Lobby für junge Menschen: „Ganztagsschule braucht Jugendarbeit“ : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
„Wir heben an allen möglichen Stellen den Finger“, sagt Tjark van Neer vom Landesjugendring Niedersachsen. Im Interview erläutert er, warum die Kooperation mit der Jugendarbeit für Ganztagsschulen unbedingt notwendig ist.
Online-Redaktion: Herr van Neer, der Landesjugendring Niedersachsen ist glasklar: „Ganztagsschule braucht Jugendarbeit“. Warum?
Tjark van Neer: Die ganzen Werte und Kompetenzen der außerschulischen Bildung finden im Schulalltag oft keinen Platz. Für die Jugendarbeit hat die Erziehung zu einem selbstbestimmten und selbstbewussten Menschen, der für seine Sachen einsteht, selbst Akzente setzt und Verantwortung übernimmt, absoluten Vorrang. Dazu gehören ein politisches Verständnis, auch eine gewisse Streitbarkeit, Eigenverantwortung und Fehlertoleranz mit einem ergebnisoffenen Herangehen an eine Aufgabe.
Das Niedersächsische Kultusministerium hat die Ganztagsschulen unter anderem mit dem Satz „Vom Lernort zum Lebensort“ beschrieben. Wenn Schule also Lebensort sein soll, kann sie nicht mehr nur Schule sein. Dann muss sie auch ein Ort sein, der den Interessen der Kinder und Jugendlichen Raum und Zeit gibt. Wer dafür keine Gelegenheiten bietet, der kommt nur einem Teil seines Bildungsauftrags nach.
Online-Redaktion: Welche Aufgaben übernimmt der Landesjugendring?
van Neer: Ich sage immer, der Landesjugendring macht Lobbyarbeit für junge Menschen. Andere machen Lobbyarbeit für irgendwelche Produkte, wir machen sie für die Kinder und Jugendlichen. Wir heben an allen möglichen Stellen den Finger, um daran zu erinnern. Wir fragen, ob an Kinder und Jugendliche gedacht worden ist, ob Partizipation mitgedacht wird und ob die Möglichkeiten der Jugendverbandsarbeit einbezogen werden.
Der Landesjugendring hat 19 Mitgliedsorganisationen mit über 80 eigenständigen Verbänden. Wir arbeiten derzeit mit bis zu 15 Mitarbeitenden in Voll- und Teilzeitstellen in der Geschäftsstelle in Hannover. Bei den Mitgliedsverbänden in Niedersachsen arbeiten rund 50 Bildungsreferentinnen und -referenten in den Geschäftsstellen. Darunter geht es dann in die Ehrenamtlichkeit hinein. Insgesamt erreichen wir rund 500.000 junge Menschen in Niedersachsen. Und in irgendeiner Konstellation arbeitet jeder der Verbände mit Ganztagsschulen zusammen.
Online-Redaktion: Wie sieht Ihre Arbeit als Referent für Jugendarbeit und Jugendpolitik konkret aus?
van Neer: Ich sitze hauptsächlich am Telefon und am PC. In der Betreuung der kommunalen Jugendringe bin ich aber auch viel im Land unterwegs, führe Gespräche und Workshops durch und helfe bei der Vernetzung. Wir sind auch bei Veranstaltungen präsent, zum Beispiel neun Tage lang bei der alle zwei Jahre stattfindenden IdeenExpo, der landesweiten Messe, auf der junge Menschen sich Naturwissenschaften und Technik aus einer neuen Perspektive anschauen können. Dort haben wir auch sozusagen Endkunden-Kontakte, was ja sonst eher selten der Fall ist. Wir können uns dann Feedback holen, was auch so ein kleiner Realitätscheck für unsere Aktionen ist. Die Kolleginnen und Kollegen, die Projekte organisieren, wie zum Beispiel zu queerer Jugendarbeit oder zu interkultureller Jugendarbeit, sind bei Vernetzungsveranstaltungen oder bei Qualifikationsveranstaltungen noch mehr unterwegs als ich.
Online-Redaktion: Sie erwähnen die Partizipation – wie ist es damit aus Ihrer Sicht in Schulen bestellt?
van Neer: Die Beteiligung ist quasi in die DNA der Jugendarbeit eingeschrieben. Ohne Partizipation geht es gar nicht. Wenn sich die Kinder und Jugendlichen nicht einbringen, dann läuft nichts. In der Schule geht es dagegen um effiziente Qualifizierung. Die beiden Systeme Schule und Jugendarbeit sind da also sehr unterschiedlich, die Anforderungen und die Zwänge, besonders die zeitlichen, sind ganz andere. Beteiligung ist in der Schule eher ein Extra, das sich viele Schulen wünschen, das aber erst einmal eingeführt werden muss.
Online-Redaktion: Welche Erfahrungen haben Sie in der Zusammenarbeit mit Ganztagsschulen gesammelt?
Van Neer: Für uns sind Ganztagsschulen tolle und wertvolle Partner. Und wenn man mal einen ruhigen Moment findet, sich gegenübersitzt und die Karten auf den Tisch legt: Das können wir für euch machen, das könnt ihr für uns machen – dann erfahren wir große Offenheit. Alle Beteiligten wissen im Hinterkopf, da kann was Neues und Innovatives aus der Zusammenarbeit entstehen. Aber diese Ruhe und die Zeit, gemeinsam konzeptionell zu arbeiten, gibt es oft einfach nicht. Die Schulen möchten sich meist am liebsten einen Dienstleister mit einem fertigen Angebot einkaufen, das dann von 13 bis 15 Uhr läuft. Der Input unsererseits ist da oftmals nicht gefragt.
Das meine ich ohne Vorwurf. Ich möchte auch nicht in der Haut der Koordinatoren stecken, die so ein Ganztagsangebot auf die Beine stellen müssen – mit begrenzten Mitteln und begrenzter Zeit. Und gerade Zeit ist ein wichtiger Faktor, denn die Anbahnung und Durchführung einer solchen Zusammenarbeit ist ein langer Prozess. Man muss beispielsweise Auswertungsgespräche führen können – wie war es für euch, wie war es für uns, was war prima, was war nicht so gut? Die Rückmeldungen der Eltern müssen ebenfalls einbezogen werden.
Jugendverbandsarbeit ist überwiegend ehrenamtliche Arbeit. Wir können nicht mal eben mit einem Team von 15 Pädagogen an eine Ganztagsschule kommen, um testweise auszuprobieren, ob ein Projekt läuft und sich bewährt. Der Arbeit gehen lange Gespräche voraus, die Verbände brauchen Planungssicherheit und stellen danach ihre Leute ein. Wenn die Zusammenarbeit auf diese Weise implementiert wird, entstehen großartige und langfristige Kooperationen mit Zufriedenheit auf beiden Seiten. Das ist dann meistens das Verdienst einzelner Lehrkräfte oder Verbandsvertreter, die an ein Projekt glauben, sich dafür einsetzen und Schulleitung und Eltern dafür gewinnen.
Online-Redaktion: Können Sie Beispiele nennen?
van Neer: Einer unserer Mitgliedsverbände ist JANUN e.V., das Jugendumweltnetzwerk Niedersachsen. Es organisiert zum Beispiel kooperative Gartenprojekte. In einer Schule betreuen die Schülerinnen und Schüler einer Biologieklasse ein halbes Jahr lang einen solchen Garten, begleitet durch Jugendverbandsmitglieder, die oft nur wenig älter als sie selber sind. Das ist komplett partizipativ organisiert: Was pflanzen wir an? Wie pflanzen wir es an? Auch mit der Offenheit, Fehler zu machen und aus den möglichen Fehlern zu lernen. Die Lehrerinnen und Lehrer der Biologiefachschaft haben sich darauf eingelassen, und was ich zuletzt gehört habe, sind alle begeistert. Die Schülerinnen und Schüler kommen mit dreckigen Händen in die Schule zurück und haben mal auf einer ganz anderen Ebene was gelernt.
Oder ein anderes Beispiel: Seit etwa fünf Jahren läuft an der Kastanienhof-Grundschule in Hannover-Limmer ein Kooperationsprojekt mit dem VCP, dem Verband Christlicher Pfadfinderinnen und Pfadfinder, die in der Schule den Ganztag gestalten. Auf dem recht großen Gelände der Schule haben sie Bauwagen aufgestellt, in denen sich die Ganztagsgruppen als „Bauwagenbanden“ treffen. Für die Schülerinnen und Schüler ist das super, die Schule mal zu verlassen und in eine andere, eigene Welt einzutauchen. Hier ist die Verzahnung von schulischen Anforderungen und einer außerschulischen Welt besonders gut gelungen.
Online-Redaktion: Der Landesjugendring bietet auch Fortbildungen an. Was fragen Schulen besonders nach?
van Neer: Mich erreichen ganz viele Anfragen zur Juleica-Schulung für Schülerinnen und Schüler. Die Juleica ist die Jugendleiter-Card, ein Qualifikationsnachweis über die Ausbildung zur ehrenamtlichen Mitarbeit in der Jugendarbeit. Die haben unsere Mitgliedsverbände auch schon oft in Schulen durchgeführt, aber unter gewissen Voraussetzungen. Der Juleica-Schulungsteil kann im Nachmittagsbereich stattfinden, dazu gehören Einweisungen in die Aufsichtspflicht, pädagogisches Grundwissen oder Feedback-Methoden, also von der Gruppe Feedback einzuholen. Aber das ist ja nur ein Teil der Juleica-Ausbildung. In der Richtlinie steht, dass der oder die Jugendliche aktiv in der Jugendarbeit sein muss, um die Juleica zu bekommen. Die Schule muss also wissen, dass eine Verzahnung mit der Jugendarbeit dazu gehört und die Jugendlichen sich in einem Verband engagieren müssen. Das ist dann schon schwieriger zu organisieren. Ob das auch während der Schulzeit gehen kann, wird man sehen.
Online-Redaktion: Jugendliche gelten, je älter sie werden, als schwerer erreichbar für Ganztagsangebote, verglichen mit Kindern in der Grundschule. Ist das auch Ihre Erfahrung?
van Neer: Ab 13 Jahren aufwärts wird es tatsächlich schwieriger. Die Jugendlichen wollen daddeln, die wollen zocken, die wollen für sich sein. Sie wollen vor allem nicht nur bespielt werden, sondern, um es salopp zu sagen, auch was reißen: Sie wollen Verantwortung übernehmen. Und dabei wollen sie mitbestimmen, selbst sagen, wo es langgeht, und dann sind sie auch für viele Sachen zu begeistern.
Es ergeben sich auch ganz andere Situationen. Stichwort digitale Medien. Natürlich gibt es in Jugendzentren ein offenes WLAN, natürlich können die Jugendlichen dort surfen. Wenn dann einer vielleicht auf eine merkwürdige Seite surft, haben wir einen Gesprächsanlass. Was machen die Leute denn da für merkwürdige Sachen? Warum surfst du dahin? In der Jugendarbeit ist das ein willkommener Anlass für Diskussionen. Wir haben Träger, die unglaublich fit in diesem Bereich der Medienpädagogik sind.
Online-Redaktion: Wie sehen Sie die Zukunft der Kooperation mit Schulen?
van Neer: Ich glaube, dass sich das, wie so oft, ruckeln wird. Wenn wir uns in fünf Jahren wiedertreffen, wird das Bild ein anderes sein. Beide Systeme bewegen sich nicht mehr voneinander weg. Dazu ist es zu bestechend, was jeweils geboten wird.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
Kategorien: Forschung - Internationale Entwicklungen
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