15 Jahre „Aachener Erklärung“: Schulträger und Ganztag : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Die Aufgaben der Schulträger sind seit der „Aachener Erklärung“ des Deutschen Städtetags im Wandel, auch wegen des Ganztags. Pia Amelung spricht im Interview über die anstehenden Aufgaben für die Kommunen.
Online-Redaktion: Frau Amelung, Sie sind Referentin für Schule und Bildung beim Städtetag Nordrhein-Westfalen sowie beim Deutschen Städtetag. Würden Sie zunächst für diejenigen, die sich nicht regelmäßig mit dem Thema Schule beschäftigen, erläutern, was ein Schulträger ist?
Pia Amelung: Dem liegt eine besondere Konstruktion im deutschen Schul- und Verwaltungsrecht zugrunde, nämlich eine Trennung nach sogenannten inneren und äußeren Schulangelegenheiten. Die Schulträger – bei öffentlichen Schulen in der Regel die Kommunen – tragen die Verantwortung für das „Äußere“, den Bau und den Unterhalt der Schulen. Dazu zählen auch die Ausstattung mit Geräten und Materialien, zum Beispiel mit Lernmitteln und IT-Technik. Ebenso gehört dazu die Einstellung von sogenanntem Schulträger-Personal wie Hausmeisterkräfte oder Sekretariatskräfte, teilweise auch Personal außerschulischer Kooperationspartner.
In Nordrhein-Westfalen tragen Kommunen etwa die Kosten für den Bau und Betrieb der Schulgebäude, für Lernmittel, den Schülertransport, aber auch in gemeinsamer Finanzierungsverantwortung mit dem Land für Schulpsychologie, die Schulsozialarbeit oder die Schulverpflegung. Das Gemeindefinanzierungsgesetz in Nordrhein-Westfalen sieht Zuweisungen des Landes an die Kommunen auch für die Belastungen als Schulträger vor.
Die Anstellung der Lehrkräfte und deren Bezahlung wiederum gehören zu den „inneren Schulangelegenheiten“, für die die Länder zuständig sind, ebenso wie für Bildungsziele, Lehrpläne und die Unterrichtsgestaltung. Kommunen und Länder teilen sich entsprechend ihrer Verantwortung auch die Ausgaben, also die Finanzierung von Schulen.
Online-Redaktion: Heißt das, Schulträger und damit am Ende der Städtetag interessieren sich nicht für pädagogische Fragen?
Amelung: Wir pflegen nicht das Verständnis, „Stein und Beton“ seien die einzige Aufgabe des Schulträgers. Just zum Zeitpunkt unseres Gesprächs ist die „Aachener Erklärung“ des Deutschen Städtetages 15 Jahre alt geworden. Darin wird unter anderem festgehalten: „Ausgangspunkt für Bildungsprozesse in den verschiedenen Lebensphasen ist die kommunale Ebene. Hier entscheidet sich Erfolg oder Misserfolg von Bildung, werden die Grundlagen für berufliche Perspektiven, gesellschaftliche Teilhabe und gleichzeitig die Zukunftsfähigkeit einer Region gelegt. Die Städte prägen mit ihren vielfältigen Einrichtungen die Bildungslandschaft Deutschlands: Kindertagesstätten, Familienzentren, Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit, Schulen, Volkshochschulen und zahlreiche Kultureinrichtungen sind Eckpfeiler der öffentlichen Infrastruktur in der Bildung. Die Verantwortung der Städte in der Bildung muss deshalb gestärkt werden.“
Es heißt weiter, dass das Leitbild des Engagements der Städte die kommunale Bildungslandschaft „im Sinne eines vernetzten Systems von Erziehung, Bildung und Betreuung“ ist. Bildungslandschaften sind für uns Motoren für Lernprozesse, die Voraussetzung für gelingende Zusammenarbeit vor Ort. In der „Aachener Erklärung“ wird betont, dass die Länder die kommunalen Steuerungsmöglichkeiten im Schulbereich erweitern sollten. Eine Neuordnung der Zuständigkeiten im Bereich der inneren und äußeren Schulangelegenheiten ist seitdem in der Diskussion.
Online-Redaktion: Was hat sich seit 2007 getan?
Amelung: Ich denke, dass sich Haltung und Bewusstsein gegenüber dem gesetzlich verankerten alten Konstrukt bereits verändert haben. Der Fokus richtet sich inzwischen stärker auf die kommunale Bildungslandschaft und auf die gesellschaftliche Anforderung an ein ganzheitliches Bildungsverständnis. Problematisch sehen wir jedoch, dass in den letzten Jahrzehnten den Schulträgern beträchtliche neue Aufgaben – wie Digitalisierung, Ganztagsausbau, Schulsozialarbeit, Inklusion, aber auch in der Schulverwaltung – erwachsen sind. Das Schulfinanzierungssystem wurde aber nicht weiterentwickelt. Es fehlt ein dauerhaft tragfähiges Finanzierungskonstrukt. Vielmehr wurden bürokratisch aufwendige, aber zeitlich begrenzte Förderprogramme von Bund und Land aufgelegt. Die Verantwortung dafür können wir nur gemeinsam tragen.
Bildung als Ganzes, auch als Bildungskette entlang der Biografie sowie als Angebot über Stadt- und Landesgrenzen hinaus zu verstehen, muss selbstverständlich werden. Zu unserem Bedauern stelle ich fest, dass die Grenzen nach wie vor recht starr sind, wenn es darum geht, wer was bezahlt. Oder wenn es um Rechtsfragen geht. Beispiel: Bund und Länder beschließen die Einführung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule. Wenn die Kommunen es aber nicht schaffen sollten, allen Ansprüchen der Eltern auf einen Platz gerecht zu werden, werden diese sich an uns halten.
Online-Redaktion: Noch einmal zur Pädagogik. Können Kommunen beispielsweise Schulen planen und bauen oder alte umbauen, ohne pädagogische Gesichtspunkte einfließen zu lassen?
Amelung: Schulbau ohne Pädagogik – Stichwort: der Raum als dritter Pädagoge – ist nicht denkbar. Heute können wir nicht mehr den Schlüssel vergangener Zeiten anlegen, der da lautete: x Schülerinnen und Schüler ergibt x Räume mit so und so vielen Quadratmetern. Es muss abgewogen werden, welcher Pädagogik, welchen didaktischen Wegen und Methoden eine Schule folgen will. Wir benötigen multifunktionale Räume, eine Flexibilität in der Gebäudestruktur, bewegliche Möbel, nutzbare Flure, die trotzdem den Sicherheitsansprüchen gerecht werden, Differenzierungsmöglichkeiten, Wände aus Glas. Wir müssen die Frage beantworten, wie der Ganztag gestaltet werden soll, was dazu benötigt wird. Antworten darauf finden wir nicht allein in den Rathäusern oder Landtagen. Wir hören sie, wenn wir alle an Schule Beteiligten und Engagierten in diesen Prozess einbinden.
Online-Redaktion: Wie ist das in Zeiten klammer Kassen?
Amelung: Die klammen Kassen sind ein Problem. Ganz konkret stellt sich aber vor Ort die Frage des Platzes. Schulen wachsen in den dicht besiedelten Städten mitunter in die Höhe, manchmal mit dem Schulhof auf dem Dach, weil schlicht die Fläche fehlt. Und wir haben einen riesigen Investitionsstau von 46 Milliarden Euro bundesweit. Gelder werden oft in zeitlich befristeten und administrativ aufwendigen Förderprogrammen ausgegeben. Hinzu kommen steigende Baukosten und aktuell fehlende Bauunternehmen. Darüber hinaus ist der wachsende Fachkräftebedarf eine Herausforderung bei der Umsetzung des Rechtsanspruches auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule, wobei es noch der Klarheit über die personelle Ausstattung des Ganztags bedarf.
Hier müssen Bund, Länder und Kommunen Kräfte bündeln und nicht die „Schwarze-Peter-Karte“ hin- und herschieben. Es geht am Ende des Tages um die Bildung unserer Kinder und Jugendlichen und damit um die Zukunft unseres Landes. Dort, wo Bildung „Chefsache“ ist, schaffen Städte kreative und qualitätsvolle Lösungen. Die entscheidende Frage, die wir uns als Gesellschaft insgesamt stellen müssen, lautet: „Wie wichtig ist uns Bildung?“ Ich hatte gehofft, dass durch die Bewältigung der Pandemie eine stärkere Aufbruchstimmung für die soziale und ökonomische Bedeutung von Bildung entstehen würde.
Online-Redaktion: Woran denken Sie konkret?
Amelung: Zunehmend stoßen Städte an ihre Grenzen. Die Handlungsspielräume waren schon vor der Pandemie stark eingeschränkt. Die Situation hat sich durch die Pandemie verschärft. Die Städte müssen in der Lage bleiben, in Bildung zu investieren. Bildung ist eine gesamtstaatliche Aufgabe, die von allen Ebenen – Bund, Ländern und Kommunen – getragen werden muss. Rückstände und Defizite etwa in der digitalen Bildung, in der Ganztagsbildung oder bei der Bildungsgerechtigkeit müssen angegangen werden. Das wird nur gemeinsam im Sinne eines kooperativen Föderalismus bewältigt werden können. Nicht jeder für sich, sondern mehr Zusammenarbeit ist das Gebot der Stunde. Dafür braucht es aus unserer Sicht eine verbesserte strukturelle Zusammenarbeit aller Ebenen.
Online-Redaktion: Was können Städte zum kontinuierlichen Ausbau des Ganztags beitragen?
Amelung: Die vor uns liegende Aufgabe ist allen bewusst. Die Städte sind bereit, ihren Beitrag zu einem rhythmisierten, qualitätsvollen und inklusiven Ganztag in schulischer Verantwortung in enger Kooperation mit der Jugendhilfe zu leisten. Dafür brauchen sie realistische und planbare Rahmenbedingungen zur Umsetzung von Seiten der Länder und des Bundes. Darüber hinaus gilt es, vielerorts noch ein deutlich differenzierteres Bildungsmonitoring zu etablieren, um über Bildungsverläufe und über die Entwicklung und Herausforderungen von Sozialräumen besseres Steuerungswissen zu generieren. Viele Städte konnten in den letzten Jahren ihre ersten Bildungsberichte veröffentlichten, daran gilt es anzuknüpfen.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
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