulen" (ProKoop), das von Prof. Karsten Speck sowie dem Erziehungswissenschaftler Prof. Thomas Olk initiiert wurde, wiesen der Fachtagung die Richtung. Nachdem Prof. Thomas Olk von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Rahmenaspekte sowie die konzeptionelle Anlage (Forschungsdesign) erläuterte, stellte er die zentralen Ergebnisse der qualitativen Studie vor, bei der jeweils fünf IZBB-geförderte Schulen der Sekundarstufe I in den Ländern Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Niedersachsen untersucht worden waren.

Empirische Forschungsbefunde weisen Olk zufolge auf Chancen und Probleme bei der Kooperation an Ganztagsschulen hin: "Ganztagsschulen garantieren keine bildungsbezogene Kooperation, aber sie erleichtern sie. Hierfür ist eine fachliche Unterstützung der Professionsentwicklung notwendig." Aus allen Erlassen gehe hervor, dass hohe Erwartungen an die Kooperationen der Ganztagsschulen gestellt werden. Ähnlich hohe Erwartungen stellten die Verbände an das Gelingen von Kooperationen. "Doch sie müssen auf der Ebene der konkreten Schule umgesetzt werden." Für die Lehrkräfte hingegen sei zentral, dass die Kooperationen sie darin unterstützen, den komplexer gewordenen Schulalltag zu bewältigen.

Eine Frau steht an einem Rednerpult und spricht in ein Mikrofon.
Anne Breuer: "Wie gelingt es, dass Lehrkräfte und ErzieherInnen ein Team bilden?"
Ein breiter Gehweg führt an einem Kanal entlanf auf ein Hochhaus und eine alte Kirche zu.
Potsdam

Die zentrale Erwartung der Lehrerschaft an die Kooperation sei immer noch häufig die Gewährleistung der Betreuung und Freizeitgestaltung durch die Kooperationspartner. Demzufolge sei die Trennung von Unterricht und außerunterrichtlichen Angeboten für die meisten Lehrkräfte nach wie vor konstitutiv. So erwarten Lehrkräfte, dass die Kooperationspartner vor allem Erziehung und soziales Lernen in die Schule einbringen. Außerdem erlaube die Ganztagsschule die zeitnahe Reaktion auf individuelle Bedarfslagen.  Aus der Perspektive der außerschulischen Kooperationspartner sei dagegen die "Kooperation fester Bestandteil der Denk- und Handlungsstrukturen sowie Teil des professionellen Selbstverständnisses", denn sozialpädagogische Arbeit sei nur im Team denkbar.

Kooperationen gründen auf Interessen

Allerdings habe die Schulsozialarbeit nach wie vor eine ambivalente Orientierung zur Schule, sie befürchtet "Verschulung" und "Vereinnahmung". Die Träger der außerschulischen Jugendarbeit fixieren sich auf ihren außerschulischen Bildungsauftrag und äußern Bedenken, dass ihnen durch den Ganztag der Zugang zu allen Kindern und Jugendlichen verwehrt werden könne. Jedoch begrüßen sie das neue Handlungsfeld in der Schule. Aus Sicht der Vereine geht es bei den Kooperationen um das Erreichen der Vereinsziele und das Einwerben neuer Mitglieder. Demgegenüber stellen die Unternehmen die Standortfrage, die Rekrutierung von Fachkräften, aber auch die Übernahme sozialer Verantwortung in den Mittelpunkt. Ehrenamtliche Kooperationspartner machen für sich die persönliche Anerkennung als Motiv geltend. 

Die Studie Prokoop möchte aber nicht nur Ordnung in die Vielfalt der Kooperationen bringen und ihre Vor- und Nachteile aufzeigen, sie möchte auch Kooperationshemmnisse und Gelingensbedingungen aufzeigen. Demgegenüber würden folgende Faktoren zum Gelingen einer Kooperationsbeziehung beitragen: Die Schulleitung agiert als Motor des Ganztags und bei der Initiierung sowie Pflege von Kooperation. Das Kollegium bietet Rückhalt bei der zeitlichen und inhaltlichen Gestaltung des Ganztags. Die pädagogischen Professionen sind bereit, ihre Berufsrolle zu reflektieren und die Perspektive des Anderen einzunehmen. Es findet eine systematische Verknüpfung formeller und informeller Bildung statt.

Arbeit an der Partizipationskultur

Gibt es einen Zusammenhang zwischen Partizipation und Kooperation? Stärkt die Einbindung des weiteren pädagogisch tätigen Personals die interdisziplinäre Zusammenarbeit und die Verzahnung des Vor- und Nachmittags? Die Fragen beantwortete Katja Tillmann von der TU Dortmund. Hierbei griff sie auf die Daten, die die "Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen" (StEG) im Zusammenhang mit Schulen der Sek I erhob. Ergebnis der Untersuchung: Je intensiver die Kooperation des weiteren pädagogischen Personals sich darstellt, umso besser entwickelt sich die Partizipationskultur an der Ganztagsschule. Es empfiehlt sich aber laut Tillmann auf Augenhöhe zu kooperieren und das soziale Klima zu fördern.

Nachdem förderliche Bedingungen der Partizipationskultur vorgestellt wurden, lag es nahe, sich mit der "Qualität der Beschäftigungsverhältnisse des weiteren pädagogischen Personals" zu befassen, schließlich zeichnen sich die Ganztagsschulen dadurch aus, dass außerschulische Fachkräfte, Eltern oder Ehrenamtliche auf ganz unterschiedlicher vertraglicher Basis den Schulalltag mitgestalten. So unternahm es Dr. Christine Steiner vom Deutschen Jugendinstitut (DJI), auf der Grundlage von StEG-Daten die Qualität multiprofessioneller Teams zu definieren. Ein interessantes Ergebnis der Studie: Hauptamtlich Beschäftigte können eine Scharnierfunktion einnehmen, indem sie zwischen Lehrkräften, nebenberuflich Tätigen und Ehrenamtlichen vermitteln.
 

Die Anerkennung des Anderen als Basis der Ganztagsschule

Die Fragestellung der nächsten Studie schloss nahtlos an die vorherigen Ausführungen an: Wie gelingt es, dass Lehrkräfte und ErzieherInnen ein Team bilden? Anne Breuer von der TU Berlin widmete sich diesem Thema unter dem Titel "Interprofessionelle Teams". Dabei kam sie zu dem Ergebnis, dass es strukturelle Probleme gibt, die die Zusammenarbeit beider Professionen behindern bzw. erschweren können. So führt beispielsweise die mangelnde Anerkennung der ErzieherInnen bei diesen mitunter zu großer Unzufriedenheit.

 Die Anerkennung des Anderen, sei es im Rahmen multiprofessioneller Teams, sei es die individuelle Förderung von Kindern in schwierigen Lebenssituationen, sind zwei Seiten einer Medaille, wie die Studie zu Chancen und Problematiken besonderer erzieherischer Förderung in Ganztagsschulen von Prof. Wolfgang Böttcher und Timm Liesegang (Universität Münster) verdeutlichte. Mit anderen Worten: "Bei Kindern in schwierigen Lebenssituationen bedarf es besonderer Kooperationsformen, die sich auf ein gemeinsames Ziel ausrichten." Dabei erweisen sich unterschiedliche Beschäftigungsverhältnisse als hinderlich für die individuelle Förderung.

Entlastung durch die Ganztagsschule?

Ein wichtige, aber empirisch bislang kaum untersuchte Fragestellung lautet folgendermaßen: Inwiefern entlastet die Lehrerkooperation, die innerhalb der Ganztagsschule vermehrt stattfindet, eigentlich die Lehrkräfte bzw. das weitere pädagogische Personal?  Diesen Fragen stellten sich Vanessa Dizinger und Prof. Oliver Böhm-Kasper von der Universität Bielefeld unter dem Titel: "Kooperation im Schulalltag - Ressource oder Belastung?"

Eine Frau und ein Mann sitzen an einem langen Tisch vor einem Vorhang und sprechen.
Vanessa Dinzinger und Prof. Oliver Böhm-Kasper: "Die Formen der Kooperation stehen kaum in einem praktisch bedeutsamen Zusammenhang mit der Belastung/ Beanspruchung. Allein die Co-Konstruktion weist auf eine geringfügig entlastende Wirkung hin."
Aufnahme eines Flusses mit einem Schiff im Vordergrund und alten Gebäuden auf der gegenüberliegenden Uferseite.
Potsdam

Im Rahmen einer quantitativ ausgerichteten Teilstudie kamen die Wissenschaftler zu dem Ergebnis: "Die Formen der Kooperation stehen kaum in einem praktisch bedeutsamen Zusammenhang mit der Belastung/ Beanspruchung. Allein die Co-Konstruktion weist auf eine geringfügig entlastende Wirkung hin." Unter Co-Konstruktion verstehen die Forscher das gemeinsame Entwickeln von Ergebnissen, zu unterscheiden vom Austausch durch wechselseitige Information bzw. gemeinsamer Arbeitsorganisation. Auch stehe die Schulorganisation (Ganztag versus Halbtag) in keinem praktisch bedeutsamen Zusammenhang zur wahrgenommen Belastung. Allein die Lehrerwirksamkeit, sprich die personale Ebene, erweise sich als wichtige Einflussgröße.

Veränderung der schulischen Rahmenbedingungen

Interessant sind auch die Ergebnisse der qualitativen Untersuchung. Hier zeigte sich, dass neben den schulischen Rahmenbedingungen, wie Zeit und Raumdisposition, individuelle Voraussetzungen von Bedeutung sind, also eigene Kooperationsbereitschaft bzw. Akzeptanz der anderen Profession. Aus der Lehrerperspektive zeigte sich, dass alleine die "einfache" Kooperation bzw. die Abgabe von Verantwortung Entlastung bringt. Dementsprechend gelte es aus praktischer Perspektive die Voraussetzungen für "gelingende Kooperation" - sowohl schulisch wie individuell - zu schaffen. Zudem solle die Lehrerausbildung das kooperative Lernen stärken und das weitere pädagogische Personal in multiprofessionellen Teams schulen.

Ein nächster Schritt der vorgestellten Studien besteht nun darin, die Ergebnisse in Praxis, Verwaltung und Bildungspolitik zu verankern. Schließlich verdeutlichen diese, dass die Qualität der Beziehungen zum jeweils Anderen innerhalb und außerhalb des Systems Schule doch einer gezielten Aufmerksamkeit der Bildungspolitik bedarf.

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