„Heißes Eisen“ Kooperationskultur im Ganztag : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
In der Tagesschule Albisriederplatz in Zürich gelingt die Kooperation des Personals auf Augenhöhe. Schulleiter Bruno Wiedemeier und Javier Cordón Cid, Leiter der Betreuung, verstehen sich als Team.
Ganztagsschulen – in der Schweiz heißen sie Tagesschulen – sind auch im Nachbarland ein „heißes Eisen“. Ihre Zahl wächst in der Eidgenossenschaft in den letzten Jahren, so beispielsweise in Zürich von sechs Schulen im Jahr 2016 auf aktuell 16. So ist der Informations- und Austauschbedarf groß: Wie organisiert eine Gemeinde die Tagesschule? Welche räumlichen Voraussetzungen sind nötig? Wie wird die offene Kinder- und Jugendarbeit eingebunden?
Unter der Überschrift „Tagesschule – 'heiße Eisen' im Fokus“ hat die Pädagogische Hochschule Zürich ein Diskussionsforum aufgelegt, in dem Interessierte mit Praktikern ins Gespräch kommen können. Am 26. Februar lud der Erziehungswissenschaftler Reto Kuster zum Forum „Kooperation auf Augenhöhe aus Sicht der Tagesschule Albisriederplatz“ in die Hochschule ein. „Von Kanton zu Kanton, von Gemeinde zu Gemeinde ist der Tagesschulausbau verschieden‟, sagt Kuster. „In manchen Gebieten sind bis zu 90 Prozent der Schülerinnen und Schüler für die ganztägigen Angebote angemeldet, anderswo müssen die Eltern und die Kinder das Angebot erst kennenlernen.“
Ebenfalls entwickeln soll sich die Kooperationskultur mit der Kinder- und Jugendarbeit unter dem Dach der Schule. An der Tagesschule Albisriederplatz ist die Zusammenarbeit schon weit gediehen, nicht nur, weil die Schule schon vergleichsweise lange eine ganztägige Bildung und Betreuung anbietet. Nachdem der Gemeinderat, das Parlament der Stadt Zürich, 2015 das Projekt „Tagesschule 2025“ beschlossen hatte, gehörte die Schule Albisriederplatz zu den fünf ersten in Zürich, die im Schuljahr 2016/2017 als Tagesschule starteten.
Modell einer offenen Ganztagsschule
Die Schule Albisriederplatz liegt mitten im Hardau-Quartier und nennt sich Schule im Park. Tatsächlich begrenzt überhaupt kein Zaun das Schulgelände, das zum öffentlichen Raum und dem benachbarten Park fließend ist. Die Schule besteht aus drei zusammenhängenden Gebäuden, welche auch die Pestalozzi-Bibliothek und den Mittagsclub Albisriederplatz, in dem die Schülerinnen und Schüler zu Mittag essen, beherbergen. Rund 180 Schülerinnen und Schüler lernen an der Oberstufenschule, begleitet von rund 25 Lehrpersonen und sechs außerschulischen Fachkräften.
Die Tagesschule entspricht dem deutschen Modell einer offenen Ganztagsschule. Die für die Tagesschule für ein Jahr angemeldeten Schülerinnen und Schüler bleiben an vier Wochentagen bis 16 Uhr in der Schule. Eine zusätzliche Betreuung bis 18 Uhr ist möglich. Nach dem Mittagessen aus der eigenen Produktionsküche stehen ihnen verschiedene Freizeit-, Lern- und Erholungsräume zur Verfügung. Sie können musizieren oder Hausaufgaben machen, spielen oder sich ausruhen. Hier begleiten die von der Stadt Zürich bezahlten außerschulischen Fachkräfte unter der Leitung von Schulsozialarbeiter Javier Cordón Cid die Jugendlichen.
Javier Cordón Cid und Schulleiter Bruno Wiedemeier stellten ihre Zusammenarbeit auf dem Diskussionsforum den rund 20 Interessierten vor. Der Schulsozialarbeiter ist seit Gründung der Schule vor elf Jahren dabei, Bruno Wiedemeier kam als Schulleiter, als die Tagesschule startete. „Das Modell hat mich interessiert“, berichtet der Schulleiter. „Dass Schülerinnen und Schüler gut verpflegt werden und über die Mittagszeit hinaus zusammen sind, da musste man dringend etwas machen.“
Kapitän und Erster Steuermann
Der Schulleiter und der Leiter der Betreuung waren und sind einer Überzeugung: Der Nachmittag ist ein integraler Bestandteil der Schule und kein Anhängsel. „Wenn es im Unterricht gut läuft, profitiert die Betreuung am Nachmittag – und umgekehrt“, meint Bruno Wiedemeier. Und dieser Zusammenschluss sollte durch eine enge Zusammenarbeit zwischen Schulleitung, Kollegium und Betreuungspersonal fundiert werden. Javier Cordón Cid und Bruno Wiedemeier verstanden sich dabei von Beginn als Vorbilder.
„Es ist wichtig, dass unsere Büros nebeneinanderliegen“, erklärt der Schulleiter, „damit wir alles sofort besprechen können. Wir sind gewohnt, dass wir einander stören dürfen. Wir diskutieren und suchen gemeinsame Lösungen. Alle spüren im Schulhaus, dass wir beide immer in Absprache handeln.“ An der Schule gelten Bruno Wiedemeier und Javier Cordón Cid als „Kapitän und Erster Steuermann“.
Javier Cordón Cid sieht seine Mitarbeiter und das Lehrerkollegium als „interdisziplinäres Team mit gemeinsamer Verantwortung“, in dem die unterschiedlichen Professionen wechselseitig ihre jeweiligen Stärken und mögliche Defizite anerkennen. Kooperation dürfe aber auch nicht überstrapaziert werden: „Es gibt bei uns eine fachlich begründete, transparente Abgrenzung der Fachbereiche. Das setzt Wissen und Verständnis über deren Hintergründe voraus.“
Neben den täglichen Tür- und Angelgesprächen von Schulleiter und Betreuungsleiter hat die Tagesschule viele feste Austauschanlässe geschaffen. Einmal in der Woche treffen sie sich, einmal monatlich findet die Schulkonferenz statt. Viermal jährlich gibt es eine Steuergruppensitzung mit der Schulbehörde und dreimal jährlich eine Konferenz mit der Aufsichtskommission des Quartiers. Drei Halbtage im Jahr sind sogenannte Qualitätsentwicklungstage, und jährlich gibt es noch einen Teamtag Schulpersonal.
Austausch zur Förderung der Schülerinnen und Schüler
„Wir entwickeln eine gemeinsame Identität und Kultur und verständigen uns über Werte und Normen“, betont Schulleiter Wiedemeier. „Wir wollen die Betreuung und den Unterricht verknüpfen, die Fachbereiche stärken und die Betreuung und den Unterricht professionalisieren, um unsere Schülerinnen und Schüler besser zu fördern. Der Austausch hilft auch, zu einer differenzierten Einschätzung der Schülerinnen und Schüler zu kommen.“
Hand in Hand arbeiten Lehrerinnen und Lehrer und die außerschulischen Fachkräfte außerhalb des Unterrichts, begleiten die Schülerinnen und Schüler zum Beispiel bei Hausaufgaben, Vorträgen und Bewerbungen. Einmal in der Woche verschickt Bruno Wiedemeier eine Informations-E-Mail an Kollegium und Betreuungsteam. In schwierigen Situationen verständigen sich die Lehrkräfte und die Schulsozialarbeiter auf „Time Out“-Angebote: Schülerinnen und Schüler gehen aus dem Unterricht heraus und erhalten Unterstützung durch die Schulsozialarbeit. Schüler, Lehrer und Betreuungspersonen führen den Schulkiosk gemeinsam.
Erschwert werde die Kooperation durch die fehlenden Zeitressourcen. Für Austausch ist kein Stundenkontingent vorgesehen. „Wir halten Sitzungen immer erst ab 16 Uhr ab, bei denen Javier Cordón Cid stellvertretend für das gesamte Betreuungsteam dabei ist“, berichtet Bruno Wiedemeier. „Das ist nicht das Gelbe vom Ei. Es wird aber von allen akzeptiert.“ Auch die ungleiche Bezahlung ist ein Thema. „Da sitzen eine Lehrkraft und eine außerschulische Fachkraft in der Hausaufgabenbetreuung, leisten die gleiche Arbeit, werden aber ungleich bezahlt.“
„Kooperation von morgen“
Diese Probleme kann die Schule Albisriederplatz nicht lösen. Was sie beeinflussen kann, um die Kooperation zu stärken, hat sie getan, und die Wirkung zeigt sich. Javier Cordón Cid erzählt: „Als ich 2009 anfing, waren die Lehrkräfte froh, wenn sie nichts mit mir zu tun hatten, jede Anfrage war schon eine zu viel. Nach und nach haben die Lehrerinnen und Lehrer dann gemerkt, dass sich unsere Arbeit auch positiv auf den Unterricht auswirkt. Heute sind der gegenseitige Respekt und die Wertschätzung da.“
Bruno Wiedemeier gibt ein einfaches Beispiel: „Früher gab es drei getrennte Weihnachtsfeiern – die des Kollegiums, die des Betreuungsteams und die des Hauspersonals. Heute feiern wir alle zusammen. Zu jeder Feier und Veranstaltung sind immer alle eingeladen.“
Doch mit dem jetzigen Stand wollen sich Schulleitung und der Leiter der Betreuung nicht zufriedengeben. Ihnen schweben „Kooperationsbeispiele von morgen“ vor. „Wir beide würden uns wünschen, dass die Schule von uns beiden geleitet würde, gleichberechtigt“, meint Bruno Wiedemeier. Außerschulische Fachkräfte sollten als Klassenassistenten in den Unterricht eingebunden werden. Gemeinsame Weiterbildungen wären wichtig. Auch die Kooperation mit den Eltern könnte vertieft werden.
Die Zukunftswünsche gelten schon dem Nachfolger oder der Nachfolgerin von Bruno Wiedemeier: Der Schulleiter wurde zwei Tage später in den wohlverdienten Ruhestand verabschiedet. Dass er seine Zeit dem Diskussionsforum gewidmet hat, ist für ihn selbstverständlich: „Mir ist die Tagesschule wichtig. Ich halte sie für die richtige Schulform.“
Kategorien: Ganztag vor Ort - Lernkultur und Unterrichtsentwicklung
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