Grenzenloser Ganztag : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Der 3. Brandenburger Kongress der Jugendarbeit warf erneut die Frage auf, ob Ganztagsschulen die Interessen von Kindern und Jugendlichen treffen. Zum Beispiel in Müllrose und Finowfurt.
Prof. Gunda Voigts ist elektrisiert. „Das ist hochinteressant, was du gerade gesagt hast!“, greift die Wissenschaftlerin auf, was Schülerin Kristin aus der Grund- und Oberschule Müllrose gesagt hat. Es ist, als sei in diesem Moment das Thema des Fachforums „Jugend ermöglichen – Eine Einführung in den 15. Kinder- und Jugendhilfebericht“ auf dem 3. Brandenburger Kongress der Jugendarbeit wie in einem Brennglas gebündelt.
Was gehört in die Schule? Was zur Kinder- und Jugendarbeit?
Die 15-Jährige hat in der Diskussionsrunde davon berichtet, dass an ihrer Ganztagsschule die Schülerinnen und Schüler selbst Vorschläge für Arbeitsgemeinschaften machen konnten. „Einige der Vorschläge haben wir abgelehnt“, so Kristin. „Da haben wir gesagt: Das kannst du vielleicht als dein Hobby zuhause machen, aber in die Schule gehört das wirklich nicht hin.“
Gunda Voigts, Professorin für Theorien Sozialer Arbeit und die Praxis der Kinder- und Jugendarbeit an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg, findet die Fragen interessant:
„Was definieren die Schülerinnen und Schüler als 'passend' für die Schule? Was und warum sehen sie bestimmte Dinge als nicht geeignet für die Schule an? Das ist ein Feld, das noch unerforscht ist und wo wir noch wenig wissen.“
In ihren Ausführungen zum 15. Kinder- und Jugendbericht, der im Februar 2017 erschien und dessen Mitautorin sie ist, hatte Gunda Voigts zuvor eine „Entgrenzungstendenz“ der Kinder- und Jugendarbeit konstatiert: zur Schulsozialarbeit, zur Berufsförderung, zu den „Hilfen zur Erziehung“, zur Gesundheitsförderung und eben zur Ganztagsschule. Empirisch sei belegt, dass alles, was mit Schule zu tun habe, für Jugendliche eben Schule sei.
Demokratiebildung als Kernauftrag der Jugendarbeit
Auch der Titel „Grenzenlose Jugend“ des Kongresses am 9. und 10. November 2017 in der Fachhochschule Potsdam deutet darauf hin, dass es heute kaum mehr möglich ist, über Kinder- und Jugendarbeit zu diskutieren, ohne auf das Thema Ganztagsschule zu stoßen.
In Fachforen, Vorträgen, Workshops und Projektpräsentationen informierten sich die rund 500 Teilnehmenden auf dem Kongress, der unter anderem vom Sozialpädagogischen Fortbildungsinstitut Berlin-Brandenburg (SFBB), der Stiftung SPI – Sozialpädagogisches Institut Berlin und dem Landesjugendring Brandenburg organisiert wurde.
Ziel der Veranstaltung war neben dem Fachaustausch, die Vielfalt und Pluralität der Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit in Brandenburg zu zeigen und Impulse für die Arbeit der in der Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit Tätigen zu geben. Bildungsministerin Britta Ernst fand dies gelungen: „Die rund 70 Angebote zeigen eine beachtliche Bandbreite an Themen, die auch die Vielfalt der Kinder- und Jugendarbeit widerspiegeln.“
Für Staatssekretär Dr. Thomas Drescher ist die „Demokratiebildung ein Kernauftrag der Jugendarbeit“, wie er in seinem Vortrag ausführte. „Dazu gehören die Arbeit gegen Fake News und Hate Speech“. Dies könne durch die Bildung über Medien und Medien-Scouts erreicht werden. Das Land werde die Jugendfreizeitstätten entsprechend technisch aufrüsten.
Eine „Repolitisierung“ der Jugendarbeit sei notwendig. „In stadtteilorientierter Jugendarbeit sollten Jugendliche möglichst früh selbst politische Prozesse initiieren können.“ Nicht zuletzt müsse das Land allen Schülerinnen und Schülern den Zugang zur Schulsozialarbeit ermöglichen. „Die Kooperation von Schule und Jugendhilfe ist zwingend notwendig. Formale, nonformale und informelle Bildung sind gleich wichtig“, so Drescher.
Unterrichtsort vs. beteiligungsorientierter Jugendraum
Jessica Reschke ist Schulsozialarbeiterin an der Grund- und Oberschule Müllrose, die zusammen mit den Zehntklässlern Kristin und Max und dem Lehrer Uwe Buscha, der das Fach WAT (Wirtschaft-Arbeit-Technik) unterrichtet, im eingangs erwähnten Fachforum „Jugend ermöglichen“ ihre Schule vorstellte. Die Schulsozialarbeiterin berichtete von ihren individuellen Angeboten und Hilfen für die Schülerinnen und Schüler.
Katrin Kantak von der Landeskooperationsstelle Kobra.net – Kooperation in Brandenburg, die das Forum organisierte, hatte zum einen die Gruppe aus der Grund- und Oberschule Müllrose, zum anderen aus der Schule Finowfurt die Neuntklässlerin Lena, den Zehntklässler Paul und Jörg Bauer vom Jugendzentrum Finowfurt eingeladen.
Eine Frage war, wie es insbesondere in ländlichen Regionen gelingen kann, jugendgerechte Orte in Koppelung von formaler Bildung, nonformaler Bildung und Freizeitangeboten zu gestalten. „Nach wie vor ringen Schule und Jugendhilfe hier um die Frage der Ganztagsschule im Spannungsfeld von tradiertem Unterrichtsort und einem beteiligungsorientiert gestalteten Jugendraum“, so Katrin Kantak. „Und die Verstrickung von formaler, nonformaler und informeller Bildung ist weiterhin umstritten.“
Schülerin Kristin erzählte: „Bei uns auf den Dörfern gibt es nicht viel, was mir machen können. Einige gehen in Sportvereine oder sind bei der Freiwilligen Feuerwehr. Wenn die Schule zu Ende ist, treffen wir uns auf dem Marktplatz oder auf dem Bolzplatz und in unserem Park auf unserem Schulgelände.“ Max kommt jeden Tag mit dem Zug extra aus Frankfurt (Oder) ins 15 Kilometer entfernte Müllrose. Er besucht die Ganztagsschule wegen ihrer Berufs- und Studienorientierung.
Gewachsenes Selbstbewusstsein
Die Ganztagsschule ist vom „Netzwerk Zukunft. Schule + Wirtschaft für Brandenburg“ als „Schule mit hervorragender Studien- und Berufsorientierung“ bis 2019 zertifiziert worden. Lehrer Uwe Buscha erläuterte, die intensive Zusammenarbeit mit den Unternehmen sei das Besondere an der Schule: „Wir haben die Wirtschaft in die Schule gelassen, und wir wollen auch raus, sogar bis Eisenhüttenstadt, um dort Betriebspraktika anzubieten.“
2013 gründete sich an der Schule die SchülerGenossenschaft Müllrose. Sie möchte die Ausbildungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler durch die Übernahme von Verantwortung für einen Geschäftsbetrieb, den Erwerb betriebswirtschaftlicher Fähigkeiten, die Ausbildung in einem den eigenen Fähigkeiten und Neigungen entsprechenden Arbeitsbereich verbessern und zugleich die Persönlichkeit und die Sozialkompetenzen stärken.
Die Arbeitsgemeinschaften sind an der Grund- und Oberschule Müllrose in Trimestern von zwölf Wochen organisiert. Über deren Inhalt haben die Schülerinnen und Schüler mitentschieden, wie Schulsozialarbeiterin Jessica Reschke berichtet. Segeln, Angeln, Tanzen, Theater, Metallbau und Wirtschaftsenglisch stehen auf dem Stundenplan. Auch im Unterricht hat sich eine Menge getan. „Wir sind weg vom Frontalunterricht hin zu Lernbüros“, so Uwe Buscha. „Die Schülerinnen und Schüler arbeiten eigenständig oder bilden Kleingruppen. Sie können sich zu Tests anmelden. Es ist erstaunlich, wie in drei Jahren ihr Selbstbewusstsein gewachsen ist. Ein Kollege meinte gar: Wir haben andere Schüler!“ Kristin sagt einfach: „Der Unterricht macht Spaß.“
„Im Jugendzentrum werden wir anders wahrgenommen“
Jörg „Joschi“ Bauer arbeitet seit 15 Jahren im Jugendzentrum FiFu Club – Träger ist die Evangelische Kirchengemeinde –, das auf dem Gelände der Schule Finowfurt liegt und für Kinder und Jugendliche zwischen zwölf bis 20 Jahren neben Küche und Chill-out-Ecke eine Schrauberwerkstatt, einen Kraftsportraum und ein Solarbootprojekt bietet.
Im Bandprobenraum oder in der Finower „Rocknacht“ sitzt der Drummer auch selbst am Schlagzeug. Seit 2005 gibt es eine Kooperationsvereinbarung mit der Ganztagsschule. „Für mich ist die Nähe zur Schule gut. Ich erreiche die Schülerinnen und Schüler und kann für meine Projekte werben. Wir haben uns in der Zusammenarbeit gut eingependelt.“
Doch sähen nicht unbedingt alle Lehrkräfte die Vorteile. „Nur wenige kommen mal vorbei in den Schülerclub.“ Er meint, dass Schülerinnen und Schüler zu selten gefragt würden, wenn es um ihre Belange geht, und wenn doch, „kommt der kleinste gemeinsame Nenner heraus“. Schülerin Lena sieht den Unterschied des Jugendzentrums zur Schule: „Wir werden da anders wahrgenommen.“
Unterschiedliche Bedingungen
Den 3. Brandenburger Kongress der Jugendarbeit beschloss eine Podiumsdiskussion. Dabei waren Kirstin Gurske, Leiterin des Jugendamts Teltow-Fläming, Thomas Lettow, Vorsitzender des Fachverbandes Jugendarbeit / Jugendsozialarbeit Brandenburg, Sascha Quäck vom Jugendbildungszentrum Blossin und Reinhold Tölke, Leiter des Jugendamts Potsdam.
Thomas Lettow stellte fest: „Die Jugendarbeit ist stark aufgestellt, aber innerhalb des Landes sind die Bedingungen sehr unterschiedlich. Und es ist keine Frage, ob es Schulsozialarbeit oder Kinder- und Jugendarbeit braucht. Wir benötigen beides.“ Kirstin Gurske verwies auf „dünne Busverbindungen“, die Kinder und Jugendliche oft daran hinderten, Angebote wahrzunehmen.
Reinhold Tölke sprach den Fachkräftemangel an, aber auch die Tatsache, dass Kinder und Jugendliche zu wenig an den für sie relevanten Entscheidungen beteiligt werden. „Das wollen wir ändern.“ Sascha Quäck brach eine Lanze für die „Repolitisierung“ der Kinder- und Jugendarbeit: „Demokratie ist langsam und mühselig, aber so wertvoll, dass alle Kinder und Jugendlichen sich so früh wie möglich einmischen sollten.“
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