Ganztag mit Raum für selbstbestimmtes Agieren : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Wie können im Ganztag die Kinderrechte verwirklicht werden, besonders für die 6- bis 12-Jährigen? Antworten gibt Prof. Ludger Pesch, Direktor des Pestalozzi-Fröbel-Hauses und Vorsitzender der „Initiative für Große Kinder“.
Online-Redaktion: Wo sehen Sie die Aufgaben des Pestalozzi-Fröbel-Hauses (PFH), dessen Direktor Sie seit 2018 sind?
Prof. Ludger Pesch: Ich antworte mit einer kurzen Passage aus unserem Leitbild, weil ich finde, dass diese Aussagen es genau treffen: „Die Impulse der Gründerinnen des PFH um Henriette Schrader-Breymann, eine Ausbildung für sozialpädagogische Berufe und darauf bezogene sozialpädagogische Einrichtungen zu schaffen, haben neue Antworten auf gesellschaftliche Fragen angeregt. Heute sehen wir als Verbund von Ausbildung und Praxis unsere Aufgabe darin, gute Entfaltungsbedingungen und Teilhabemöglichkeiten für alle Menschen in unserem Wirkungsbereich zu schaffen. Das schließt die Stellungnahme zu gesellschaftspolitischen Themen ein.“
Online-Redaktion: Ihr Blick richtet sich also stets auf den konkreten Umgang mit Menschen…
Pesch: Das ist genau der Praxisbezug, den wir stets herstellen wollen. Und das vom Kleinkind bis hin zur Großmutter im Familienzentrum. Wir sind eben nicht nur Ausbildungseinrichtung, sondern arbeiten mit Menschen aller Generationen in ihrem Alltag, darunter auch als Träger des Ganztags in neun Einrichtungen. Wobei ich gleich zu Beginn unseres Gesprächs darauf hinweisen möchte, dass wir vom Ganztag und nicht von der Ganztagsschule sprechen. Dass beide Begriffe auch von Expertinnen und Experten oft synonym verwendet werden, konnte ich noch jüngst auf einem bundesweiten Ganztagskongress erleben. Als Pestalozzi-Fröbel-Haus möchten wir uns einem breiteren Ideenraum, nicht nur der Schule und damit letztlich dem Unterricht widmen.
Online-Redaktion: Die Bedürfnisse „Großer Kinder“ hat die gleichnamige Initiative im Blick, deren Mitbegründer und Vorsitzender Sie seit drei Jahren sind. Um wen kümmert sich die Initiative und mit welchen Zielen?
Pesch: Als „Große Kinder“ bezeichnen wir die 6- bis 12-Jährigen. Jene also, die in Berlin und Brandenburg die Grundschule vom ersten bis zum sechsten Schuljahr besuchen. Kinder beginnen in dieser Phase, sich stärker aus der Orientierung auf die Erwachsenen zu lösen und mit Gleichaltrigen zu interagieren. Letzteres tun sie natürlich auch schon in der Kita, doch in der Grundschule gewinnt diese Entwicklung an Dynamik. Wir wussten lange sehr wenig zu dieser Altersgruppe, die Forschung richtete sich eher auf das frühe Jugendalter, wie es etwa seit Jahrzehnten von der Shell-Jugendstudie beleuchtet wird. Inzwischen gibt es eine Reihe von empirischen Studien, wie zum Beispiel die World Vision-Kinderstudie von Sabine Andresen und Klaus Hurrelmann. Wir wollen dazu beitragen, die gute Datenlage zu nutzen, um auf die Bedürfnisse dieser Altersgruppe noch mehr aufmerksam zu machen.
Online-Redaktion: Welche Bedürfnisse sind in dieser Altersgruppe besonders wichtig und sollten auch im Ganztag berücksichtigt werden?
Pesch: An oberster Stelle steht die Begegnung mit anderen Kindern. Immer wieder, in persönlichen Gesprächen, aber auch in Studien, formulieren die meisten der „Großen Kinder“, dass sie gerne zur Schule gehen – weil sie dort ihre Freunde treffen. Nebenbei gesagt, eine für mich persönlich immer wieder überraschende Aussage. Diese sozialen Bezüge und vieles, was passiert, das der Beobachtung der Erwachsenen verborgen bleibt, trägt wesentlich zur Entwicklung der Eigen- und Selbstständigkeit bei.
Online-Redaktion: Da bietet der Ganztag doch wunderbare Möglichkeiten?
Pesch: Ja, vorausgesetzt der außerunterrichtliche Teil nicht von A bis Z von den Erwachsenen durchgetaktet ist, sondern Raum für selbstbestimmtes Agieren und vor allem auch Rückzugsorte bietet. Wir erinnern gerne daran, dass Aufsicht nicht bedeutet „auf Sicht“. Kinder dürfen, ja sollen sogar auch einmal unbeobachtet sein. Kinder müssen sich ausprobieren können. Wir sind überzeugt, dass es da durchaus noch Luft nach oben im Ganztag gibt. Ich will aber auch einen Nachteil des Ganztags nicht verschweigen. Nach der halbtägigen Regelschule organisierten sich Kinder oft selbst im informellen Raum, sprich sie verabredeten sich eigenständig zur Freizeitgestaltung. Kindern, die heutzutage den Ganztag nicht nutzen, fällt es nun natürlich schwer, Gleichaltrige außerhalb der Schule zu finden.
Online-Redaktion: Welches Bedürfnis folgt auf Platz zwei?
Pesch: Bewegung und Geschicklichkeit. Es kommt nicht von ungefähr, dass Kinder dieses Alters nicht spazieren gehen. Sie wollen rennen, hüpfen, springen, ihrem intrinsisch motivierten Bewegungsdrang folgen. Das geht natürlich auch schon einmal mit dem Risiko einher, sich weh zu tun oder zu verletzen. Dennoch sollten Schulen und Ganztag diese Bewegungen wie etwa Skaten nicht unterbinden. Eine riskante Bewegung ist anregend, fördert die Motorik und die Entwicklung. Auch deshalb sollte das starre Mobiliar alter Zeit heute ausgedient haben. Kinder, die viele Medien konsumieren, können schaukelnde Stühle in einem bewegungsreichen Unterricht benötigen. Ein guter Ganztag berücksichtigt das, er beendet das Stillsitzen.
Online-Redaktion: Platz drei der Bedürfnis-Rangliste?
Pesch: Die Selbstbestimmung und Beteiligung. Mit der kognitiven Reifung nimmt der Wunsch zu, selbstbestimmt entscheiden zu können. Da erzähle ich gerne eine Anekdote aus meiner Kindheit: An meinem achten Geburtstag durfte ich meiner Erinnerung nach erstmals mitentscheiden, was bei der Feier gemacht wurde, ich hatte mir unter anderem einen Trickfilm gewünscht. Kurz bevor meine Freundinnen und Freunde kamen, stellte ich einen Kuchen aufs Buffet. Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen, dass ich da innerlich jubilierte: „Jetzt bin ich groß“. Die Lebensphase, in der Kinder unter anderem Lesen und Schreiben lernen, ist ein großer und bedeutsamer Schritt zur Selbstständigkeit, ebenso wie die Entwicklung individueller Kompetenzen und die Wahl der Hobbies.
Diese Schritte sollten Erwachsene unterstützen, zu Hause und im Ganztag. Das Recht der Kinder auf diese Unterstützung ergibt sich auch aus der UN-Kinderrechtskonvention. Kinderrechte sind Menschenrechte. Wir Erwachsenen stehen in der Pflicht, aktiv Kindern ihren Anspruch auf, Förderung, Schutz und Partizipation zu gewähren. Nun gibt es das Argument, dass Kinderrechte nicht ins Grundgesetz aufgenommen werden müssten, da sie ja mit der Verfassung automatisch alle Grundrechte haben. Doch wir plädieren dafür, durch die Aufnahme der Kinderrechte deren Beachtung anzuheben. Wir bräuchten die Betonung der Rechte nur dann nicht mehr, wenn wir bereits im Paradies lebten.
Online-Redaktion: Was bedeutet das für den Ganztag?
Pesch: Er muss so strukturiert sein, dass er den Bedürfnissen der Kinder gerecht wird. Gerade der sozialpädagogische Bereich sollte von der Intention geleitet werden, einen kinderrechtsbasierten Alltag zu entwickeln. Nachmittagsformen, die eher einer Kinder-Volkshochschule ähneln, sehen wir kritisch. Es reicht nicht, ein enges Bildungsverständnis in eine hübschere Form zu gießen. Aber wir sagen auch, dass der Ganztag keine bloße Freizeiteinrichtung zum Chillen ist. Es kommt auf die Mischung aus informeller, formaler und nonformaler Bildung an. Wenn das gelingt, sprechen wir von gutem Ganztag.
Online-Redaktion: Jüngst endete die Veranstaltungsreihe „Ganztag im Interesse der Kinder – Kinderrechte für Große Kinder verwirklichen“. Was sind Ihre zentralen Erkenntnisse?
Pesch: Wir haben diese Veranstaltungsreihe zusammen mit dem Deutschen Kinderhilfswerk durchgeführt, um uns in die Ganztagsdebatte einzubringen – mit der Perspektive auf die Bedürfnisse und Rechte der „Großen Kinder“. Die drei Veranstaltungen, die dem Publikum die Diskussion mit jeweils drei Expertinnen und Experten ermöglichten, waren thematisch fokussiert auf die drei zentralen Aspekte Förderung, Beteiligung und Kinderschutz entlang der UN-Kinderrechtskonvention.
Um mich nicht zu wiederholen, möchte ich auf zwei Gedanken aus dem letzten Gespräch zum Thema Schutz verweisen: Zum einen müssen wir dem Thema „Schutz im medialen Raum“ einen Stellenwert geben, auch so, dass wir Kinder fit machen, im Internet für sie Nützliches zu finden. Denn sie nutzen Medien sowieso. Schutz heißt aber auch, im pädagogischen Alltag Formen von Diskriminierung und Benachteiligung zu identifizieren und diesen entgegenzuarbeiten. Denn auch die Kinderwelt ist nicht immer ein „Bullerbü“.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
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