Die Ganztagsschule im Studium der Sozialen Arbeit : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
An der Hochschule für angewandte Pädagogik in Berlin werden Studierende der Sozialen Arbeit für Ganztagsschulen ausgebildet. Prof. Milena Riede über den dualen Studiengang, der intensive Praxiserfahrungen ermöglicht.
Online-Redaktion: Frau Prof. Riede, Sie befassen sich mit Gemeinwesenarbeit, Sozialraumorientierung und Schule im Sozialraum. Welchen Platz nimmt hier die Ganztagsschule ein?
Milena Riede: Die Ganztagsschule wird ja nicht nur von Lehrkräften, sondern auch von sozialpädagogischen Fachkräften und von Partnern im Sozialraum mitgestaltet. Dadurch hat sie das Potenzial, stärker in diesem Sozialraum verankert zu sein als Halbtagsschulen. Wenn Kinder den ganzen Tag in der Schule verbringen, muss es darum gehen, unterschiedliche Möglichkeitsräume für ihre persönliche Entwicklung zu bieten. Diese können auch außerhalb des Schulgebäudes im Sozialraum liegen. Nicht alle Schulen haben ansprechende und große Hof- und Freizeitbereiche, und gerade da sind Aktivitäten an interessanten Orten außerhalb umso bedeutsamer.
Die Ganztagsschule gewinnt als Sozialisationsinstanz an Bedeutung. Schulen werden ja auch immer stark von ihrem Umfeld und den sozialräumlichen Gegebenheiten geprägt. Damit Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung bestmöglich gefördert werden können, ist außerdem bei der Gestaltung von Übergängen eine enge Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Einrichtungen im Bildungsraum wichtig. Es gibt bundesweit gelungene Beispiele für Bildungsverbünde und Netzwerke, die auch die Strukturen zur Förderung von Bildungsgerechtigkeit verbessern.
Online-Redaktion: Können Sie ein Beispiel nennen?
Riede: Es gibt beispielsweise in den USA die Community Schools, die neben der Unterrichtsfunktion auch weitere Funktionen übernehmen, als generationenübergreifender Bildungsort, als Treffpunkt am Nachmittag in der Nachbarschaft. Da bestehen vielfältige Chancen, mit niedrigschwelligen Angeboten Eltern und Community einzubinden. Es sind auch Schnittmengen zwischen Schulen und Stadtteilzentren denkbar, was ich für sehr interessante Ansätze halte und wo es noch vielfältige Potenziale für lebendige Lernprozesse im Sozialraum gibt.
Online-Redaktion: Wie kam das Thema Ganztagsschule in ihren Studiengang „Soziale Arbeit“?
Riede: Das hängt mit der Gründung unserer Hochschule im Jahr 2013 zusammen. Hauptkooperationspartner der Hochschule ist die Technische Jugendfreizeit- und Bildungsgesellschaft (tjfbg). Diese gemeinnützige GmbH war Mitideengeber und Mitinitiatorin der Hochschule. Man hatte dort festgestellt, dass an den Schulen mehr pädagogisch qualifiziertes Personal gebraucht wird. Und daher war unser Studiengang „Soziale Arbeit mit Schwerpunkt Ganztagsschule‟ auch von Beginn an dabei.
Online-Redaktion: Wie ist der Studiengang aufgebaut?
Riede: Es ist ein grundständiger Studiengang Soziale Arbeit, das heißt, die Absolventinnen und Absolventen können in allen Bereichen der Sozialen Arbeit tätig werden. Es handelt sich um ein duales Studium: Die Studierenden sind an drei Wochentagen in der beruflichen Praxis an einer Ganztagsschule. Wir haben uns für dieses Modell und nicht für die sonst üblichen Blockseminare entschieden, weil so die Integration in die Schulteams und der Aufbau von Beziehungen zu den Schülerinnen und Schülern erleichtert werden. In der Praxis hat sich das sehr bewährt. Es ist für die Studierenden zwar eine Herausforderung, ermöglicht aber eine wirklich enge Verbindung von Theorie und Praxis. Wir können zum Beispiel die Studierenden mit Praxisaufgaben in die Schulen schicken und die Ergebnisse dann sehr zeitnah besprechen.
Online-Redaktion: Was genau lernen die Studierenden?
Riede: Das Studium umfasst insgesamt sieben Semester mit fünf Modulblöcken. Im ersten Modulblock geht es ganz allgemein um Soziale Arbeit und Sozialpädagogik, um Geschichte und Theorien, Arbeitsfelder, Zielgruppen, Konzepte und Methoden. Dann gibt es den Block „Bezugswissenschaften“. Hier werden die Studierenden mit grundlegenden sozialwissenschaftlichen und pädagogischen Disziplinen vertraut gemacht, die für die Professionalisierung wichtig sind: Pädagogik, Soziologie, Sozialmedizin und Psychologie.
Weiterhin gibt es den Modulbereich „Rechtliche und organisatorische Grundlagen‟, wo unter anderem die sozialpolitischen und sozialrechtlichen Rahmensetzungen vermittelt werden. Ein weiteres Modul umfasst „Forschungsmethoden und wissenschaftliches Arbeiten‟. Am interessantesten ist jedoch der spezifische Modulbereich „Ganztagsschule‟, bestehend aus sechs Seminaren, die folgende Inhalte haben: Sprachförderung und Kommunikation, Sozialpädagogisches Handeln in der Ganztagsschule und Schulsozialarbeit, Bildung, Inklusion und Digitalität, Schule im Sozialraum und Bildung für eine nachhaltige Entwicklung.
Online-Redaktion: Sie arbeiten mit 30 Ganztagsschulen zusammen. Wie läuft die Zusammenarbeit?
Riede: Unsere Kooperationspartner sind überwiegend Träger der Kinder- und Jugendhilfe. Wir erwarten von ihnen, dass sie eine qualifizierte Fachkraft für die wöchentliche Fachanleitung der Studierenden bereitstellen, die auch ermöglicht, dass die Studierenden gut in den Schulen und im Team eingebunden werden. Die Träger erwarten umgekehrt Engagement und Kooperationsbereitschaft von den Studierenden. Hierbei sind die meisten Studierenden in der sogenannten Ergänzenden Förderung und Betreuung in den Ganztagsschulen eingesetzt. Nach dreieinhalb Jahren Studium besitzen sie dann neben einem Studium der Sozialen Arbeit auch bereits dreieinhalb Jahre Berufserfahrung.
Online-Redaktion: Welche Erfahrungen haben die Studierenden sammeln können?
Riede: An den Ganztagsschulen ist die Soziale Arbeit sehr unterschiedlich verankert. Auch wie sich die Teams zusammensetzen und wie miteinander umgegangen wird, ist ebenfalls sehr verschieden. Eine pauschale Antwort ist da nicht möglich. Was ich sagen kann: Die multiprofessionelle Zusammenarbeit ist für alle Beteiligten eine Herausforderung. Es braucht Zeitressourcen für den fachlichen Austausch, damit die verschiedenen Professionen sich abstimmen, gemeinsame Angebote und vor allem ein gemeinsames Bildungsverständnis entwickeln könnten.
Online-Redaktion: Inwiefern bedeuten Ganztagsschulen neue Anforderungen für die sozialpädagogische Ausbildung?
Riede: Als spannend empfinde ich, dass die Ganztagsschulen von multiprofessionellen Teams gestaltet werden. Dies ist ein sehr wichtiger Punkt für das Professionsverständnis und damit natürlich auch für die Ausbildung. Die eigene Profession muss sich auch immer mit den Kolleginnen und Kollegen und deren Kompetenzbereichen auseinandersetzen. Man muss wechselseitig die Kompetenzen der Anderen anerkennen und sich mit der eigenen Arbeit auseinandersetzen. Dazu sind aus meiner Sicht Netzwerkkenntnisse sinnvoll und nützlich sowie Wissen über Erfolgsfaktoren für gelingende Kooperationen.
Da die Soziale Arbeit an der Schnittstelle zwischen Schule und Jugendhilfe arbeitet, müssen beide Systeme in ihrer jeweiligen Logik verstanden werden. Die Studierenden müssen Abläufe und Prozesse kennen. Ganztagsschulen werden für die Kinder und Jugendlichen zu einem wichtigen Ort für die Entwicklung persönlicher und sozialer Kompetenzen. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass alle Fachkräfte ein differenziertes Sensorium benötigen, um Kinder und Jugendliche dabei gut unterstützen und begleiten zu können. Angesichts der intensiven Nutzung digitaler Medien halte ich aber auch andere kreative oder erlebnispädagogische Angebote für sehr wichtig, um neue Impulse zu setzen und beispielsweise Gemeinschaftserlebnisse zu ermöglichen.
Online-Redaktion: Welche Chance bietet die Ganztagsschule für die Kinder- und Jugendhilfe?
Riede: Viele Akteure der freien Jugendarbeit haben sich zur Kooperation mit Ganztagsschulen entschlossen. Dadurch haben sie bessere Chancen, nicht nur eine kleine soziale Nische zu bedienen, sondern mit ihren Angeboten größere Gruppen von Kindern und Jugendlichen zu erreichen. Betrachten wir den Bereich der Hilfen zur Erziehung, sieht man auch hier, dass die Kooperation mit der Schule einen größeren Stellenwert einnimmt.
Probleme, die beispielsweise die Hilfen zur Erziehung bearbeiten sollen, werden mit höherer Wahrscheinlichkeit im schulischen Kontext bemerkt. Dort frühzeitig und mit niedrigschwelligen Angeboten anzusetzen, halte ich für sehr günstig. Es gibt auch schon Modelle, Angebote der Kinder- und Jugendhilfe wie die soziale Gruppenarbeit in Schulen zu nutzen. Auch wenn dafür noch keine Forschungsbefunde vorliegen, scheint mir da ein zukunftsfähiges Modell der Verknüpfung zu entstehen.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
Kategorien: Kooperationen - Lokale Bildungslandschaften
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