Potenziale und Zukunft der Kinder- und Jugendarbeit : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Träger der Kinder- und Jugendarbeit versammelten sich auf dem bundesweiten Fachkongress unter dem Motto „Potenziale erkennen – Zukunft gestalten“ in Dortmund.
Am 26. September 2016 war es so weit: Praktikerinnen und Praktiker der Kinder- und Jugendarbeit, Studierende und Forschende kamen zusammen, um auf dem „Bundesweiten Fachkongress Kinder- und Jugendarbeit“ über Potenziale und die gegenwärtigen und künftigen Herausforderungen zu diskutieren. Rund 1500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren der Einladung des Forschungsverbundes Deutsches Jugendinstitut/Technische Universität Dortmund gefolgt.
Drei Tage lang tauschten sie sich unter dem Motto „Potenziale erkennen – Zukunft gestalten“ in weit über 100 Workshops aus. Auf dem „Markt der Möglichkeiten“ präsentierten sich parallel zahlreiche Verbände und Institutionen, darunter die Deutsche Sportjugend, der Deutsche Bundesjugendring und die Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendarbeit (BKJ), aber auch die Johann-Gutenberg-Realschule Dortmund.
Partizipation in Bildungslandschaften
Ein Thema war die Gestaltung von Bildungslandschaften: Unter anderem Prof. Thomas Coelen von der Universität Siegen und Alexander Mavroudis vom Landschaftsverband Rheinland bestritten das Symposium „Potenzial Bildung – Landschaften gestalten“. In weiteren Symposien ging es um die Partizipation als ein „Kern der Kinder und Jugendarbeit“ oder die Kinder- und Jugendarbeit als Ort politischer Sozialisation. Über die „Anerkennung von Diversität“ sprach Prof. Susanne Keuchel von der Akademie der Kulturellen Bildung, und sozialräumliche Konzepte stellte Prof. Dr. Ulrich Deinet von der Hochschule Düsseldorf vor.
Weitere Themen waren die Jugendhilfeplanung, die Rolle der Jugendämter in der Kinder- und Jugendarbeit in kommunalen Bildungslandschaften, die Professionalisierung, Ausbildung und Fachkräftesituation, ebenso Inklusion und internationale Jugendarbeit. Aber auch Fragen von „Nähe und Distanz“ in der Kinder- und Jugendarbeit“ oder von Gewalt in Einrichtungen wurden thematisiert. Eine bedeutsame Rolle spielte die Forschung. So präsentierte ein Workshop die Erkenntnisse der Sinus-Jugendstudie 2016 zu Flucht und Asyl. Weiterhin wurden Forschungsergebnisse zu „Differenz und Heterogenität“, zu Jugendfreizeiteinrichtungen in ländlichen Räumen oder zu den Rahmenbedingungen kultureller Bildungseinrichtungen vorgestellt.
Natürlich war auch die Ganztagsschule ein Thema. Schon in seinem Eröffnungsvortrag wies Prof. Thomas Rauschenbach vom Deutschen Jugendinstitut auf die elementare Bedeutung der Ganztagsschule auch für die außerschulische Bildung hin: „Die Kinder- und Jugendarbeit hat sich seit dem 12. Kinder- und Jugendbericht 2005 verändert. Die Ausweitung der Ganztagsschulen und die Schnittstelle der Kinder- und Jugendarbeit mit der Schule sind zum Mega-Thema der letzten Jahre geworden.“
Radikale Umkehr des Jugendlebens hat nicht stattgefunden
In der Tat hat sich im letzten Jahrzehnt viel verändert: Besuchten 2002 nicht einmal 10 Prozent der Schülerinnen und Schüler in Deutschland eine Ganztagsschule, sind es im Schuljahr 2014/2015 fast 38 Prozent. Ist die „Kontroverse um die Ganztagsbetreuung noch ein Thema im Jahr 2016“?
Dieser Frage ging ein Debattenforum nach. Prof. Ivo Züchner von der Philipps-Universität Marburg und Mitglied des Forschungsverbundes der „Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen (StEG) fand diese „Fragestellung spannend“ und berichtete „Beobachtungen aus zehn Jahren Forschung“. Sein erstes Fazit: „Es gibt nicht die eine Zusammenarbeit zwischen Ganztagsschule und Kinder- und Jugendarbeit.“ Denn die Strukturen in den 16 Bundesländern seien sehr unterschiedlich.
Züchners zweite Beobachtung: „Die radikale Umkehr des Jugendlebens, wie sie von einigen Kritikern an die Wand gemalt worden ist, hat nicht stattgefunden.“ Die Anwesenheitszeiten in den Ganztagsschulen seien sehr unterschiedlich. Nur eine Minderheit der Schülerinnen und Schüler sei an fünf Tage der Woche bis 16 Uhr in der Schule, und wenn dann hauptsächlich Grundschülerinnen und -schüler. Mit zunehmendem Alter „steigen die Kinder- und Jugendlichen aus dem Ganztag aus.“ Die Freiwilligkeit der Ganztagsschule sei aber zugleich Ursache ihres Erfolges: „Ohne diese Freiwilligkeit hätten wir die Akzeptanz bei den Eltern nicht erreicht.“
Die Diskussion um die Konkurrenz von schulischer und außerschulischer Bildung habe sich angesichts der Realität der Zahlen also erledigt. Laut dem Erziehungswissenschaftler gebe es aber weiterhin Diskussionen um die Abgrenzung des Profils der Kinder- und Jugendarbeit von ihrer Rolle als „Dienstleister“ der Ganztagsschulen sowie um die Beschreibung des Aufgabenprofils der Jugendarbeit im Ganztag.
Schulleitung spielt entscheidende Rolle für die Kooperation
Dr. Manuela Sauer, Leiterin im Referat für Grundsatzfragen beim Kreisjugendring München, schilderte die Praxis als Träger von Kindertagesstätten und Kinder- und Jugendeinrichtungen. Der Kreisjugendring kooperiert zum Beispiel mit der Mittelschule Bernaysstraße und der Mittelschule am Gotzinger Platz und hat dort viele Schulsozialarbeiter „im Einsatz“.
„Wir kooperieren nur mit Schulen, die in der Nähe unserer Einrichtung liegen, denn es ist uns wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler zu uns kommen“, so die Referentin. Eine Voraussetzung zur Kooperation sei die ausreichende finanzielle Ausstattung: „Wir wollen nicht unsere pädagogischen Standards senken müssen um den Preis einer Zusammenarbeit“, so Manuela Sauer. „Wir sind eingebunden in die Schule, aber wir sehen uns auch als Korrektiv, das andere Bildungsorte und -perspektiven einschließt“, so die Referentin. Die strukturierte Zusammenarbeit mit einer Ganztagsschule hängt aus ihrer Sicht von der Persönlichkeit der Schulleitung ab.
„Wir hier“: Jugendverbände und Jugendringe
In Nordrhein-Westfalen findet seit 2008 auf Initiative des Ministeriums für Schule und Weiterbildung der Ausbau von „Regionalen Bildungsnetzwerken“ statt. Diese sollen „die Idee eines ganzheitlichen Bildungsverständnisses unterstützen, indem sie über Altersgrenzen hinweg schulisches und außerschulisches Lernen in den Mittelpunkt stellen“. Aus Sicht der Jugendverbandsarbeit entsprechen die Rahmenbedingungen vielfach noch nicht den Zielen einer Beteiligung von Kindern und Jugendlichen. Die Sichtweisen der Familien, der Kinder und Jugendlichen müssten stärker eingebunden werden.
„Daher haben der Landesjugendring NRW und fünf Stadt- und Kreisjugendringe von 2013 bis 2016 das landesweite Projekt 'Wir hier' aufgelegt“, berichtete der Geschäftsführer des Jugendrings Düsseldorf, Achim Radau-Krüger. Die Akteure vor Ort haben eigene Projekte initiiert, um Kindern und Jugendlichen „das Erleben non-formaler Bildung zu ermöglichen“. Formelle und informelle Bildung seien effektiver vernetzt worden, beispielsweise durch Kooperationen im Bereich Partizipation und Medienkompetenz mit Sekundarschulen.
Trotz des in einzelnen Kommunen Erreichten sieht Radau-Krüger noch Herausforderungen: „Rein ehrenamtlich strukturierte Verbände werden keine Rolle in der Ganztagsbildung spielen, denn für die viel beschworene gleiche Augenhöhe sind die Voraussetzungen zu unterschiedlich.“ Dem stimmte Manuela Sauer zu: Die Schule habe eine andere Aufgabe und eine andere Bezahlung als die Kinder- und Jugendarbeit. Mit befristeten Verträgen und Teilzeitbeschäftigungen für außerschulische Mitarbeiter werde es keine gleiche Augenhöhe geben.
„Qualität liegt im Auge des Betrachters“
Die „Qualität im Offenen Ganztag“ aus Sicht eines konfessionellen Trägers stellten Katja Birkner von der Jugendseelsorge des Erzbistums Köln und Prof. Patrik C. Höring von der PTH St. Augustin vor. „Der Erfolg einer ganztägigen Bildung und Betreuung hängt von der Qualität des Angebots ab“, bezog sich Prof. Höring auf die StEG-Studie. „Qualität liegt aber im Auge des jeweiligen Betrachters. Manche Kollegen beispielsweise sagen, sie sind froh, wenn die Schule sie nach 13 Uhr in Ruhe lässt.“
Um aus der Perspektive der kirchlichen Jugendarbeit eigene Qualitätsstandards zu formulieren, befragte das Erzbistum 109 Leiter von Einrichtungen, die sich in offenen Ganztagsgrundschulen engagieren, zur Qualität im offenen Ganztag. 68 Befragte antworteten. Die Antworten zeigen bereits gut entwickelte Felder, aber auch Handlungsbedarf auf. So ist der systematische und regelmäßige Austausch über fachliche Entwicklungen und über individuelle Entwicklungen jedes Kindes an fast allen Schulen verankert. Ein Austausch über kulturelle Vielfalt finde indes weniger statt.
Die außerschulischen Fachkräfte sind stark in der Hausaufgabenbetreuung eingesetzt, weniger in der individuellen Förderung oder in Sprachangeboten. „Wir sind nicht auf unterrichtliches Lernen spezialisiert“, räumte Katja Birkner ein. Die Qualität der Zusammenarbeit sei unterschiedlich. „Es hat Beispiele gegeben, dass im Nachmittag entwickelte Regeln in den Unterrichtsvormittag gewandert sind. Aber es gibt auch Schulen, wo man nicht einmal einen Schlüssel bekommt“, erzählte Katja Birkner. „Wir werden die Befragungsstudie demnächst auf Eltern und Kinder ausdehnen“, kündigte Patrik Höring an.
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