"Vatan" oder die Eltern als Wegbereiter der Integration : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf
Integration ist eine lange Reise ohne Erfolgsgarantie: Obwohl Bildung und Berufsausbildung eine immer größere Rolle spielen, um sich in die Gesellschaft zu integrieren, stehen sie bei vielen türkischen Familien nicht hoch im Kurs. Vieles hängt von der Einstellung der Eltern ab - und von der Wertschätzung des Gastlandes und seiner Sprache. Der Filmemacher Ertan Erdogan widmet sich in seinem Dokumentarfilm "Vatan-Heimat auf Türkisch" dem Thema Heimat und Integration. In einem Gespräch mit der Online-Redaktion veranschaulicht er an vielen Beispielen, wie Integration mit Hilfe der Eltern oder von Vorbildern gelingen kann und welchen Beitrag die Ganztagsschulen dazu leisten.
Online-Redaktion: Als Sohn türkischer Einwanderer gehören Sie der zweiten Generation an. Fühlen Sie sich in die Gesellschaft integriert?
Erdogan: Ich stamme aus einer Familie, die bereits in der Türkei Bildung wertgeschätzt hat. Heute bin ich Filmemacher, arbeite für die Industrie und das Fernsehen. Ich bin also in die Gesellschaft integriert, selbst dann, wenn die Aufträge ausbleiben. Meine Eltern haben sich nicht zuletzt wegen der Kinder entschieden, nach Deutschland auszureisen. Ich hatte also Glück, dass meine Eltern - mein Vater ist Akademiker - auf Bildung Wert legen. Es kommt immer auf das Elternhaus an.
Bei vielen, die aus rein ökonomischen Gründen nach Deutschland gekommen sind, gibt es kein Bewusstsein, wie wichtig die Ausbildung ist. Ich möchte zur Illustration die Geschichte einer Freundin erzählen - nennen wir sie Ayse. Sie besuchte die Hauptschule und bekam von ihren Lehrern wegen ihrer Begabung die Empfehlung, auf das Gymnasium zu wechseln. Ihr Vater verweigerte ihr aber die Erlaubnis dazu. Vordergründiges Argument: Das Gymnasium sei ein paar Kilometer weiter entfernt als die Hauptschule. Erst als die Lehrerinnen und Lehrer auf den Vater Druck ausübten, gab er seine Einwilligung, dass sie das Gymnasium besucht. Schließlich schickte er sie mit 14 Jahren in die Türkei und ließ sie erst mit 17 Jahren wieder nach Deutschland zurückkehren.
Ich bin 1958 in Istanbul geboren. Mit sieben Jahren wurde ich in eine katholische Grundschule eingeschult. Mein Vater hat viele Abende damit verbracht, mir und meinem Bruder Deutsch beizubringen, so dass ich nach zwei bis drei Jahren Aufenthalt in Deutschland besser Deutsch sprechen konnte als mein Vater-Lehrer.
Erst mit 25 bis 30 Jahren hatte ich türkische Freunde. Zuvor war ich nur mit Spaniern, Deutschen, Amerikanern, Jugoslawen zusammen. Ich bin also - ohne, dass es dieses Wort damals gab - in einem Multikulti-Zusammenhang mit Freunden aus verschiedenen Ethnien groß geworden. Deutsch war auf eine selbstverständliche Art und Weise unsere gemeinsamen Sprache.
Ich bin sowohl mit der türkischen Mentalität aufgewachsen, als auch mit der Mentalität meiner neuen Heimat Deutschland. Das muss sich nicht widersprechen. Mein aktueller Dokumentarfilm "Vatan" spiegelt auch meine Kindheitserfahrungen in Istanbul. Wir lebten dort in Stadtteilen, Yeniköy, als auch Galata, der jenem in Oberkassel bei Düsseldorf sehr ähnelte. Für mich waren katholische, evangelische Kirchen, Synagogen und Moscheen überhaupt nichts Fremdes. Ich kannte die Rituale der katholischen Kirche, bevor ich nach Deutschland auswanderte. Von griechischen Nachbarn um die Ecke gab es damals zu Ostern fröhliche, buntgemalte Eier mit lachenden Gesichtern. Es ist eine große Chance, mit so vielen Ethnien aufzuwachsen wie in Istanbul. Das Osmanische Reich war über Jahrhunderte ein Melting-Pot der verschiedensten Kulturen.
Online-Redaktion: Sie beklagen, dass junge Türken weder ihre Muttersprache noch die deutsche Sprache beherrschen. Was ist aus Ihrer Sicht zu tun?
Erdogan: Die dritte Generation kann tatsächlich weder deutsch noch türkisch. Schlimmstenfalls sprechen sie sehr schlecht deutsch und besser türkisch. Das heißt, sie sind hier geboren und können kein richtiges Deutsch sprechen.
Die Gründe sehe ich darin, dass ihre Eltern, die aus einer Agrarkultur wie Anatolien stammen, ihre dörflich geprägte Weltanschauung mit nach Deutschland gebracht haben. Meine Eltern gehören sicherlich zu einer Minderheit der türkischen Gastarbeiter, aber es gibt doch viele türkische Familien in Deutschland auch, die hier gar nicht auffallen, weil sie sich integriert haben.
Warum? Sie leben wie Deutsche. Sicherlich trifft es zu, dass die Mehrheit der Türken Schwierigkeiten hat, sich in Deutschland zu integrieren. In der Türkei gibt es meines Wissens rund 15 Prozent Analphabeten - das sagt viel aus über eine Bevölkerung, die der EU beitreten will. Diese finden sich überwiegend in ländlichen Regionen, nicht in den städtischen Ballungsgebieten wie Izmir oder Istanbul.
Die erste Generation kam also als Gastarbeiter nach Deutschland, doch die zweite und erst recht die dritte Generation kann gar nicht mehr nachvollziehen, aus welchen Gründen ihre Eltern ausgewandert sind. Deren Kinder sind hier groß geworden und haben etwas Wesentliches von ihren Eltern nicht vermittelt bekommen, die ja aus einfachen rudimentären Verhältnissen stammen.
Online-Redaktion: Was haben sie denn nicht vermittelt bekommen?
Erdogan: Schule, Lernen und Ausbildung haben eine zentrale Bedeutung für die Integration. Zum Vergleich noch einmal ein Blick auf meine Biographie. Mein Vater hat mich die fünfte Klasse wiederholen lassen, obwohl ich nicht sitzen geblieben war. Er wollte, dass ich Deutsch, also die Schulsprache richtig lerne, um überhaupt das Gymnasium besuchen zu können. Mittlerweile träume ich in Deutsch, ich kann mich nicht anders ausdrücken. Ich liebe die deutsche Sprache.
Die Sprachprobleme der jungen Generation führe ich auf das Elternhaus zurück. Die Integrationsmöglichkeiten sind in Deutschland eigentlich hervorragend. Es heißt unter türkischen Akademikern: Wer hier keine schulische Ausbildung hinkriegt, schafft sie nirgendwo anders. Das heißt aber auch, wer hier kein Deutsch lernt, der will es auch gar nicht.
Online-Redaktion: Nun erhalten türkische Kinder überwiegend eine Hauptschulempfehlung. Wo liegt das Problem?
Erdogan: Die Hauptschule ist einfacher als das Gymnasium. Ich finde, dass die Geschichte von Ayse das Problem verdeutlicht. Obwohl sie reif für das Gymnasium war, wollte ihr Vater sie weiterhin auf die Hauptschule schicken. Die Eltern sehen gerade bei den Mädchen keinen Sinn darin, sie auf höhere Lehranstalten zu schicken, weil sie ohnehin heiraten sollen, um Kinder zu kriegen.
Den Jungen fehlt es an Vorbildern. In ihren Elternhäusern mangelt es an Wertschätzung für eine höhere Schulausbildung. Wenn der Vater am Fließband arbeitet, sieht er in der Regel auch keinen Sinn darin, dass seine Söhne eine langwierige schulische Ausbildung absolvieren: Sie ist kostspielig und garantiert keinen Erfolg auf dem Arbeitsmarkt. Ich meine dennoch, dass die Familie dafür verantwortlich ist, wie ein Kind, unabhängig vom Geschlecht, sich entwickelt.
Online-Redaktion: Welchen Stellenwert nehmen die Ganztagsschulen ein, um die Sprachförderung von Kinder und Jugendlichen voranzubringen und sie besser zu integrieren?
Erdogan: Das Konzept der Ganztagsschule gefällt mir deswegen so gut, weil es Freizeit und Unterricht verbindet und die Schülerinnen und Schüler über die Schule hinaus mit Menschen aus anderen Kulturkreisen zusammen treffen lässt. Die Türken bleiben dabei nicht unter sich, sie kommen in der Ganztagsschule mit Gleichaltrigen aus den verschiedensten Nationen zusammen.
Das ist deswegen so wichtig, weil die Kinder und Jugendlichen die deutsche Sprache gerade nicht nur unter Zwang oder Disziplin erlernen sollten. Erst mit Sport, Spaß und Spannung erschließen sich die Schülerinnen und Schüler einen eigenen Zugang zur Sprache. Die Ganztagsschule ermöglicht es, Deutsch spielerisch zu lernen. Ich habe selbst die deutsche Sprache gelernt, weil es mir Spaß gemacht hat und ich habe mich der Herausforderung Deutsch zu lernen, spielerisch und freiwillig gestellt, weil ich mit Alex, Fernando, Chris und Dragan kommunizieren wollte.
Die Ganztagsschule erweitert die Lehrer-Schüler-Situation. Eine gute Ganztagsschule ist für mich Teil des Lebens, in der man mit Gleichgesinnten aus möglichst unterschiedlichen Ethnien seine Freizeit gestaltet. Diese Ganztagsschulen spiegeln die bundesrepublikanische Wirklichkeit wider. Dort ist man also nicht in der Türkei, sondern muss mit allen Ethnien auskommen und mit allen die Sprache jenes Landes erlernen, in dem man sich gerade befindet.
Online-Redaktion: Wie kommt es, dass die Schulleistungen der Kinder und Jugendlichen der zweiten und dritten Generation schlechter sind als die ihrer Eltern?
Erdogan: Das ist für mich ein Rätsel und diese Ergebnisse hat niemand erwartet. Damit geht der öffentliche Aufschrei einher, dass die Integration gescheitert ist. Woher kommt das? Meine Erklärung ist folgende. Wenn der Vater in Rente gegangen ist und sein Sohn, 40-jährig, derselben Tätigkeit wie sein Vater am Fließband nachgeht, strebt dessen 17-jähriger Sohn dasselbe an. Die Eltern haben es weder geschafft, ihren Kindern Türkisch beizubringen, noch hat er den Sohn dazu motiviert in der Schule Deutsch zu lernen.
Dazu trägt auch die Parallelgesellschaft oder Ghettobildung bei. Historisch betrachtet ist der Islam ja eine sehr tolerante, verschiedene Ethnien einbeziehende Religion und Kultur. Leider hat der Islam ein negatives Vorzeichen bekommen. Das liegt daran, dass er in den ungebildeten und ärmlichen Schichten der Zuwanderer intolerante, separatistische und intolerante Intepretationen erfahren hat.
Weil Menschen, die aus einfachen Strukturen kommen, Angst haben ihre eigene Identität zu verlieren, freunden sie sich mit den scheinbar intoleranten Aspekten des Islams an. Die Landsleute, die im Ausland leben, gelten inzwischen als reaktionärer als Türken, die in der Türkei leben. Und das, obwohl Deutschland für fast alle längst zur Heimat geworden ist. Selbst gläubige Landsleute in der Türkei machen sich lustig über den teilweise fanatischen Ansatz der Türken in Deutschland. Das Problem betrifft aber nicht nur die Türken, es ist ein universelles Phänomen. So sind Australier, die vor ca. 250 Jahren nach Australien ausgewandert sind, der englischen Monarchie gegenüber loyaler, "patriotischer", nostalgischer eingestellt, als die gebürtigen Engländer.
Warum ist das so? Die Menschen fühlen sich in der eigenen Kultur und den Ritualen wohler, erst recht in der Fremde. Gerade türkische Frauen der zweiten Generation sind überhaupt nicht herausgefordert Deutsch zu lernen, weil sie ihren gesamten Alltag in der türkischen Parallelwelt in Deutschland bestreiten können, ohne Deutsch sprechen zu müssen. Alles ist in diesen Klein-Istanbuls in vielen deutschen Städten auf Türkisch absolvierbar. Einkaufen geht man auf Türkisch, zu den Behörden nimmt man türkische Ratgeber und Dolmetscher mit. Die gesamte Infrastruktur ist so ausgerichtet, dass man Türkisch sprechen kann und Deutsch nicht mehr benötigt. Und das ist in Duisburg hier um die Ecke genauso wie in Berlin-Kreuzberg.
Online-Redaktion: Wie ist dann Integration überhaupt noch möglich?
Erdogan: Integration bedeutet zuerst Sprache lernen und sie erfordert eine schulische und berufliche Ausbildung. Das ist das A und O. Ich finde die Ansätze, die dazu aus den Parteien kommen gut. Es reicht nicht aus, Anreize zu schaffen, um Deutsch zu lernen. Man muss die Leute auch dazu zwingen. Es will mir einfach nicht in den Kopf, dass meine Landsleute hier leben und die Sprache nicht verstehen.
Gute Beispiele, wie in Deutschland Integration gelingt, gibt es genügend. Weil Türken unterhaltende Fotoromane so lieben, hat sich die Regionale Arbeitsstelle zur Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien (RAA NRW) im Jahr 1982/ 83 einfallen lassen, eine Informationsschrift über die Bedeutung von Ausbildung und das Lernen der deutschen Sprache herauszugeben.
Die Hauptdarstellerin ist ein türkisches Mädchen in Deutschland, Hülya nämlich, die einen Weg aufzeigt, wie sie über die Heirat hinaus, die schulische und berufliche Ausbildung bewältigt. Dieser Fotoroman war damals der totale Renner, er ist in der größten türkischen Tageszeitung "Hürriyet" als Fortsetzungsroman abgedruckt worden. Die türkischen Medien, das Staatsfernsehen, türkische Regierungsbehörden unterstützten, so gut es geht die Bilingualität und den Dialog zwischen Deutschland und der Türkei.
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