Ganztagsschule und Kinder- und Jugendhilfe: Viel erreicht, noch viel zu tun : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

"Mehr kann mehr – Wie sich Kinder- und Jugendhilfe und Ganztagsschule gegenseitig bereichern", lautete der Titel eines Fachforums am 4. Juni 2014 auf dem 15. Kinder- und Jugendhilfetag in Berlin. Ob mehr indes wirklich mehr ist, diskutierten vier Experten aus beiden Bereichen in regem Austausch mit dem Plenum.

Allein die Zahlen für Nordrhein-Westfalen sind gewaltig: Von den rund 3.200 Grundschulen im Lande arbeiten inzwischen 3.000 als Offene Ganztagsschulen. In all diesen Schulen ist die Kinder- und Jugendhilfe als Träger des Ganztagsbereichs am Nachmittag als Partner vertreten. In neun von zehn Ganztagsschulen arbeiten Erzieherinnen und Erzieher mit, in 50 Prozent der Ganztagsschulen Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen. Das nordrhein-westfälische Trägermodell hat laut Uwe Schulz vom Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport dafür gesorgt, dass die Kinder- und Jugendhilfe „wirklich in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist“. Das sei eine schöne und wichtige Entwicklung und Dynamik. „Nun geht es darum, dieses Momentum zu bewahren“, forderte Schulz.

Die Auffassung, dass es im vergangenen Jahrzehnt durch den Ganztagsschulausbau gelungen ist, eine so nicht vorhersehbare enge Verknüpfung der beiden Akteure Schule und Kinder- und Jugendhilfe herzustellen, teilten auch die anderen drei Experten des Forums „Mehr kann mehr – Wie sich Kinder- und Jugendhilfe und Ganztagsschule gegenseitig bereichern“, das von Petra Gruner moderiert wurde. Neben Schulz waren das der Vorsitzende des Schulausschusses der Kultusministerkonferenz, Ludger Pieper, Prof. Stephan Maykus von der Hochschule Osnabrück und Roland Kaiser, Dezernatsleiter Jugendhilfe des Kommunalverbands für Jugend und Soziales Baden-Württemberg. Das Quartett war sich auch darin einig: Bei allem Erreichten gibt es auch noch eine Menge zu tun.

Prof. Stephan Maykus, der zu Methoden und Konzepten der Sozialen Arbeit forscht, hatte dies in seiner Eingangsbemerkung aus Sicht der Kinder- und Jugendhilfe bereits auf die Formel „Erfolg und Ermahnungen“ gebracht. Kinder- und Jugendhilfe und Ganztagsschule bereicherten sich in der Tat: Die Beispiele aus der Praxis seien vielfältig, die Akzeptanz sozialpädagogischen Handelns in den Schulen wachse. „Kinder- und Jugendhilfe ist bundesweit mit dem Sport der am meisten vertretene Partner von Ganztagsschulen“, erklärte Maykus. „Der Ganztag führt beide Seiten so intensiv zusammen wie nie zuvor.“

Unterschiedliche Rechtsstrukturen erschweren die Kooperation

Die Schulen werden dem Wissenschaftler zufolge auch angeregt, sozialpädagogische Akzente aufzunehmen. Dies führe aber selten zu einer erkennbaren gemeinsamen Schulentwicklung, es bleibe eher bei einer Bereicherung durch die Anreicherung der Schulorganisation mit Partnern. „Die Potenziale sind nicht ausgeschöpft, vor allem die einer neuen, strukturell nachhaltigen Qualität von Kooperation. Die Expansion führt zu einer vordergründigen Etablierung: Arbeitsbedingungen, Ausstattung der Ganztagsschulen und manchmal noch fehlende ‚echte’ Kooperationsbereitschaft, die mit der Veränderung von Berufsrollen, Haltungen und Settings einherginge, schränken dies ein“, verdeutlichte Maykus.

Es fehle noch an den notwendigen Neujustierungen kommunaler Bildungs- und Erziehungssysteme. Zwar stiegen die Bemühungen, lokale Bildungslandschaften zu etablieren, und es komme zu Berührungen von Bereichen, die „vormals kaum denkbar waren“. Aber die unverändert strukturellen Grenzen zwischen den beiden Partnern Schule und Kinder- und Jugendhilfe – unterschiedliche Zuständigkeiten, Finanzierungen und Gesetze – erschwerten eine neue, nachhaltige Qualität der Kooperationen.

Hier schnitt Stephan Maykus ein Thema an, das auch in der Diskussion des Plenums mit dem Podium später immer wieder aufkam: So mahnte eine Vertreterin des Bayerischen Jugendrings an, es brauche „komplett andere Rechtsstrukturen – die Systeme unterscheiden sich noch zu extrem in ihrem Adressatenbezug, ihrer Infrastruktur und den Verwaltungs- und Finanzierungsstrukturen“. Für Maykus besteht dabei „die Schwierigkeit, dass nichts länder- und bundesweit steuerbar ist“. Man müsse, so ein Vertreter aus Mecklenburg-Vorpommern, auch über Finanzierungsmodelle sprechen, die es kleineren Trägern der Kinder- und Jugendhilfe ermöglichen, mit Ganztagsschulen zu kooperieren.

„Schatz der Ganztagsschule wird langsam gehoben“

Ludger Pieper, Abteilungsleiter „Grundsatzangelegenheiten der Schularten“ in der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft und Vorsitzender des Schulausschusses der Kultusministerkonferenz, zeigte sich in diesem Punkt eher „pessimistisch“. Er begründete dies damit, dass „die Vertagung der Aufhebung des de facto Kooperationsverbots den Ansatz gemeinsamer Planung erschwert“. Also müssten die Dinge weiterhin vor Ort gelöst werden, man solle nicht auf die Hilfe von Bund und Ländern warten.

Für Pieper ist die Kooperation von Ganztagsschule und Kinder- und Jugendhilfe ein „wesentlicher Weg, die Schule zur Gesellschaft zu öffnen“. Für Berlin zeige sich in der alltäglich gelebten Praxis, dass sich diese beiden Partner gegenseitig bereicherten. Dies führe dazu, dass der „Schatz der Ganztagsschule langsam gehoben“ werde: „Wir kommen von der Schulpädagogik zu einem erweiterten Pädagogikbegriff, und es wächst ein ganzheitliches pädagogisches Verständnis.“ Zwar habe man in Berlin seit 2005 nicht alles geschafft, das man sich vorgenommen habe, es sei aber befriedigend zu sehen, was erreicht worden sei, wenn man in Rechnung stelle, wie schwer sich Großsysteme transformieren ließen.

Für Baden-Württemberg fasste Roland Kaiser, Dezernatsleiter des Kommunalverbands für Jugend und Soziales Baden-Württemberg (KVJS), die Entwicklungen in seinem Bundesland zusammen. Die Einbettung des Landesjugendamts in die Kommunen in Baden-Württemberg ermögliche eine größere Nähe zu den örtlichen öffentlichen Trägern der Kinder- und Jugendhilfe und deren Jugendämtern. Der Kommunalverband führe auch verschiedene Förderprogramme für das Land durch, zum Beispiel die Landesförderung für Jugendsozialarbeit an Schulen (Schulsozialarbeit) in Höhe von 25 Millionen Euro jährlich. Bezüglich der Ganztagsschulen habe der KVJS vor kurzem ein gemeinsames Forschungsprojekt zu Jugendhilfe und Ganztagsschule mit Prof. Maykus und dem Institut für soziale Arbeit (ISA) abgeschlossen.

Gemeinsam Ganztagsbildung anstreben

Die Landesregierung bereite gerade eine gesetzliche Regelung der Ganztagsschule im Bereich der Grundschulen und der Grundstufen der Förderschulen vor. Dabei sehe der Gesetzentwurf ausdrücklich eine Zusammenarbeit mit außerschulischen Partnern vor, insbesondere aus Bereichen wie Sport, Musik, Kultur, Jugendarbeit und Jugendhilfe, Umweltschutz und anderen Partnern. Hierfür könnten sich die Schulen die Hälfte der zusätzlichen Lehrerwochenstunden, die ihnen vom Land für den Ganztagsbetrieb zur Verfügung gestellt werden, in Geld ausbezahlen lassen, um sie für Leistungen außerschulischer Partner im Ganztagsbetrieb einzusetzen.

„Aus meiner Sicht wird dadurch in der Tat eine gegenseitige Bereicherung von Schule und Kinder- und Jugendhilfe ermöglicht – sofern das pädagogische Konzept auch gemeinsam erarbeitet wird“, erklärte Kaiser. Die Ganztagsschulen böten der Kinder- und Jugendhilfe die Möglichkeit, frühzeitig Hilfen anzubieten, auf Entwicklungsprobleme reagieren zu können, bevor sie sich verfestigen, und sich Kindern und Eltern in einem Umfeld bekannt zu machen, in welchem sich alle Kinder bewegen und das auch für Eltern weitaus „normaler“ sei, als etwa ein Jugendamt aufzusuchen. Die Kinder- und Jugendhilfe habe wiederum die Erwartung an die Ganztagsschule, dass diese den erweiterten zeitlichen Rahmen für eine bessere Umsetzung des in den Schulgesetzen vorgegebenen Erziehungsauftrags nutze.

Die Kooperation müsse ermöglichen, nicht nur Betreuung, sondern damit untrennbar verbunden Bildungsangebote, wie sie als „Alltagsbildung“ oder Ganztagsbildung bezeichnet würden, zu konzipieren und zu organisieren. Hier könne die Jugendhilfe mit ihren Kompetenzen und Erfahrungen aus Schülerhorten und Jugendarbeit wertvolle Beiträge für die Gestaltung des Ganztags einbringen. Darüber hinaus kann diese Zusammenarbeit laut Kaiser auch einen Beitrag zur Inklusion leisten: Sozialpädagogische Hilfen zur Unterstützung des Erziehungsauftrags von Eltern und Schule wie Schulsozialarbeit, aber auch Hilfen zur Erziehung wie Erziehungsberatung und Soziale Gruppenarbeit könnten in den Ganztag eingebaut werden und Schülerinnen und Schüler unterstützen, für die ansonsten womöglich nur Sonderschulen oder Förderschulen blieben.

Das neue Dritte betonen

Ludger Pieper lobte zum Abschluss des Forums, den „offenen Mut hier zu fordern, die Rechtsstrukturen anzupassen, denn die rechtliche Trennung von Schule und Jugendhilfe stößt in der Tat an Grenzen“. Der KMK-Schulausschussvorsitzende fasste den Prozess der Annäherung und Verzahnung von Schule und Kinder- und Jugendhilfe so zusammen: „Die Entwicklung ist beglückend, es liegt aber noch ein gutes Stück Arbeit vor uns. Wir sind dafür allerdings gut gerüstet, weil die alten ideologischen Positionen geräumt worden sind.“

Stephan Maykus plädierte für die „Betonung eines neuen Dritten, von Bildung in den Stadtteilen und Gemeinden, von der Befähigung junger Menschen für das Leben in einer inklusiven Stadtgesellschaft“. Dem könnten Ganztagsschulen und Kinder- und Jugendhilfe dann jeweils mit ihren Leistungen und auch gemeinsam gerecht werden. „Eine noch größere Bereicherung könnte und muss das Zusammenwirken wohl kaum mehr erzielen.“

 

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