Schulsozialarbeit im Ganztag: Brücke zur Kommune : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Zum gelingenden Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen gehört für Volker Reif vom Kommunalverband für Jugend und Soziales (KVJS) in Baden-Württemberg die Schulsozialarbeit – aber nicht nur als „Feuerwehr“, sondern mit ihren Kompetenzen.
Online-Redaktion: Welche Aufgaben erfüllt der KVJS in Baden-Württemberg?
Volker Reif: Wir sind ein von Stadt- und Landkreisen getragener kommunaler Verband. Wir unterstützen die Stadt- und Landkreise in unserem Bundesland Baden-Württemberg und begleiten sie bei der Weiterentwicklung von Hilfesystemen für die Einwohnerinnen und Einwohner. Es geht darum, die Lebensräume für Menschen mit Behinderung, für Senioren, Familien und insbesondere auch Kinder und Jugendliche zu gestalten. Dazu zählen unter anderem die Teilhabeplanung, die Integrationshilfe sowie die Aufgaben als überörtlicher Träger der Jugendhilfe einschließlich der Überlegung, wie Jugendhilfe und Schule eng und konstruktiv zusammenarbeiten können.
Persönlich unterstütze ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen im Fachteam die örtlichen Jugendämter bei der Weiterentwicklung der Jugendhilfe und der Jugendhilfeplanung. Dazu erheben wir beispielsweise Daten und erarbeiten Berichte zu Themen wie Demografie, Hilfen zur Erziehung, Kita sowie der Infrastruktur an Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit auf kommunaler Ebene. Die Daten erheben wir direkt in den Stadt- und Landkreisen. Dadurch sind diese sehr valide, also zuverlässig und aussagekräftig und somit konkrete Werkzeuge zum Handeln. Durch die Rückkopplung der aufbereiteten Daten in die Jugendämter geben wir dann fachliche Impulse zur Weiterentwicklung.
Online-Redaktion: Inwieweit beschäftigt Sie dabei auch das Thema Ganztagsschule?
Reif: Man muss ehrlich sein: Der Ganztag ist in Baden-Württemberg nach wie vor ein zumeist freiwilliges Angebot. Eine generelle Verbindlichkeit der Ganztagsschule wird es meines Erachtens auf absehbare Zeit nicht geben. Aktuell dreht sich natürlich ganz viel, manchmal denke ich, beinahe alles, um den Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz in der Grundschule. Wir unterstützen die Städte und Landkreise bei der Planung und Umsetzung des Rechtsanspruchs. Ein Knackpunkt für alle Städte und Kreise sind die unterschiedlichen Zuständigkeiten. Bisher entscheidet die jeweilige Schule über Beschluss der Schulkonferenz, ob sie Ganztagsschule wird, die Kommunen als Schulträger stellen dafür die Infrastruktur. Bei den Jugendämtern aber landet am Ende der Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz. Das ist eine komplizierte Gemengelage.
Online-Redaktion: Wie kann der KVJS da konkret unterstützen?
Reif: Ein Beispiel: Wir haben für die Kitas das sogenannte Kita-Data-Webhouse entwickelt. Einfach ausgedrückt, handelt es sich um eine Datenbank über die Anzahl der Kinder im Kindergartenalter und die zur Verfügung stehenden Plätze. Wenn alle Kommunen diese Bedarfserhebungen nutzen, können sie auch leichter die Betreuungsplätze und Belegung im Rahmen der Ganztagsangebote an Schulen planen. Zumal man für die Planung davon ausgehen kann, dass wenn ein Kind einen Ganztagsplatz in der Kita nutzt, es auch einen Ganztagsplatz in der Grundschule benötigt. So können wir leicht feststellen, wie viele Betreuungsplätze in der Grundschule nötig sind oder gegebenenfalls geschaffen werden müssen. Allerdings ist das nur relativ leicht für die Wochentage des Schuljahres vorauszusagen.
Die große Frage bleibt: Wieviele Plätze benötigen wir in den Schulferien, und wer gewährleistet dann die Betreuung? Schon jetzt ist klar, dass sich Kommunen werden zusammenschließen müssen, wenn beispielsweise in einer nur ein geringer Bedarf besteht und in der Nachbarkommune vielleicht noch Kapazitäten vorhanden sind. Natürlich stellen jetzt schon verbandliche und offene Angebote im Rahmen der Jugendhilfe wie beispielsweise Jugendfarmen und Jugendverbände, Ferienangebote zur Verfügung. Diese agieren allerdings unter der Prämisse der Freiwilligkeit und unter Einbezug ehrenamtlich Tätigen. Dies lässt sich nicht so einfach mit einem verpflichtenden und verbindlichen Betreuungsangebot zusammenführen. Hier bedarf es zusätzlichen Personals, um der Gewährleistungspflicht als Träger solch eines Betreuungsangebotes nachkommen zu können.
Online-Redaktion: Die Schulsozialarbeit wird immer bedeutsamer. Bestätigen das Ihre Forschungen?
Reif: Ja, Baden-Württemberg ist das Bundesland mit den meisten Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeitern. Insgesamt haben wir 2900 sozialpädagogische Fachkräfte an den Schulen, in 1900 Vollzeitstellen. Das Land übernimmt dabei ein Drittel der finanziellen Aufwendungen, und die Kommunen übernehmen die anderen zwei Drittel.
2013 haben wir die Grundschulen in den Blick genommen. Die Kernfrage lautete: Was hat eine Kommune von der Schulsozialarbeit? Das Ergebnis ist ein Statement für die Zusammenarbeit von Schule, der Kommune als Schulträger und Jugendhilfe. Wir können die Kinder- und Jugendlichen, häufig aber auch die Eltern sozusagen an der Basis abholen. In der Schule haben sie die Möglichkeit, unsere niedrigschwelligen Angebote zu nutzen. Sie können zum Beispiel einfach einmal ein Gespräch mit dem Sozialpädagogen oder der Schulsozialarbeiterin suchen. Das schafft Vertrauen und baut Bindung auf.
Es können auch Einzelfallhilfe oder Gruppenangebote verabredet werden. Ebenso gibt es offene Angebote wie Schülertreffs. Im Idealfall bauen wir so eine Brücke zur weiteren Unterstützungsangeboten der Kinder- und Jugendhilfe, die dann wiederum leichter in Anspruch genommen wird, beispielsweise wenn es um Familienhilfe geht. Doch trotz der im Ländervergleich hohen Zahl kann die Schulsozialarbeit nicht alles in der Schule abdecken. Sie hat auch die Aufgabe, in den Sozialraum rauszugehen. Dann kann ein Band zwischen Schule und Kommune entstehen, wenn die Schulen bereit sind, sich in diese kommunale Verantwortungsgemeinschaft einzubringen. Die Schülerinnen und Schüler lernen dann auch leichter die Jugendzentren, die mobile Jugendarbeit, aber auch Familienzentren kennen. Am Ende profitieren alle davon.
Online-Redaktion: Das klingt nach einem „aber“…
Reif: Leider sind noch zu wenige Schulen wirklich bereit, sich zu öffnen und auch im hier beschriebenen Sinne mit der Jugendhilfe zu kooperieren. Zu oft schwebt ihnen vor, die Jugendhilfe könnte u.a. mit ihren Einrichtungen und Angeboten der Jugendarbeit einfach Anbieter von Ganztagsangeboten sein. Was aber nicht geht. Denn das Prinzip der Freiwilligkeit ist in diesen Einrichtungen und Angeboten die Basis für den Erfolg der Beziehungsarbeit und damit der Jugendhilfearbeit. Eine Anwesenheitskontrolle wie beispielsweise bei den Arbeitsgemeinschaften der Ganztagsschulen kann es für die Jugendarbeit nicht geben. Es muss umgekehrt laufen: Schulen sollten die sozialräumlichen Möglichkeiten in einem kommunalen regionalen Bildungsangebot nutzen.
Online-Redaktion: Das heißt, es gibt einige Knackpunkte der Zusammenarbeit?
Reif: Schule und Jugendhilfe haben beide den Auftrag, den Kindern und Jugendlichen ein gelingendes Aufwachsen in der Kommune zu ermöglichen. Dafür müssen beine Systeme sich dem jeweils anderem System öffnen und ihre gemeinsame Schnittmenge erweitern, statt die jeweils andere Seite lediglich in das eigene System integrieren zu wollen. Das funktioniert schon jetzt am besten bei Schulen mit einem verbindlichen und rhythmisierten Ganztag.
Schulen müssen nach meiner Überzeugung ihre Haltung ändern und nicht erst nach der Schulsozialarbeit rufen, wenn es „knallt“. Dazu gehört manchmal auch, die Haltung gegenüber den Kindern und Jugendlichen zu ändern. Wir wünschen uns schon lange sowohl eine pädagogische als auch eine organisatorische Führung in der Schule. Mit der Maßgabe, dass die pädagogische Leitung auch die Zeit erhält, sich um ein gelingendes Aufwachsen der Schülerinnen und Schüler und der entsprechenden Rahmenbedingungen in deren Sozialraum zu kümmern. Ehrlicherweise fehlen den Schulen dafür bislang zumeist die Ressourcen.
Online-Redaktion: Was kann die Jugendhilfe tun?
Reif: Die Jugendhilfe versucht, den Ganztag und seine Chancen mitzudenken. Sie kann dort beispielsweise die Soziale Gruppenarbeit, wie sie im Kinder- und Jugendhilfegesetz vorgesehen ist, etablieren und in den Ganztagsbetrieb integrieren. Dort arbeiten pädagogische Fachkräfte mit kleinen Gruppen von Kindern mit Förderbedarf. Dieser Förderbedarf kann vielerlei Gründe haben, bis dahin, dass eigentlich die Eltern eines Kindes Unterstützung bei der Erziehungsarbeit benötigen. Solche Gruppen müssen natürlich so organisiert werden, dass kein Kind stigmatisiert wird. Einzelne Landkreise versuchen das. Solche Projekte werden von uns gefördert und inhaltlich begleitet. Und wir schauen dann, wie sie auf andere Schulen übertragen werden können.
Online-Redaktion: Kommen wir noch einmal auf Ihre Forschungsarbeit zu sprechen. Was ergaben Ihre 2019 gestarteten Untersuchungen?
Reif: Die Grundfrage entsprach der von 2013. Diesmal haben wir den Sekundarbereich bis zur Sekundarstufe II unter die Lupe genommen. Das bedeutete, dass wir automatisch einen größeren Einzugsraum zu betrachten hatten, weil die Einzugsgebiete der weiterführenden Schulen natürlich viel größer sind als die der Grundschulen. Das Besondere war auch, dass wir Kinder und Jugendliche selbst befragt haben, wie sie die Schulsozialarbeit wahrnehmen. Es hat uns in unserer Arbeit und Einschätzung bestätigt, dass die Schülerinnen und Schüler die Freiwilligkeit unserer Angebote schätzen. Die latent verfügbaren, alltagsnahen und vielfältigen Nutzungsoptionen mit niederschwelligen Zugangsmöglichkeiten stellen aus Sicht der Kinder- und Jugendlichen das zentrale Qualitätsmerkmal von Schulsozialarbeit dar
Das bestätigt uns, dass die Schulsozialarbeit nicht als Feuerwehr für die – zugespitzt gesagt –Kompensierung von systembedingten Problemlagen der Schule dienen darf. Sondern es geht, um im Bild zu bleiben, um den gemeinsamen Einsatz für die jungen Menschen. Mit unseren Erfolgsgeschichten über Wirkungspotenziale, das heißt, wenn wir berichten können, wie positiv sich Kinder und Jugendliche entwickeln, von denen wir es möglicherweise nicht erwartet haben, können wir auch diejenigen überzeugen, die am Ende mit über Geld und Personal entscheiden.
Solche Erfolgsgeschichten würde es aus unserer Sicht noch viel häufiger geben, wenn zwei Personen im Unterricht agieren, eine Lehrerin und ein Schulsozialpädagoge. Letzterer könnte seinen Blick zum Beispiel stärker auf die Gruppendynamik, aber auch auf individuelle Bedürfnisse von Schülerinnen und Schülern richten. Natürlich ist die Schulsozialarbeit nicht für den Fachunterricht im engeren Sinne da. Aber sie kann den Unterricht wesentlich unterstützen, wie Beispiele zeigen. Diese Form wäre dann allerdings nicht mehr unter dem Dach der klassischen Jugendhilfe zu fassen, sondern müsste – wie in manchen Bundesländern – unter dem Dach des jeweiligen Schulministeriums geregelt sein.
Online-Redaktion: Werfen Sie bitte einen Blick in die Glaskugel. Wie steht es um die Zukunft von Jugendhilfe und Ganztagsschule in einigen Jahren?
Reif: Ich wünsche mir, dass es gelingt, wie es der 12. Kinder- und Jugendbericht fordert, eine kommunale Bildungsplanung als integrierte Fachplanung aufzubauen und dabei Jugendhilfeplanung und Schulentwicklungsplanung besser zu verzahnen. Wenn wir die angemessenen Ressourcen für bestehende und neue Infrastrukturangebote bereitstellen und an den Bedarfen der jungen Menschen weiterentwickeln, kann das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen wesentlich besser gelingen. So können wir auch die Frage beantworten, wie die Potenziale des Ganztags dafür noch besser genutzt werden können.
Hilfreich wäre, wenn die Schulträger mitentscheiden können, ob eine Schule Ganztagsschule wird. Das wird in Baden-Württemberg aktuell diskutiert. Wenn es dazu kommt, wird die Zahl der Ganztagsschulen vermutlich deutlich steigen, alleine schon, weil dadurch ein wesentlicher Anteil des durch den Rechtsanspruch abzudeckenden Zeitfumfangs an Ganztagsbetreuung zumindest für die Schulzeit abgedeckt wäre. Ich bin sicher, dass die Ganztagsentwicklung durch den Rechtsanspruch einen neuen Schub bekommt.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
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