Schulsozialarbeit: "Kein Anhängsel des Unterrichts" : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Was leistet Schulsozialarbeit in Ganztagsschulen? Dr. Thomas Pudelko, Referent für Jugendsozialarbeit und Schule beim Paritätischen Gesamtverband, lehrt und forscht zusätzlich an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin zur Schulsozialarbeit.
Online-Redaktion: Herr Dr. Pudelko, welchen Beitrag können Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter in Schulen einbringen?
Dr. Thomas Pudelko: Die Schulsozialarbeit unterstützt das Aufwachsen der jungen Menschen am Ort Schule mit einer breiten Palette von Methoden der sozialen Arbeit. Das geht los mit der Sensibilisierung der Lehrkräfte für Belange der Schülerinnen und Schüler außerhalb der Schule über das Bauen von Brücken in die Arbeitswelt oder die Stärkung sozialer Kompetenzen bis zur Unterstützung der Selbstwirksamkeit von Schülerinnen und Schülern.
Online-Redaktion: Ist das in Ganztagsschulen besser als in Halbtagsschulen möglich?
Pudelko: Auf jeden Fall. Die Ganztagsform bietet zum Beispiel die große Chance, Schülerinnen und Schülern auch Angebote sportlicher oder künstlerisch-musischer Art zugänglich zu machen oder sie erst auf solche Angebote aufmerksam zu machen, die sie sonst nicht wahrnehmen würden beziehungsweise für die sie sonst andere Orte aufsuchen müssten. Hier ist das Verweisungswissen der Schulsozialarbeit auf solchen Angebote gefragt.
Online-Redaktion: Wie schätzen Sie die derzeitige Ausstattung der Grund- und Sekundarschulen mit Schulsozialarbeit ein?
Pudelko: Sehr schlecht. Wir haben in Deutschland etwa 9,3 Millionen Schülerinnen und Schüler, davon an Grundschulen 2,7 Millionen. Dafür müsste es, wenn wir eine Stelle pro 150 Schülerinnen und Schüler ansetzen, etwa 60.000 Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter geben, es sind derzeit aber nur 10.000.
Online-Redaktion: Hat das primär finanzielle Gründe, oder ist die Verbindung von Schule und Sozialarbeit eine einfach noch schwach ausgeprägte Tradition, deren Nutzen nicht jedem präsent ist?
Pudelko: Ich denke, dass der Nutzen inzwischen unbestritten ist und es da kaum noch andere Einschätzungen gibt. Es geht nicht nur um die Finanzierung, sondern auch um Verantwortlichkeiten. Es gibt in den 16 Bundesländern sehr unterschiedliche Konstrukte, und es ist nicht immer eindeutig geregelt. In Berlin zum Beispiel wird die Schulsozialarbeit eindeutig als Sache der Jugendhilfe angesehen. Niedersachsen wiederum hat sich jetzt wie Hamburg dafür entschieden, dass es eine Frage der Schule ist. Mit dieser Unterschiedlichkeit der Zuständigkeiten geht eine Unterschiedlichkeit der Aufgabenprofile einher: Welche Rolle soll die Schulsozialarbeit in den Schulen übernehmen?
Online-Redaktion: Gibt es ein Land oder eine Kommune, in dem Sie die Integration der Schulsozialarbeit als gelungen bezeichnen würden?
Pudelko: In Berlin läuft es schon recht gut. Dort hat man ein Landesprogramm aufgelegt, das kontinuierlich ausgebaut wird. Als Kommune würde ich Dortmund nennen, wo die Fachkräfte der Schulsozialarbeit in enger Kooperation mit den Lehrkräften der Schule, der Schulleitung, den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe, verschiedenen Beratungsstellen und Hilfsangeboten im Sozialraum agieren.
Online-Redaktion: Dieter Eckert von der AWO macht in einem unserer Interviews auf den in manchen Regionen leergefegten Arbeitsmarkt für Erzieherinnen und Erziehern aufmerksam. Wie sieht das im Bereich der Schulsozialarbeit aus?
Pudelko: Das ist in der Tat ein großes Problem, auch für die Kindertagesstätten. Im Moment kommt dazu, dass auch noch viele Fachkräfte für die Betreuung der geflüchteten Menschen gebraucht werden. Auf der anderen Seite werden potenzielle Schulsozialarbeiterinnen und ‑sozialarbeiter von der Laufzeit der Verträge in Schulen abgeschreckt und bewerben sich in anderen Bereichen, in denen sie eine Festanstellung erhalten.
Online-Redaktion: Diskutiert wird häufig die „Autonomie“ der Schulsozialarbeit. Wie viel Autonomie kann die Schulsozialarbeit unter dem Dach der Schule bewahren?
Pudelko: Bevor eine Kooperation eingegangen wird, sollten die Aufgaben und die Zuständigkeiten der Partner vertraglich eindeutig geregelt werden. Damit sollte der Gefahr entgegengewirkt werden, dass Schulsozialarbeit nur in einer Art Feuerwehrfunktion wahrgenommen wird. Zugleich sollten die Grenzen der Wirksamkeit der Schulsozialarbeit klar benannt werden. Dies muss im Kollegium klar kommuniziert werden. Hier hat die Schulleitung eine eminent wichtige Aufgabe.
Sie muss klarstellen, dass der Schulsozialarbeit auch eine präventive Rolle zukommt. Zum Beispiel darf die Schule Mobbing nicht erst dann angehen, wenn es schon geschehen ist. Stattdessen können die Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter zusammen mit den Lehrkräften anschauen, wie die Stimmung in einer Klassengemeinschaft ist. Die Lehrerinnen und Lehrer können die Schulsozialarbeiter frühzeitig zum Hospitieren in die Klassen einladen.
Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter haben oft einen ganz anderen Blick auf die Klasse. Sie können sich dann mit den Lehrkräften austauschen und gegebenenfalls Maßnahmen vorschlagen, um einer negativen Entwicklung gegenzusteuern. So hat man eine gute Grundlage für ein zielgerichtetes Arbeiten, und so kann dem entgegengewirkt werden, dass Schulsozialarbeit ein Anhängsel der Unterrichtsgestaltung wird. Das umso mehr im Ganztag, wo ja nicht nur der Unterricht, sondern auch die Lebenswelt der jungen Menschen gestaltet wird. Dort kommen die primären Kompetenzen der Schulsozialarbeit zum Tragen.
Online-Redaktion: Kann dies auch an anderen Lernorten geschehen?
Pudelko: Da müssen wir uns die Altersgruppen genauer anschauen. Betrachtet man die Ergebnisse der „Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen“, sieht man, dass jüngere Schulkinder viel stärker an die Schule gebunden werden, während ältere Schülerinnen und Schüler einen kritischeren Blick auf die Angebote der Schule werfen. Sie wählen nur die Angebote, die für sie von Interesse sind. Die müssen nicht unbedingt am Lernort stattfinden, sondern können auch durch Kooperationspartner im Sozialraum der Schule realisiert werden. Hier bin ich der Meinung, dass Schulsozialarbeit die Bedürfnisse der Jugendlichen für solche Angebote besser erkennen und eher anbahnen kann als die Schule.
Online-Redaktion: Sie haben sich intensiv mit dem Thema Schulverweigerung beschäftigt. Wie kann sich Schulsozialarbeit hier einbringen?
Pudelko: Schulabsentismus ist ein Phänomen, das eine ganz breite Palette an Ursachen hat, die in der Schule, in der Familie oder im Bereich der Gleichaltrigen angesiedelt sind. Auch die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen kann eine Rolle spielen. Man kann den Schulabsentismus häufig nicht auf den einen Grund zurückführen, sondern häufig handelt es sich um eine multikomplexe Angelegenheit.
Wir haben voriges Jahr eine Fachtagung genau zu dem Thema durchgeführt und dort gefragt, ob der Ganztag dem Schulabsentismus eher entgegenwirken kann. Alle an Schule beteiligten Gruppen – Eltern, Lehrer, Schüler, Sozialpädagogen und Schulpsychologen – waren eingebunden und haben sich erstmals direkt miteinander ausgetauscht. Das war äußerst interessant. Die Schülerinnen und Schüler haben beklagt, dass sie sich wenig gefragt fühlen, wenn es um die Gestaltung des Ganztags geht, und das dies dazu führt, dass sich manche Schülerinnen oder Schüler „ausklinken“, wie sie es nannten.
Ich habe dort gelernt, dass der Unterricht für die Schülerinnen und Schüler oftmals nur so etwas wie eine Pausenbrücke ist. Sie überstehen den Unterricht, um dann in die nächste, für sie angenehmere Zeit herüberzukommen. Da müssen sich Schulen überlegen, wie sie attraktiver für die Schülerinnen und Schüler werden. Und es gibt Schulen, die sehr attraktiv für die Kinder und Jugendlichen sind, wo es überhaupt kein Problem mit Schulabsentismus gibt. Da empfehle ich mal hinzuschauen, wie diese Schulen es schaffen, die Schülerinnen und Schüler zu gewinnen.
Online-Redaktion: Können Sie ein Beispiel nennen?
Pudelko: Das ist ein Prozess: Ein Schulleiter aus Hessen hat uns berichtet, dass es bei ihm sechs Jahre gedauert hat, bis die kontinuierliche Verweigerung des Schulbesuchs bei ihm kein Thema mehr war. Lehrerinnen und Lehrer haben dort jahrgangsgruppenweise Verantwortung übernommen, indem sie sich zu kleinen Teams zusammengeschlossen haben.
Sie haben die Schulsozialarbeit aktiv eingebunden und auch durch Umwandlung von Lehrerstellen in Schulsozialarbeiterstellen mehr Stellen geschaffen. Sie haben sich mit dem Jugendamt und deren Partnern zusammengetan. Und schließlich haben sie den Sozialraum stärker eingebunden und auch mit den Gewerbetreibenden gesprochen, denn wenn Schüler nicht in der Schule auftauchen, halten sie sich auch mal gerne in Geschäften auf. Das alles brauchte einen langen Atem, brachte aber letztlich den Erfolg.
Online-Redaktion: Wie schätzen Sie den Forschungsstand zur Schulsozialarbeit ein?
Pudelko: Die Forschungslandschaft ist hier leider sehr heterogen. Man kann Anke Spies, Nicole Pötter, Karsten Speck und Thomas Olk nennen, die allerdings immer nur punktuelle Forschung machen. Es gibt inzwischen eine breite Palette an Forschung zur Reichweite und zur Akzeptanz von Schulsozialarbeit, aber sehr wenig vergleichende Forschung zu den Wirkungen der Angebote. Mein Wunsch wäre, in den Schulen differenziert nach Angeboten zu schauen und zu fragen, wie diese wahrgenommen werden. Des Weiteren würde ich gerne herausfinden, welche Funktion die Schulsozialarbeit in den Schulen hat und welche Wirkungen möglich sind.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
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