Die AWO in der Ganztagsschule : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Die Arbeiterwohlfahrt (AWO) gehörte von Beginn an zu den wichtigsten Partnern von Ganztagsschulen. Ein Interview mit Dieter Eckert vom AWO Bundesverband zur Qualität der Kooperation.
Online-Redaktion: Herr Eckert, die AWO gehörte zu den ersten Kooperationspartnern von Ganztagsschulen. Wie kam es dazu, und welche Aufgaben übernimmt die AWO?
Dieter Eckert: Die AWO ist ein geschichtsbewusster Wohlfahrtsverband, der sich seit seiner Gründung 1919 immer für die Chancengerechtigkeit durch Bildung eingesetzt hat. Für uns ist Bildung eine zentrale Ressource für die individuelle Lebensführung und ein Prozess zur Entwicklung einer eigenständigen Persönlichkeit. Bildung ermöglicht für den Einzelnen ein selbstbestimmtes Leben und ist die Grundlage, um gesellschaftliche sowie politische Prozesse mitzugestalten. Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass der Zugang zu Bildung allen Menschen offen steht.
Und zur Verwirklichung dieses Anspruchs kommt der Ganztagsschule eine zentrale Bedeutung zu, denn sie soll ein Ort des gemeinsamen Lernens und Lebens aller Schülerinnen und Schüler sein. Ihre ganzheitliche Ausgestaltung erleichtert eine enge Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule, sichert gelingende Übergänge im Bildungsverlauf und schafft Chancengleichheit für alle jungen Menschen.
Dies verpflichtet die AWO, ihren Beitrag als Jugendhilfeträgerin offensiv in die Ganztagsschule einzubringen. Dazu unterstützen unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Schulen bei der konzeptionellen Umsetzung ihres Programms, stellen das Personal für den Nachmittag an und koordinieren es, sorgen für Urlaubs- und Krankheitsvertretungen und organisieren den Mittagstisch und ein qualifiziertes Ferienangebot.
Online-Redaktion: Wer sich die Organisationsform der AWO ansieht, könnte meinen, dass es die eine AWO gar nicht gibt. Sie sind föderal organisiert. Fällt es da eigentlich leicht, Konsens über Fragen wie die Ganztagsschule herzustellen?
Eckert: Wir haben 30 eigenständige Landes- und Bezirksverbände, die wiederum aus 411 Kreisverbänden und über 3.500 Ortsvereinen bestehen. Da werden überall unterschiedliche Erfahrungen mit dem Thema Ganztagsschule gemacht. Das erfordert auch verschiedene Herangehensweisen. Wir als Bundesverband üben da keine Befehlsgewalt aus. Wir sehen unsere Aufgabe darin, die unterschiedlichen Erfahrungen zusammenzutragen, wir wollen Unterschiede ebenso wie gemeinsame Positionen herausarbeiten. Uns geht es darum, zusammenzuführen.
Veranstaltungen wie unsere Jahrestagung Ganztagsschule im Juni in Remagen dienen daher zuvorderst auch dem Austausch der Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus den Bundesländern. Wir wollen Orientierung und fachliche Anregungen geben. Doch zunächst werden die Anliegen und Themen, die eingebracht werden, in Kleingruppen bearbeitet und anschließend im Forum diskutiert.
Wenn ich an unser Positionspapier von 2012 denke, dann ging dem ein schwieriges Ringen voraus. Auf manche Forderung haben wir uns nicht einigen können. Die Entwicklungen in den einzelnen Bundesländern sind da einfach zu unterschiedlich. Während zum Beispiel in Bayern die Horte einen neuen Aufschwung erlebten, sind sie in NRW abgewickelt und in die offenen Ganztagsschulen integriert worden. Ob offene oder gebundene Ganztagsschulen zu präferieren sind, ist in unseren Landesverbänden auch heute noch umstritten.
Online-Redaktion: In welcher Frage besteht Konsens?
Eckert: Der Ausbau der Ganztagsschulen ist ein andauernder Trend. Daher muss es unserer Meinung nach nun hauptsächlich um die Inhalte und die Qualität des Ganztags gehen. Die im Frühjahr vorgelegten Ergebnisse der StEG-Studie zeigen, dass die Ganztagsschulen für die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen sehr wichtig sind und dabei die Qualität der Ganztagsangebote entscheidend für ihre positive Wirkung ist. Die Studie stellt fest, dass bei guten Bedingungen außerunterrichtliche Angebote das Sozialverhalten, die Motivation und das Selbstbewusstsein junger Menschen fördern.
Wir sind daher überzeugt, dass es sich lohnt, in Ganztagsschulen zu investieren, sie gezielt auszubauen und zu sichern. Wir befürchten allerdings, dass unzureichende Landesmittel, schwankende kommunale Zuschüsse oder fehlende gesetzliche Regelungen zur Qualität und Förderung es schwerer machen, ausreichende Qualitätsstandards zu halten beziehungsweise zu erreichen. Die großen regionalen Unterschiede hinsichtlich Finanzierung, Standards und Strukturen müssen aufgelöst werden. Die AWO fordert daher eine neue „Zukunftsinitiative Bildung“, in der Bund und Länder zusammenarbeiten. Und die Liga der Freien Wohlfahrtspflege in Nordrhein-Westfalen hat eine Offensive gestartet, um Maßnahmen zur Erhaltung der Qualität in der offenen Ganztagsschule im Primarbereich vorzuschlagen.
Online-Redaktion: Wenn Sie sich die Arbeit der AWO in Ganztagsschulen konkret vor Ort ansehen, was läuft Ihrer Meinung nach gut und wo knirscht es?
Eckert: In Nordrhein-Westfalen ist die AWO der zweitgrößte Träger des Ganztags. Sie ist dort allein im offenen Ganztag an 458 Schulen mit rund 43.000 Schülerinnen und Schülern aktiv involviert. Die Zusammenarbeit mit der Serviceagentur „Ganztägig lernen“ beim Institut für soziale Arbeit in Münster läuft dort sehr konstruktiv. Schule und Jugendhilfe sind in den Ministerien allerdings noch zu stark getrennt. Zwar ist schon viel erreicht worden, aber es sind noch immer dicke Bretter zu bohren. 150 Jahre der Trennung schulischer und außerschulischer Bildung lassen sich nicht so einfach abschütteln. Hier müssen die Jugend- und Bildungsministerien und -behörden mehr aus einer Hand arbeiten.
In den Schulen hängt viel von den handelnden Personen ab. Unterschiede in der Kooperation mit außerschulischen Partnern sind überall sichtbar. Wie beispielsweise die Schulsozialarbeit in der Schule eingebunden ist, hängt maßgeblich vom Engagement der Lehrkräfte und der Schulleitung – und natürlich der Fördermöglichkeiten – ab. Die viel beschworene gleiche Augenhöhe entsteht oft durch die Flexibilität der Beteiligten. So sind in manchen Ganztagsschulen die außerschulischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Schulkonferenzen mit Stimmrecht vertreten, in anderen Schulen aber nicht. Gelingensbedingungen sind sicherlich die Kommunikation und die gemeinsame Prämisse, dass das Kind im Mittelpunkt aller Aktivitäten stehen muss.
Online-Redaktion: Welche pädagogische Ausrichtung der Ganztagsschulen ist der AWO wichtig?
Eckert: Wir möchten die Schülerinnen und Schüler als eigenständige und sozial verantwortliche Menschen in der Gesellschaft unterstützen. Was die Zusammenarbeit von Schulen mit der Kinder- und Jugendhilfe und anderen außerschulischen Partnern betrifft, schwebt uns eine Lernkultur vor, die Kinder und Jugendliche in ihrer Lebenswirklichkeit fördert, aber auch fordert. Uns geht es um einen ganzheitlichen Ansatz von Bildung, Betreuung und Erziehung.
Unserer Ansicht nach ist die ganztägige inklusive Schule, die ein diskriminierungsfreies Lernen aller Schülerinnen und Schüler ermöglicht und Ausgrenzung von vornherein verhindert, der richtige Ansatz. Die AWO hat die Vision, dass die Bildungssysteme und die kommunalen Unterstützungssysteme so ausgerichtet werden, dass alle Kinder und Jugendlichen in ihrem Sozialraum und an einem Lern- und Lebensraum Schule sowohl individuell als auch gemeinsam gefördert werden können.
Online-Redaktion: Sehen Sie diese Vision auf gutem Weg? Wo hakt es gegebenenfalls?
Eckert: Es hakt insbesondere noch bei der Frage der Finanzen und des Personals. Fachpersonal ist nur schwer zu finden oder langfristig zu halten. Das liegt am leergefegten Arbeitsmarkt, aber auch an fehlender auskömmlicher Bezahlung und oft ungünstigen, regelrecht zerklüfteten Arbeitszeiten. Wir selbst bilden Erzieherinnen und Erzieher aus, um diesem Notstand zu begegnen.
Aus unserer Sicht müsste in den Bundesländern und den Kommunen mehr Geld investiert werden, um qualitativ hochwertige Angebote zu erreichen. Denn die machen die Vielfalt und Effektivität des Ganztagsangebots aus. Daneben sollten wir uns aber auch fragen, wie es gelingt, die Qualifikationen junger Menschen, die sich nicht nur auf formales Wissen stützen, anzuerkennen und zu zertifizieren, und wie wir neue Personengruppen aus zum Beispiel handwerklichen Berufen in die Bildungs- und Erziehungsberufe einbeziehen können.
Online-Redaktion: Abschließend noch eine aktuelle Frage. Die AWO hat sich immer für Integration eingesetzt und engagiert sich auch jetzt für geflüchtete Kinder und Jugendliche. Wo sehen Sie Schwerpunkte?
Eckert: Die Integration der Flüchtlinge in den DAZ- und den Willkommensklassen muss in den Mittelpunkt der Ganztagsschulen gerückt werden, und die Wohlfahrtsverbände sind dazu bereit, hier mitzuhelfen. Der Umgang mit Religion und religiöse Feste sollten einen bewussten Platz im Curriculum einnehmen. Aktuell ist die Raumnot in manchen Schulen ein Hauptproblem. Einige Schulen gehen auf Jugendzentren oder Volkshochschulen zu, weil sie dort Möglichkeiten sehen, die DAZ- und Willkommensklassen unterzubringen.
In Düsseldorf, wo unser stärkster AWO-Träger mit Ganztagsgrundschulen kooperiert, haben wir mit großem Interesse die von Professor Ulrich Deinet mit Schülerinnen und Schülern erarbeiteten Raumkonzepte verfolgt. Hier liegt eine große Chance zur Aneignung außerschulischer Lebensräume und Integration der Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
Kategorien: Bundesländer - Hamburg
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