Dem Erziehungsnotstand begegnen : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Auf dem 12. Jugendhilfetag vom 2. bis 4. Juni in Osnabrück konnte sich nicht jeder Referent für die Ganztagsschule erwärmen. Doch viele Teilnehmer betonten, dass Lamentieren über die Unterschiede zwischen Schulen und Jugendhilfe keinen der Beteiligten weiterbringt. "Ideologen sind schlechte Pädagogen", meinte ein Referent.
"Ganztagsangebote - und dann?" lautete die Fragestellung des vom Deutschen Jugendinstitut veranstalteten Fachforums auf dem Jugendhilfetag in Osnabrück. Die Referentin und die Referenten erläuterten vor dem vollbesetzten Saal in der Stadthalle die "Folgen und Nebenwirkungen einer veränderten Bildungslandschaft". Die selbstgestellte Aufgabe lautete: "Wie formulieren wir einen ,Beipackzettel' für Ganztagsschulen?" Dabei herrschte auf dem Podium allerdings keine Einigkeit darüber, ob Ganztagsschulen pädagogischen Sinn machen.
Prof. Dr. Uta Meier von der Universität Gießen ging das Thema gesellschaftspolitisch an. Zwei Drittel nichtberufstätiger Frauen wollten wieder arbeiten. Beim arbeitenden Drittel hätten Umfragen ergeben, dass in 50 Prozent der Fälle bei der Kinderbetreuung Notlösungen mit Tagesmüttern oder Verwandten organisiert werden müssten. Aus Gründen der Geschlechtergerechtigkeit müssten Frauen gleiche Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben und dies könne durch Ganztagsangebote gewährleistet werden. Viele Familien, die ihren Kinderwunsch wegen der ungeklärten Betreuungssituation zurückstellen, würden dann auch Kinder bekommen. "Darüber hinaus bieten Ganztagsschulen die Chance, Alltagsorientierung und gesundheitsfördernde Ernährung zu lernen, was genauso wichtig wie Bildungsstandards ist", meinte die Familienwissenschaftlerin.
Schule nicht verlängern, sondern verändern
Scharfen Widerspruch erntete Prof. Meier von Prof. Dr. Thomas Olk. Der Wissenschaftler vom Institut für Pädagogik der Universität Halle/Wittenberg entgegnete, es könne nicht Aufgabe der Schulen sein, die Geburtenraten in die Höhe treiben zu wollen. "Solche bevölkerungspolitischen Maßnahmen greifen sowieso nicht."
Olk zeigte sich auch hinsichtlich der Offenen Ganztagsschulen skeptisch: "Ein echter Einstieg in eine neue Schule findet hier nicht statt. Bei den additiven Konzepten kommen wir nicht zu einer echten Verzahnung und Rhythmisierung. Viele Kinder hassen die Schule, daher dürfen wir sie nicht einfach verlängern, sondern müssen sie verändern."
Eigentlich passten die Systeme Schule und Jugendhilfe "überhaupt nicht" zusammen. Die Jugendhilfe sei besorgt, dass der Anteil der Schule an der Kinder- und Jugendbildung erhöht werde, der eigene dagegen sinke. Für den Erziehungswissenschaftler nicht ganz unbegründet: "Formale Bildung wird protegiert, nonformale nicht." Aber man könne auch nicht die Augen davor verschließen, dass sich auch die Jugendarbeit in der Krise befände. "Die Zahl der Jugendlichen, die die Angebote nachfragen, sinkt. Davor können wir nicht einfach die Augen verschließen. Für die Möglichkeit des Engagements in Schulen sind viele in der Jugendarbeit deshalb auch dankbar."
Schule als "Problemgenerator"
Spezifische Jugendarbeit ist allerdings nicht durch Ganztagsschulbildung zu ersetzen. Das war die Position von Prof. Albert Scherr von der Pädagogischen Hochschule Freiburg. "Die Schule ist ein ,Problemgenerator'. Laut der Shell-Jugendstudie 2002 fühlen sich ein Fünftel der Schüler in der Schule unwohl, und nur ein Drittel würde gerne an einer Ganztagsschule lernen." Der verbindliche Ausbau von Ganztagsschulen sei "sozial schädlich", weil er die bestehenden Schulmilieus nur verfestigen würde, statt eine soziale Durchmischung wie in Sportvereinen zu ermöglichen. Daher sei der Ausbau von Ganztagsschulen lediglich in einem eingliedrigen Schulsystem sinnvoll. Die Schulentwicklung solle dabei im lokalen Kontext erarbeitet werden und den Jugendlichen mehr Partizipationsmöglichkeiten einräumen.
Weniger kritisch beurteilte Volker Rittner von der Deutschen Sporthochschule Köln die Offenen Ganztagsschulen: "Sie können produktiv sein, wenn Lebensnähe, Freiwilligkeit und räumliche Expansion gegeben sind. Gegenwärtig gibt es gute Rahmenbedingungen für eine Kooperationen von Schulen und Vereinen - beide öffnen sich füreinander. Es gibt aber noch wenig Erfahrungen in der Zusammenarbeit. Vereine müssen lernen, weniger Verein zu sein: Sie müssen weniger den Wettkampfsport sehen und mehr den Sport als Möglichkeit der Selbstdarstellung und -wahrnehmung." Wichtig sei, dass Schulen, Vereine und Jugendhilfe kommunizierten, um "lokale Maßarbeit" zu leisten. "Das Medium Sport lohnt die besondere Anstrengung", resümierte der Sportsoziologe.
"Wir wollen dabei sein"
Dieser Ansicht waren auch Susanne Ackermann und Dr. Klaus Balster von der Sportjugend Nordrhein-Westfalen, die das Fachforum "Bewegung, Spiel und Sport als Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsangebote in der offenen Ganztagsgrundschule" anbot. In Nordrhein-Westfalen ist die Kooperation zwischen Ganztagsschulen und Sportvereinen schon weit gediehen. Am 18. Juli 2003 wurde zwischen dem Landessportbund, dem Schul- und dem Sportministerium eine Rahmenvereinbarung über die Zusammenarbeit an offenen Ganztagsgrundschulen geschlossen. Dazu kommen über 100 Informationsvereinbarungen und 51 örtliche Koordinierungsstellen des LSB. In den Ausschüssen für Schulsport aller Schulämter ist der Landessportbund vertreten.
"Wir haben uns in Nordrhein-Westfalen klar positioniert: Wir wollen dabei sein", meinte Balster, der Vorsitzender des Ressorts Schule/Verein ist. " Jeder sollte dazu beitragen, dem Erziehungsnotstand zu begegnen. Der Sport leistet Erziehung und Persönlichkeitsbildung." Dem Wunsch nach Qualität und Verlässlichkeit in den außerunterrichtlichen Sportangeboten stelle sich die Sportorganisation durch Qualifizierung und den Aufbau der Unterstützungsstrukturen. "Wir drängen in der Zusammenarbeit auf die Formulierung gemeinsamer pädagogischer Konzepte", so Balster.
Susanne Ackermann erläuterte, dass neben den in Nordrhein-Westfalen zurzeit angebotenen Aerobic, Tischtennis, Tennis, Ballsportarten, Ringen, Tanzen, Judo und Inline-Skaten auch spezielle Förderangebote für übergewichtige oder verhaltensauffällige Kinder gemacht werden. "Die Angebote können als Regelangebote, zum Beispiel einmal in der Woche, oder als Kursangebote, Workshops und Projekte durchgeführt werden", so Ackermann.
Mit dem Augenrollen aufhören
Ein weiterer Rahmen wurde im Fachforum "Ganztagsschule - Königsweg oder Irrgarten für die Jugendhilfe" des Deutschen Roten Kreuzes, der AWO, der BAG Jugendsozialarbeit, der GEW und von IN VIA diskutiert. Die Frage lautete hier: "Welche Chancen hat die Kooperation für Schule und Freie Wohlfahrtspflege?"
Wolfgang Stadler, Geschäftsführer des AWO-Bezirksverbandes Ostwestfalen-Lippe empfand die Situation in Nordrhein-Westfalen als "ziemlich wirr" und die Jugendhilfe in einer "passiven Rolle": "Für die Horte läutet das Totenglöcklein, und es gibt noch keine verbindlichen Übergangsstrukturen vom Hort zur Offenen Ganztagsschule. Die Jugendhilfe braucht klarere Vorgaben, was von ihr in der Zusammenarbeit erwartet wird."
Doch Kooperation könne man sich sehr gut vorstellen: "Wir müssen mit dem jeweiligen Augenrollen aufhören, wenn die Rede auf die Schule beziehungsweise die Jugendhilfe kommt", so Stadler. "Statt dessen sind wir gut beraten, zu kooperieren und inhaltliche Verknüpfungen mit der Schule zu suchen."
Trennung zwischen Schule und Jugendhilfe aufweichen
Frieder Bechberger-Derscheidt, Leiter der Schulabteilung im rheinland-pfälzischen Bildungsministerium, betonte einmal mehr, dass die Kooperation auf "gleicher Augenhöhe" stattfinden müsse, machte aber auch deutlich, dass sich dabei beide Partner bewegen müssen: "Ich kann kein System gebrauchen, das die Schuld immer woanders sucht." Von Anfang an müsste die Jugendhilfe von den Schulen konzeptionell eingebunden und so die Trennung von Schule und Jugendhilfe aufgeweicht werden.
Markus Schnapka, Leiter des Landesjugendamtes Rheinland, erklärte: "Wenn Jugendarbeit so administriert wird wie Schule, hat Schule nichts davon. In manchen Kommunen sind Schulverwaltungsämter und die Jugendhilfe aber noch weit davon entfernt, ihre Planungen aufeinander abzustimmen."
In Kassel-Waldau funktioniert die Verzahnung zwischen Schule, Kommune und Jugendhilfe. Bärbel Buchfeld, die Leiterin der Offenen Schule Waldau, berichtete, dass durch regelmäßige Monatstreffen aller Beteiligten die Stadtteilarbeit beeinflusst worden und durch ein Ferienbündnis von Schule und Jugendhilfe die Zahl krimineller Delikte im Ort zurückgegangen sei. "Wir warten nicht auf Bund und Land", so die Direktorin, "wir handeln."
Kategorien: Kooperationen - Lokale Bildungslandschaften
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