Kinder- und Jugendbericht: Ganztagsschule ist nicht altersneutral : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Prof. Stephan Maykus ist Mitautor des 15. Kinder- und Jugendberichts. Im Interview erläutert er die Anliegen des Berichts und die Anforderungen an eine jugendgerechte Ganztagsschule.
Online-Redaktion: Prof. Maykus, Sie sind Mitautor des 15. Kinder- und Jugendberichts. Welche Essenz ziehen Sie aus dem Bericht?
Stephan Maykus: Der 15. Kinder- und Jugendbericht ist der erste Bericht, der ausschließlich die Lebensphase Jugend mit ihren Veränderungen, gesellschaftlichen Anforderungen und somit den Konsequenzen für die Weiterentwicklung der Jugendhilfe behandelt. Das ist ausgesprochen wichtig und aktuell, denn in den letzten Jahren hatten wir in der Fachöffentlichkeit und auch in der Politik eine viel größere Aufmerksamkeit für Fragen der frühen Bildung, des Kinderschutzes und der Familienförderung.
Wir haben im Bericht bewusst keine Generation X, Y oder Z ausrufen wollen, viel wichtiger ist der Sachverständigenkommission die genaue Analyse der heutigen Jugendphase. Es geht um die Bedingungen, Ausdrucksformen und Erfahrungen der Jugend heute, um eine gute Grundlage für fachliche Entwicklungen legen zu können. Ich hoffe, dass nicht nur mir, sondern auch der Leserschaft die zentrale Leitformel im Gedächtnis bleibt: Jugend ermöglichen!
Die Erörterung von zentralen Teilthemen der Lebenslage Jugend zeigt das im Bericht sehr anschaulich: Digitale Welten der Jugendlichen, ihr Erleben von Ganztagsschulen und Bildung, die Bedeutung von Jugendarbeit sowie von Freiräumen für Jugendliche zeigen, wie wichtig ein dezidierter Blick auf die Bedürfnisse der Jugend ist.
Ich verbinde mit der Leitformel „Jugend ermöglichen“ eine neue Schubkraft für die Jugendpolitik in Bund, Ländern und Kommunen und für die jugendorientierte Weiterentwicklung von Angeboten der Jugendhilfe, aber auch der Ganztagsschulen. Letztere sind im Bericht mitten im Wahrnehmungsradius – allerdings nicht von den Jugendlichen selber und auch nicht der Jugend- oder der Bildungspolitik, sondern einer kritischen Analyse aus der Perspektive Jugendlicher. Das war ausdrückliches Ziel des 15. Kinder- und Jugendberichtes.
Online-Redaktion: Im Bericht heißt es pointiert, soziale Ungleichheit werde nicht automatisch gemindert, weil Schule ganztägig organisiert ist. Was ist erforderlich für mehr Chancengleichheit?
Maykus: Zunächst muss man festhalten, dass eine einzelne pädagogische Institution, so gut sie auch ausgestaltet sein mag, nicht gesellschaftliche Ungleichheitsstrukturen verändert. Hier sind übergreifende Perspektiven gefragt, die Armutsrisiken Jugendlicher eindämmen, Zugänge zu Schulangeboten für alle, unabhängig von der sozialen Herkunft, optimieren und mit einer stärkeren Durchlässigkeit des Bildungssystems einhergehen. Veränderungen der Schulstrukturen in den Bundesländern haben erst begonnen. Sie müssen noch weitergehen und Antwort auf gesellschaftliche Veränderungen sein und zum Beispiel selektive Wirkungen des Schulsystems abbauen.
Und vor allem plädiere ich bei dieser Frage für die fachliche und politische Unterstützung von kommunalen Bündnissen der Bildung. Alle sozialen und lebensweltlichen Erfahrungsorte junger Menschen müssen hier in einem Zusammenspiel betrachtet werden, denn sie alle haben einen Anteil an der Integration oder auch dem Ausschluss der Jugendlichen. Hier brauchen wir Gesamtkonzepte und eine klare Jugendorientierung – also immer wieder die Prüffrage: Wie wird bei uns vor Ort Jugend ermöglicht?
Online-Redaktion: Eine weitere Aussage des Berichts war, dass Jugendliche zu wenig passgenaue Ganztagsangebote erhalten würden. Könnten Sie das erläutern?
Maykus: Eine jugendorientierte Ganztagsschule im Sekundarbereich umfasst eine Altersspanne, die teilweise mit sehr deutlichen Unterschieden der Bedürfnisse Jugendlicher einhergeht: Zwischen einem 14- und einem 17-jährigen Jugendlichen können in dieser Hinsicht schon Welten liegen. Deshalb ist Partizipation ja auch so wichtig. Jugendorientierung steht für die bewusste Wahrnehmung der Jugendlichen, das Spiegeln ihrer Themen und Wünsche durch Erwachsene, damit Jugendliche erfahren, dass es durchaus relevant ist, was sie beschäftigt.
Ganztagsschulen wurden bisher in der Fachdebatte nahezu altersneutral diskutiert, und das hat Folgen: Es fehlt ein dezidiertes jugendorientiertes Konzept. Was macht eine Ganztagsschule des Jugendalters aus? Diese Frage wurde bislang nicht eindeutig beantwortet, sodass auch entsprechende Konzepte fehlen. Die Ziele der Ganztagsschulentwicklung müssen in Zukunft viel differenzierter vor dem Hintergrund der Entwicklungsaufgaben und Bildungserfahrungen junger Menschen bestimmt werden, allen voran bezogen auf Jugendliche. Hier gibt es eine jugend- und bildungspolitische, teilweise aber auch eine fachliche Lücke in Theorie und Forschung.
Ich bleibe dabei: Ganztagsschulen können im Jugendalter attraktiv sein, wenn sie derartige Konzepte umsetzen – flexibel, orientiert an Mitbestimmung, offen für die Lebenswelten Jugendlicher und an wechselnden Orten, die Offenheit und Dynamik der Angebote vermitteln. Nicht alles muss auf dem Schulgelände stattfinden. Statt eines Schulhofdenkens und einer Schulcampus-Idee von Ganztagsschule habe ich für das Jugendalter viel mehr einen „kommunalen Jugendcampus“ vor Augen. Das Leben im Stadtteil und in der Gemeinde und die Erfahrungen in der Ganztagsschule gehören zusammen und bilden auch ein Zusammenspiel in den pädagogischen Konzepten.
Online-Redaktion: Der Bericht fordert eine "Generaldebatte" zur Zusammenarbeit der Kinder- und Jugendhilfe mit Schulen. Ist diese Debatte nicht gerade in den letzten Jahren und gerade am Thema Ganztagsschule immer wieder geführt worden?
Maykus: Wir haben seit langem viele Debatten geführt, aber nicht wirkungsvoll bezogen auf die Grundsätze und Grundprobleme der Kooperation. Insofern fehlt eine Generaldebatte. Theorie und Forschung haben ausreichende Belege geliefert, die Serviceagenturen „Ganztägig lernen“ haben zum Beispiel in den Bundesländern Materialien für die Praxis erarbeitet, die konkrete Entwicklungen von Konzepten vor Ort anregen können. Es fehlt aber die sozial-, jugend- und bildungspolitische Verständigung über förderliche Rahmenbedingungen, die im Ergebnis Entscheidungen „aus einem Guss“ symbolisieren, also Zusammenhänge erkennen und systematisch angehen.
Da denke ich an Multiprofessionalität der Schulen, die ein regelhaftes Merkmal sein sollte, schulgesetzlich verankert. Ich denke an Ganztagsschulerlasse und Richtlinien, die das auch umsetzen helfen, an die Verankerung schulbezogener Leistungen der Jugendhilfe im SGB VIII, an die Verzahnung von Planungsverfahren der Fachverwaltungen, auch an das Verhältnis von Bund, Ländern und Kommunen in Bildungsfragen. All das beeinflusst die Steuerung und Planung des Bildungsangebots, auch der Ganztagsschulangebote. Hier sind ganz klar Innovationen gefragt. Hinzu kommt die gezielte Vorbereitung von Lehrkräften und sozialpädagogischen Fachkräften auf eine solche Idee von kooperativer Bildungsförderung junger Menschen im Studium, in der Weiterbildung und fortwährend im Praxisalltag an den Schulstandorten und in den kommunalen Netzwerken.
Online-Redaktion: Was sehen Sie als offen an, wenn es um die Kooperation der Kinder- und Jugendhilfe mit Ganztagsschulen geht?
Maykus: Seit Jahrzehnten entstehen unterschiedliche Formen der Kooperation von Schule und Jugendhilfe, wir diskutieren förderliche Bedingungen, sprechen über Qualität und kommen nicht darüber hinaus, dass die erkennbare Expansion nicht zu einer festen Etablierung dieser Zusammenarbeit führt. Altbekannte Probleme der Kooperation von Jugendhilfe und Schulen setzen sich in Ganztagsschulen fort. Mehr Zeit und Raum eröffnen mehr Chancen der Kooperation, zum Beispiel der verschiedenen Professionen, sie führen aber nicht automatisch dazu.
Das kann meiner Ansicht nach nicht an den Lehrkräften und den sozialpädagogischen Fachkräften liegen. Über einen derart langen Zeitraum können sich solche Mängel nicht wiederholen. Nein, es liegt vor allem an strukturellen Erschwernissen. Trotz des Ausbaus von Ganztagsschulen, Bildungslandschaften oder der Inklusion wurden rechtliche Bedingungen der Zusammenarbeit, förderliche Finanzierungsmodelle und die kommunale Steuerungsverantwortung nicht hinreichend verändert. Ohne Strukturreformen zwischen Schule und Jugendhilfe werden wir aber auf Dauer keine neue und nachhaltige Stufe der Qualität erreichen. Das ist eine Grundaussage des Kinder- und Jugendberichts.
Online-Redaktion: Welche Qualitäten kann die Kinder- und Jugendhilfe einbringen?
Maykus: Wir können die Öffentlichkeit für eine jugendorientierte Ganztagsschule schaffen. Wir können auch immer wieder die benannten Strukturfragen und -reformen anmahnen und in einen Entwicklungsdialog der Entscheider bringen. Die guten Beispiele der Kooperation in Deutschland, das Engagement aller Beteiligten dabei und die Erfahrungen der Jugendlichen selber sind dafür das beste Mittel. Den Weg hin zu einer guten Ganztagsschule und Bildungsförderung damit „von unten“ zu befeuern, das halte ich für den wohl wichtigsten Schritt. Gelebte demokratische Erfahrung wäre das Ziel. Da geht mehr in einer Schule, als man oft annimmt. Auch wenn Schulen mit ihrem Auftrag dort gewisse Grenzen haben, können sie ausdrücklich auf solche gesellschaftlichen Erfahrungen vorbereiten und sie selber bieten.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
Kategorien: Bundesländer - Berlin
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