Verkehrswacht im Ganztag: Eltern bleiben gefragt : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Die Deutsche Verkehrswacht tut viel für die Sicherheit von Schülerinnen und Schülern im Straßenverkehr. Prof. Gunter Zimmermeyer, Vorsitzender der Verkehrswacht Mülheim, sieht aber auch die Eltern in der Pflicht.
Online-Redaktion: Die Verkehrssicherheit von Kindern und Jugendlichen ist ein zentrales Thema unserer Gesellschaft. Wie nimmt sich die Verkehrswacht Mülheim des Themas an?
Gunter Zimmermeyer: Wir beginnen ganz früh – in den Kitas. Wir bieten ihnen an, die Kinder darauf vorzubereiten, sich sicher im Straßenverkehr zu bewegen. Alle Kinder erhalten eine Warnweste und unser Aufklärungsheft der Deutschen Verkehrswacht „Sicher zur Schule“. Ein Beispiel war 2022 unser Radsportfest „Kinderleicht“ mit dem Mülheimer Sportbund und Radsportvereinen, wo die Drei- bis Sechsjährigen das Kibaz, das Kinderbewegungsabzeichen, ablegen konnten.
Bei unseren Besuchen in Kitas und aufgrund der Rückmeldung unserer ehrenamtlichen Moderatorinnen und Moderatoren müssen wir leider feststellen, dass die Ausbildung und die Vorbereitung der Kinder insgesamt schlechter geworden sind. Das alarmiert uns.
Online-Redaktion: Wo sehen Sie die Ursachen?
Zimmermeyer: Nur wenn die Eltern mit uns an einem Strang ziehen, werden wir es erreichen, dass sich unsere Kinder und Jugendlichen sicher, aber auch verantwortungsbewusst auf Geh- und Radwegen sowie auf der Straße verhalten und bewegen können. Wir stellen fest, dass die Zahl der Elternhäuser, die sich damit nicht beschäftigen können oder wollen, ansteigt. Manche finden keine Zeit dafür, anderen ist die Bedeutung vielleicht nicht bewusst, und wieder andere sehen es als Aufgabe des Staates, also auch der Kitas und Schulen, die Kinder fit für den Straßenverkehr zu machen. Diese Haltung erleben wir ja auch bei der Frage, wer denn für das Erlernen des Schwimmens zuständig ist. Aber wir alleine können das im Zusammenwirken mit der Polizei nicht schaffen.
Online-Redaktion: Was können Eltern beitragen?
Zimmermeyer: Es gibt Vieles, was sie unterstützend beitragen können. Sie können mit ihren Kindern über den Straßenverkehr sprechen, ihnen aufzeigen, welche Gefahren lauern und welche sie möglicherweise selbst durch ihr Verhalten mit verursachen und wie sie Risiken vermeiden. Dabei empfehlen wir einen möglichst unaufgeregten Umgang mit dem Thema, schließlich sollen die Kinder nicht verschreckt und verängstigt werden. Sie sollen beispielsweise lernen, warum es wichtig ist, eine rote Ampel nicht zu ignorieren, warum es notwendig ist, per Handzeichen das Abbiegen mit dem Fahrrad anzuzeigen oder warum Beleuchtung am Rad oder Roller sowie helle Kleidung wichtig sind.
Als zweites gilt heute, was auch schon Generationen zuvor getan haben: Eltern sollten mit ihren Kindern den Weg zur Schule üben, ihn gemeinsam gehen oder, wenn die Kinder soweit sind, mit dem Fahrrad einstudieren. Schließlich sollten sich Eltern ihrer Vorbildfunktion bewusst sein. Wenn ich als Erwachsener Verkehrsregeln missachte, darf ich mich nicht wundern, wenn sich mein Kind ebenso verhält.
Online-Redaktion: Sie vertreten die „Vision Zero“, die Sicherheitsstrategie des Deutschen Verkehrssicherheitsrates: ein Verkehrssystem ohne Unfälle mit Schwerverletzten oder gar tödlichem Ausgang.
Gunter Zimmermeyer: Der Weg dorthin ist sicher noch ein weiter. Zwar sinkt die Zahl der tödlichen Unfälle insgesamt, und in Mülheim müssen wir aktuell gar keine registrieren. Aber die Zahl der Unfälle – in Mülheim sind es jährlich circa 50 – nimmt genauso wenig ab wie die Zahl schwerverletzter Kinder, in Mülheim circa sechs jährlich. Junge Verkehrsteilnehmerinnen und ‑teilnehmer sind sogar gefährdeter als früher: aufgrund der Zunahme und Komplexität des Verkehrs – bei sinkender Beweglichkeit und Selbstständigkeit von Kindern und Jugendlichen. Wir müssen uns also noch stärker um diese Zielgruppe bemühen, um uns von unser „Vision Null“ in den kommenden Jahren nicht wieder weiter zu entfernen.
Online-Redaktion: Klagen häufen sich über Eltern, die ihre Kinder mit dem Auto vor der Schule absetzen und wieder abholen.
Zimmermeyer: Diese Entwicklung beobachten wir mit Sorge. Zum einen entsteht an den Schulen ein zusätzlicher Gefahrenpunkt, weil Fahrzeuge Gehwege blockieren oder auf der Straße halten und so zum Hindernis werden. Ich habe Verständnis für Eltern, die sich aus eigener Zeitnot so verhalten und ihr Kind eben mal an der Schule „rauswerfen“. Doch sie untergraben damit die Selbstständigkeit und Sicherheit ihrer Kinder. Im Straßenverkehr erlernen Kinder schließlich auch, Verantwortung in der Gesellschaft zu übernehmen, sich rücksichtsvoll zu verhalten. Das Familientaxi sollte daher nur im Ausnahmefall bestellt werden. Dankbar bin ich, dass die Stadt Mülheim mit Blick auf diese Entwicklung die „Elternhaltestellen“ im Umfeld der Schulen eingerichtet hat und wir die Eltern gemeinsam auf die Probleme mit dem Elterntaxi hinweisen. Es gilt: Dass Kinder den Weg eigenständig zurücklegen, ist immer noch die bessere Variante.
Online-Redaktion: Apropos Schulen. Wie engagiert sich die Verkehrswacht in den Ganztagsgrundschulen?
Zimmermeyer: Die Ganztagsgrundschulen stellen eine Chance und eine Herausforderung zugleich dar. Dass wir im Vorfeld eines neuen Schuljahres mit Bannern wie „Brems dich! Schule hat begonnen“ oder „Tempo runter, bitte! Kinder“ darauf aufmerksam machen, dass sich die Verkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmer auf eine neue und noch nicht so erfahrene Klientel einstellen mögen, hat sich schon lange bewährt. Darüber hinaus organisieren wir an wechselnden Grundschulen im Rahmen der Einschulung Aufklärungsveranstaltungen. Zwar wissen wir, dass die Erstklässlerinnen und Erstklässler an einem solchen Tag durchaus Anderes, für sie im ersten Moment Wichtigeres im Blick haben. Uns sind aber die Botschaft und die Aufmerksamkeit dieses Tages wichtig.
Wir gehen ferner mit unseren Ehrenamtlichen in die Ganztagsgrundschulen und unterstützen die Polizei bei der Radfahrausbildung im Laufe der Grundschulzeit. Wir besorgen dafür die Fahrräder, stellen Flickzeug und Unterrichtsmaterialien zur Verfügung. Für die Materialien, inklusive Lernheften für zuhause, hat die Deutsche Verkehrswacht rund 100.000 Euro investiert. Man muss aber ehrlich sagen, wenn sie daheim nicht gemeinsam von Kindern und Eltern genutzt werden, erreichen wir in den Schulen zwar einen Aha-Effekt, aber eben nicht mehr.
Online-Redaktion: An welche Herausforderungen denken Sie mit Blick auf die Ganztagsgrundschulen?
Zimmermeyer: Früher ähnelten Schulen insofern Fabriken, dass sie sich schlagartig zu bestimmten Zeiten gefüllt und entleert haben. Auf diese Konzentration konnte man mit einheitlichen Regeln und Rezepten reagieren. Heute herrscht, was die Unterrichtszeiten angeht, Flexibilität, man könnte auch sagen: ein Durcheinander. Das birgt zwar den Vorteil der Entzerrung, weil nicht alle gleichzeitig in den öffentlichen Raum drängen. Gleichzeitig aber erhöht es das Risiko für die Einzelnen, beispielsweise, weil sie sich nicht am Verhalten der Anderen orientieren können.
Zugleich eröffnet uns das Mehr an Zeit an den Ganztagsschulen ganz neue Möglichkeiten, etwa für Arbeitsgemeinschaften rund um die Verkehrssicherheit. In unseren Arbeitsgemeinschaften rund ums Fahrrad erfahren die Schülerinnen und Schüler viel über die Bedeutung des einwandfreien Zustandes des Rades oder auch seine Reparatur.
Online-Redaktion: Bietet die Mülheimer Verkehrswacht solche Arbeitsgemeinschaften selbst an?
Zimmermeyer: Wir würden das gerne tun. Doch dafür benötigen wir mehr Ehrenamtliche und suchen diese auch. Nur wenn wir damit erfolgreich sind, können wir Angebote den Schulen offensiv unterbreiten. Denn klar ist, die Schulen benötigen verlässliche Kooperationspartner. Unsere Überlegung ist, schon in den Berufskollegs und in den KiTas selbst Moderatorinnen und Moderatoren auszubilden, die dann in unserem Sinne aktiv werden können. Seit 2022 werben wir dafür am Berufskolleg im Rahmen der Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern. Ähnliches schwebt uns für die Grundschulen vor.
Zwei Dinge sind mir dabei noch wichtig. Zum einen kann es nicht die Motivation einer solchen Arbeitsgemeinschaft sein, die Eltern ganz aus der Verantwortung zu entlassen. Darum sollten Themenabende „Verkehrssicherheit“ für die Eltern zum Standard werden. Zum anderen sollten wir die Zeit nach der Grundschule nicht vergessen. Dort geht es nicht mehr um den Fuß- oder Radweg, Fahrrad oder Roller, sondern um andere Verkehrsmittel, bis hin zum Auto. Dort machen wir beispielsweise auf die Folgen des Rasens auf Stadtstraßen aufmerksam. Und zwar anschaulich, nicht mit vielen Worten, sondern mit „Action“, wie etwa mit unserem „Rauschbrillenparcours“, der per Brille verschiedene Rauschzustände oder Müdigkeit simuliert.
Online-Redaktion: Wovon träumen Sie mit Blick auf die Verkehrssicherheit von Kindern und Jugendlichen?
Zimmermeyer: Von der Schlagzeile: „Mülheim: Kein schwer verletztes Kind in diesem Jahr“.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
Kategorien: Bundesländer - Mecklenburg-Vorpommern
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