Ganztagsschule im Sozialraum: „Café Ziegler“ in Mülheim : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Ein Fachtag der Serviceagentur „Ganztägig lernen“ NRW in Essen beleuchtete gute Praxisbeispiele der Zusammenarbeit von Ganztagsschulen mit der offenen Kinder- und Jugendarbeit, darunter das „Café Ziegler“ der Karl-Ziegler-Schule in Mülheim an der Ruhr.

„Eigentlich ist unser Gymnasium schon ein Jugendzentrum – nur, dass wir um 16 Uhr Schluss machen.“ Der Satz von Martin Teuber, Schulleiter der Karl-Ziegler-Schule, des einzigen Ganztagsgymnasiums in Mülheim an der Ruhr, hat vor fünf Jahren auf einer Veranstaltung zur Zukunft der Jugendarbeit für „eine kontroverse Diskussion“ gesorgt. Eignet sich die Ganztagsschule hier eine Rolle an, die ihr nicht zusteht? Verdrängt die Ganztagsschule die Kinder- und Jugendarbeit in der Ruhrgebietsstadt? Für Schulleiter Teuber wird genau umgekehrt ein Schuh daraus: Die Ganztagsschule eröffnet der Kinder- und Jugendarbeit neue Chancen. „Damals sagten die Vertreter der Kinder- und Jugendarbeit auch ganz offen, dass sie nur noch 10 Prozent der Kinder und Jugendlichen erreichten – und diese Zahl sei noch hochgegriffen“, erinnert er sich.

Heute steht insbesondere das seit Schuljahresbeginn auf dem Schulgelände eröffnete „Café Ziegler“ für eine funktionierende Kooperation von Ganztagsschule und Kinder- und Jugendarbeit. Deshalb lud die Serviceagentur „Ganztägig lernen“ Nordrhein-Westfalen die Karl-Ziegler-Schule und ihr „Café Ziegler“ auch zum Fach- und Praxistag „Ganztagsschulen und Bildungsakteure in Kooperationen – Perspektiven der Sekundarstufe I“ ein.

Außenansicht des Unperfekthauses in Essen
Ausgebuchter Fachtag im Unperfekthaus Essen. © Redaktion

Das Interesse an diesem Fach- und Praxistag am 13. Juni 2018 im Unperfekthaus Essen war hoch. Mit knapp 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmern war die Veranstaltung ausgebucht. Nicht alle Teilnahmewünsche konnten erfüllt werden, wie die Co-Leiterin der Serviceagentur Hiltrud Wöhrmann berichtete. Dass die Nachfrage bei diesem Thema groß bleibt, wundert sie nicht: „Der 15. Kinder- und Jugendbericht hat gezeigt, dass noch viele Schritte zu gehen sind. Die Kooperationen mit der Kinder- und Jugendarbeit bleiben eine dauerhafte Herausforderung und sind ein stetiger Prozess, auch mit Stolpersteinen.“ Eine „Ganztagsbildung“ kann aus ihrer Sicht nur in der gemeinsamen Verantwortung von Schule und Kinder- und Jugendhilfe gelingen.

Bildungspotenziale „lesen“

Welche Voraussetzungen eine gute Zusammenarbeit befördern, erörterte Dr. Anika Duveneck zum Auftakt des Fachtages im Impulsvortrag „Gemeinsam Bildung gestalten“. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Futur der Freien Universität Berlin brachte ihre Erfahrungen aus der kommunalen Netzwerkarbeit ein und erinnerte an die Leipziger Thesen des Bundesjugendkuratoriums. „Als 2002 der Satz 'Bildung ist mehr als Schule' fiel, war das noch umstritten“, erklärte Dr. Anika Duveneck. „Heute ist ein weiter Bildungsbegriff Konsens. Alle wollen eine weite Bildung, sie scheint aber oft nicht leistbar zu sein.“

Ein Grund dafür, dass Schule und Kinder- und Jugendarbeit mancherorts schwer zusammenfinden, sei neben knappen Ressourcen die Unkenntnis der Bildungspotenziale der Kinder- und Jugendarbeit. Duveneck brachte den von dem Soziologen Thomas Brüsemeister geprägten Begriff der „Literalität lokaler Bildungslandschaften“ ein. Die Partner müssten ihr eigenes Bildungsangebot und das der anderen „lesen“ und verstehen können: „Dazu braucht es Anlässe für Austausch. Die Ganztagsschule ist ein wichtiger Anlass.“

Schülerinnen und Schüler beim Schachspiel
Frei gestaltbare Zeit ist Schülerinnen und Schülern wichtig. © Britta Hüning

Wichtig sei zweitens „Relational Agency“, Handlungsfähigkeit in sozialen Beziehungen. Ein gemeinsames Problemverständnis müsse gefunden, eigene Anliegen gezielt definiert und gemeinsame Ansätze entwickelt werden. „Die Figur eines 'Kümmerers' ist mit dieser anspruchsvollen Aufgabe oft überfordert“, so Duveneck. Einzelpersonen könnten zwar einen Prozess initiieren, aber ohne veränderte Strukturen gäbe es keine Kooperation.

Bildungsbüros unterstützen Vernetzung

In Nordrhein-Westfalen können Ganztagsschulen und ihre Partner auf die Unterstützung der Regionalen Bildungsbüros bauen. Das Ministerium für Schule und Bildung hat allen Kreisen und kreisfreien Städten einen Kooperationsvertrag angeboten, der eine Kooperationsstruktur auf Dauer sicherstellen und unterstützen soll. Dazu ist in den Regionen ein Lenkungskreis geschaffen worden, in dessen Auftrag Regionale Bildungsbüros die Kooperation zwischen Bildungsakteuren vor Ort systematisch fördern.

Das Regionale Bildungsbüro des Kreises Siegen-Wittgenstein definiert seine Ziele zum Beispiel so: „Wir wollen, dass die Bildungsbiografien unserer Kinder und Jugendlichen erfolgreich verlaufen und ihre Integration in die örtliche Gemeinschaft gelingt. Durch das Zusammenwirken vieler Akteure in der Bildungsregion Siegen-Wittgenstein können die vorhandenen Stärken gebündelt, vor Ort bewährte Konzepte schneller in der gesamten Region verbreitet und gemeinsam neue Ideen entwickelt werden.“

Wie wichtig der Austausch ist, zeigte sich just in der anschließenden Diskussion: Viele der Teilnehmenden erlangten erst hier Kenntnis von den Bildungsbüros.

Partner mit unterschiedlichen Kompetenzen

Schülerinnen und Schüler im Café
Das Café Ziegler ist ein Jugendcafé für Kinder und Jugendliche ab 9 Jahren. © Lisa Gliem / Café Ziegler

Vier Praxisforen dienten schließlich der inhaltlichen Vertiefung. Eines davon steht in besonderer Weise für die Kooperation von Ganztagsschulen mit der offenen Kinder- und Jugendarbeit: Für die Karl-Ziegler-Schule und ihr „Café Ziegler“ waren Schulleiter Martin Teuber, Ganztagskoordinator Jens Schuhknecht, die Sozialpädagogin Lisa Gliem und der Sozialpädagoge Thorsten Lersch in die Nachbarstadt Essen gekommen. Das gebundene Ganztagsgymnasium mit rund 900 Schülerinnen und Schülern hat an drei Wochentagen den Ganztag rhythmisiert, wobei an allen Wochentagen noch Arbeitsgemeinschaften auf die Schülerinnen und Schüler warten – oder eben das Café Ziegler, das im Untergeschoss der Mensa seine Türen von 11.30 Uhr zunächst nur für die Gymnasiasten und ab 13.30 Uhr für alle Kinder und Jugendlichen im Innenstadtbereich öffnet – bis 20 Uhr.

„Wir sind ein Ort des leistungsorientierten und partnerschaftlichen Lernens“, beschreibt Martin Teuber seine Schule, „wir verstehen uns aber auch als Lebensort.“ Daher wird der Ganztag eben nicht als „Anhängsel“ des Unterrichts verstanden, ergänzt Ganztagskoordinator Schuhknecht. „Wir bringen unterschiedliche Akteure und Kompetenzen unter dem Dach der Schule zusammen und verknüpfen alles mit dem Unterricht. Bestimmte Dinge kann die Schule nicht leisten, da braucht es Partner.“

Ein Partner ist die Caritas Mülheim, die auch das im Oktober 2017 eröffnete „Café Ziegler“ mitfinanziert, neben Landesmitteln und Mitteln der Mülheimer Entsorgungsgesellschaft. „Es ist ein niederschwelliges Angebot der Kinder- und Jugendarbeit, mit dem auch Schülerinnen und Schüler erreicht werden, die ansonsten eine Jugendfreizeitstätte wohl nicht aufsuchen würden“, erläutert der Schulleiter. Es sei an der Schule anfangs nicht unumstritten gewesen, „auch weil es dem Kollegium unbekannt war.“ Nur mit einer Stimme Mehrheit hatte die Schulkonferenz vor zwei Jahren für das Projekt gestimmt. Ganz wichtig sei gewesen, dass die außerschulischen Pädagoginnen und Pädagogen dann bei allen Konferenzen, einschließlich der Lehrerkonferenz, anwesend waren – um klar zu signalisieren: „Die gehören dazu“.

Modellprojekt für die Kooperation mit der Kinder- und Jugendarbeit

Schon in den Sommerferien boten Lisa Gliem und Thorsten Lersch, die bei der Caritas angestellt sind, ein Sommerprogramm mit Ausflügen an. Im vergangenen halben Jahr haben sie Angebote für Musik, Technik, Filmnachmittag, Nerd-AG, Minecraft-AG und Spiele – „Welche für's Köpfchen, nicht nur 'Uno' oder 'Mensch, ärgere dich nicht!'“, wie Lersch betont – und zusammen mit der Schule eine Theater-AG auf die Beine gestellt.

Sarah Spannruft und Armin Pullen
Sarah Spannruft (l.) und Armin Pullen © Redaktion

Wesentlich findet Lisa Gliem, dass „wir anders mit den Schülerinnen und Schülern reden können als die Lehrer“. Probleme und Sorgen können zur Sprache kommen, und „das wirkt sich wiederum auf die Schule aus“. Ganztagskoordinator Jens Schumacher bestätigt: „Wir befruchten uns gegenseitig.“ Interessant findet Thorsten Lersch, wie sich im Café Ziegler „die Altersgruppen vermischen“. Dass sich etwas verändert, merkt Schulleiter Teuber auch auf seinem Schreibtisch: „Ich bekomme neuerdings Bewerbungen von Studierenden der Sozialen Arbeit.“

Das „Café Ziegler“ ist ein dreijähriges Modellprojekt. Der Forschungsverbund TU Dortmund/ Deutsches Jugendinstitut München hat für anderthalb Jahre die wissenschaftliche Begleitung übernommen, unter der Frage „(Wie) Können Schule und offene Kinder- und Jugendarbeit mittels eines Angebots am Ort Schule gemeinsam verbesserte Bildungsgelegenheiten für Kinder und Jugendliche schaffen?“ 2019 werden die Ergebnisse vorliegen. Alle Beteiligten hoffen, dass das Projekt weiter so viel Zuspruch finden und es auch danach weitergehen wird.

„Wir haben einen grundlegenden Bildungsauftrag“

Die Perspektive von Kindern und Jugendlichen haben Sarah Spannruft und Armin Pullen von der Serviceagentur „Ganztägig lernen“, die im Institut für soziale Arbeit in Münster arbeitet, bereits in ihrer Untersuchung „Kinder und Jugendliche im Mittelpunkt“ betrachtet. Seit Sommer letzten Jahres haben sie sieben Gruppengespräche mit 32 Kindern und Jugendlichen in Schulen verschiedener Schulformen und in Jugendtreffs durchgeführt. „Es ging um den Stellenwert und die Bedeutung der Ganztagsschule“, erläutert Sarah Spannruft, „um Freizeitinteressen, Zeitautonomie und die Vereinbarkeit von Familie und Freizeit.“

Aus den Gesprächen haben sie 17 Aussagen herausgefiltert, die ganz verschiedene Sichtweisen deutlich machen. So sagt ein Schüler: „Wenn man wirklich Hobbys hat, da braucht man wirklich viel Zeit für. Das hat in der Schule sowieso nichts zu suchen.“ Ein anderer: „Ich hab Zeit, aber ich sag mal so, ich bin zu faul, um hinzugehen und mich da anzumelden.“ Eine Schülerin wiederum meint: „Ich würde auch zwei, drei Jahre mehr Schule nehmen, damit ich es dann entspannt habe.“

Für Schulleiter Martin Teuber sind das keine überraschenden Aussagen: „Das kennen wir alle aus dem Alltag.“ Ihm sei es ein ernstes Anliegen, „diejenigen zu erreichen, die sich bisher nicht in den Angeboten wiederfinden. Wir haben einen grundlegenden Bildungsauftrag.“

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