Mapping Families - Kinder zwischen Familie und Staat : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Die Universität Bielefeld lud in Kooperation mit der Universität Vechta zur internationalen Fachtagung "Mapping Families: Praktiken und Konzepte von Kindern, Eltern und Professionellen in Ganztagsschulen" ein.
Nicht nur in Deutschland, sondern weltweit stellen sich für Politik und Gesellschaft Herausforderungen, auf die einfache Antworten schwer zu finden und gezielte Maßnahmen nicht leicht zu realisieren sind: Fragen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, der verstärkten Berufstätigkeit von Müttern sind dabei genau so zu lösen wie solche zum Schutz des Kindeswohls. Hier werden sensible Punkte berührt: Wie viel staatliche Eingriffe und Reglementierungen vertragen sich mit dem privaten Bereich des Familienlebens? Wie viel Zeit darf der Staat für die Bildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen beanspruchen?
In Deutschland hat die Bildungspolitik mit der Einführung von Ganztagsschulen im vergangenen Jahrzehnt eine Antwort auf diese Gratwanderung gegeben. Die internationale Konferenz "Mapping Families: Praktiken und Konzepte von Kindern, Eltern und Professionellen in Ganztagsschulen", welche die Universität Bielefeld in Kooperation mit der Universität Vechta vom 18. bis 20. November 2010 im Bielefelder Veranstaltungszentrum "Hechelei" organisierte, versuchte sich an einer Art Zwischenbilanz der Wirkungen von Ganztagsangeboten auf Familien und Kinder in Deutschland. Aber die Veranstaltung ermöglichte auch in konzentrierter Form den faszinierenden Blick über die Grenzen und sogar auf andere Kontinente. Welche Herausforderungen stellen sich dort, und wie begegnen ihnen Staat und Politik? Welche Erfahrungen hat man mit den jeweiligen staatlichen Eingriffen und Reglementierungen gemacht?
Irland hat in den letzten Jahren eine Achterbahnfahrt erlebt: Von einem im europäischen Vergleich wirtschaftlich rückständigen Land, in dessen Verfassung recht unverblümt die Rolle der Frau als Mutter und Hausfrau festgehalten ist, über den Aufschwung als "keltischer Tiger", der viele Frauen arbeiten ließ - allerdings hauptsächlich in flexiblen, projektabhängigen Teilzeit-Jobs - bis zur wirtschaftlichen Talfahrt an den Rand der Zahlungsunfähigkeit. Für eine solche wirtschaftliche Extremsituation sind die irischen Sozialsysteme nicht ausgebaut - viele Frauen und Familien erleiden einen poverty drop, einen Absturz in die Armut.
"Die irische Familienpolitik orientiert sich mehr am US-amerikanischen als am skandinavischen Modell", berichtete Brid Featherstone, Director of Social Work an der Universität Galway, sichtlich emotional betroffen von der aktuellen Situation in ihrer Heimat. "Das Kindergeld ist in den letzten beiden Haushaltsbudgets jeweils halbiert worden, es gibt kein Recht auf Elternzeit und lediglich unbezahlte Möglichkeiten, seine Arbeit für familiäre Pflichten ruhen zu lassen."
In der irischen Gesellschaft seien die Sichtweisen sehr neo-liberal geprägt: "Die Bildung ist dafür das beste Beispiel: Sie wird nur unter dem Blickwinkel, auf eine Arbeit vorzubereiten, betrachtet", so die Wissenschaftlerin. "Zivilgesellschaftliche Aspekte spielen gar keine Rolle."
Starke Unterstützung von Familien in den nordischen Ländern
Die umgekehrt den skandinavischen und nordischen Ländern nachgesagte starke Unterstützung von Familien konnte Anne Lise Ellingsæther von der Universität Oslo bestätigen, allerdings mit der Einschränkung, "dass es auch Unterschiede zwischen diesen Staaten gibt, die sich in den politischen Auseinandersetzungen herausgebildet haben". Ein deutlicher Unterschied zu den neo-liberalen Ländern zeigt sich im Selbstverständnis des Staates, der sich im Zusammenspiel mit den Familien als "interaktives System" begreift, der denjenigen Müttern und Vätern, die arbeiten oder sich um ihre Kinder kümmern wollen, die Möglichkeit dazu eröffnet. "Dabei ist der Staat geschlechtsneutral eingestellt", erklärte die Leiterin der soziologischen Forschungsabteilung.
Dies wird durch drei Hauptelemente ermöglicht: Bezahlte Elternzeit, finanzielle Unterstützung für Erziehungsleistungen und ein ausdifferenziertes, qualitativ hochwertiges Betreuungssystem für Kinder unter drei Jahren. In Norwegen existiert darüber hinaus ein ausgebautes System der Betreuung nach Schulschluss.
Es sind diese zwei Pole zwischen denen sich die "Internationalen Debatten um das Betreuungsdilemma", abspielen, wie Kristen Nawrotzki von der Londoner Roehampton University darlegte. "In den USA werden Betreuungsangebote für Kinder als kompensatorisch wahrgenommen, als eine Art ,letzte Zuflucht', wenn die Eltern versagen", so die Forscherin des Early Childhood Research Centres. "Viele Frauen sind aus ökonomischen Gründen allerdings gezwungen zu arbeiten und ihre Kinder dann zwangsläufig auch qualitativ schlechten Betreuungseinrichtungen zu überlassen."
Für ein nationales Betreuungsprogramm "Child Care" hat sich in den Vereinigten Staaten keine Mehrheit gefunden, eine entsprechende Initiative ging bisher ins Leere. In den Medien tobe derweil ein Meinungskrieg über das Recht auf Selbstverwirklichung und Rabenmütter. Die in Folge der Finanzkrise eingesetzte "Mancession" - es sind hauptsächlich Männer von Arbeitslosigkeit betroffen - könnte diese "Mommy Wars" möglicherweise beenden."
Schulwahlverhalten der Eltern verändert Bildungssystem in den USA
Ein auch aus Deutschland bekanntes Phänomen in den USA spiegelte Erin McNamara Horvat von der Temple University in Philadelphia: die "Schulmigration". Besonders Eltern der Mittelschicht senden ihre Kinder an bestimmte Schulstandorte, nicht unbedingt in die räumlich nächstliegende Einrichtung, in der Hoffnung, dort "unter ihresgleichen" eine bessere Bildung ihrer Kinder zu erhalten. "Schulen werden in den Vereinigten Staaten in einem Mix aus lokalen und bundesstaatlichen Mitteln ausgestattet, wobei die Finanzausstattung beträchtlich variieren kann", erläuterte die Erziehungswissenschaftlerin.
"Vermögende Eltern verfügen natürlich über die beste Ausgangsposition, sich eine Schule außerhalb ihres Wohnumfeldes auszusuchen. Verstärkt schicken sie ihre Kinder auch an nichtöffentliche Schulen - in dem Bezirk Philadelphias, in dem ich lebe, sind das bereits 30 Prozent", berichtete McNamara Horvat.
Inzwischen bilde sich aber auch eine Gegenbewegung heraus, wie ihre Untersuchungen und Interviews mit Eltern zeigten: Eltern, die theoretisch die Möglichkeit besäßen, ihre Kinder an Privatschulen anzumelden, entscheiden sich ganz bewusst für die öffentliche Schule. "Ich will nicht, dass mein Kind aufwächst im Glauben, es sei privilegiert" oder "Ich mag das Konzept einer Schule, in der ganz verschiedene Kinder zusammen lernen", sind zwei der genannten Gründe für diese Einstellung. In jedem Fall könne man festhalten, dass das Schulwahlverhalten der Eltern das US-amerikanische Bildungswesen verändert habe.
Grundlegender Transformationsprozess der Familienpolitik in Großbritannien
In Großbritannien hat die Regierung mit der Einführung des National Child Care-Programms grundlegende Transformationsprozesse in der Familienpolitik angestoßen. "Das Familienleben wird jetzt als eine öffentliche und nicht mehr als eine private Angelegenheit betrachtet", erklärte Val Gillies von der London South Bank University. Staat und Medien intervenieren schneller, wenn sie Fälle vermeintlicher Kindesvernachlässigung wahrnehmen. Die britische Öffentlichkeit labe sich allerdings zuweilen mit einer gewissen Lust, solche Familien bloß zu stellen und öffentlich zu bestrafen. Die Regierung legte 2006 Interventionsprogramme durch speziell geschulte Kräfte, die in die Familien gehen, auf. Es wurden Family Relationship Centres eingerichtet, in denen "alle Familien Informationen über familiäre Beziehungsfragen erhalten".
Jen Skattebol von der University of New South Wales in Sydney warf ein Schlaglicht auf die Debatten und Politiken auf dem Fünften Kontinent. "In Australien besteht Konsens, dass Kinder von einem qualitativ guten Betreuungssystem profitieren", so die Kinder- und Jugendforscherin. Bezahlte Elternzeit, allgemeiner Zugang zu bis zu täglich 15 Bildungs- und Betreuungsstunden für Vorschulkinder in verschiedenen Einrichtungen, integrierte Eltern- und Kind-Zentren und ein verbessertes Begleitsystem für Familien.
"Heute besteht eine Art ,Quasi-Markt' bei den Betreuungsinstitutionen", führte Jen Skattebol aus. "Die Betreuungseinrichtungen arbeiten unter staatlicher Regulierung, Vorgaben und Finanzierung, aber es ist ein offenes Geheimnis, dass die Qualität jeweils von den organisatorischen Zielen des jeweiligen Betreibers der Einrichtung abhängig ist. Die Qualität ist dementsprechend unterschiedlich."
Eine große Herausforderung bestehe in der Kinderarmut, die durch die hohe Anzahl arbeitsloser Eltern entsteht. Im vergangenen Jahrzehnt lebten teilweise bis zu zwölf Prozent der Kinder in Armutsverhältnissen.
Unsicherheit im Familienleben beeinflusst die Schulleistungen
Doch wie sehen eigentlich die Kinder selbst Familien? Und wie definieren Kinder ihr eigenes Wohl? Diese Perspektive nahm Colette McAuley von der University College in Dublin ein. Von ihrem Forschungsteam wurden 941 Londoner Schulkinder im Alter von zehn bis zwölf Jahren begleitet und 63 von ihnen befragt. "Für die Kinder war die Liebe und Fürsorge, die sie erhielten, wesentlich. Die Form der Familie war für sie dagegen von nachrangiger Bedeutung", so die Professorin für soziale Arbeit. "Unsicherheit im Familienleben beeinflusst die Schulleistungen der Kinder. So ist manchen Lehrern sicherlich nicht bewusst, dass ein Schüler die Schule schwänzt, weil er sich zu Hause um seine alkoholkranke, hilflose Mutter kümmert."
In Großbritannien und in Irland gebe es viel Kritik an den öffentlichen Betreuungsinstitutionen, in denen Kinder und Jugendliche unterkommen, die wegen der Gefährdung des Kindeswohls aus dem Elternhaus genommen worden sind. Die Interviews stützen diese Kritik Colette McAuley zufolge jedoch nicht: "Viele Kinder schätzen ihre Zeit in den Pflegeunterbringungen. Aber sie möchten oft Kontakt zu ihrer alten Familie halten. Das Unterbinden dieses Kontaktes ist mit viel Sorgen und Angst für diese Kinder verbunden."
Eine entscheidende Rolle käme hier den Sozialarbeitern zu, die allerdings zu häufig wechselten und zu wenig miteinander kommunizierten. "Kinder sind am Hier und Jetzt interessiert und wollen bei Entscheidungen mitreden", betonte Colette McAuley.
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