Grundschule Kleine Kielstraße: "Die Kinder brauchen sich und uns" : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Andernorts müssen Schulen geschlossen werden, hier wurde 1994 eine neue gegründet: Die Grundschule Kleine Kielstraße liegt in der "kinderunfreundlichsten Umgebung, die man sich vorstellen kann", wie die Schulleiterin meint. Doch das Kollegium der offenen Ganztagsschule haderte nicht, sondern entwickelte von Beginn an unter der Fragestellung "Was ist eine gute Schule für die Kinder, die hier aufwachsen?" ein Leitbild, das heute relevanter denn je ist: zukunftsorientiertes Lernen, professionelle Zusammenarbeit im Kollegium, Elternarbeit, ganztägige Betreuung und Öffnung zum Stadtteil.
Noch bevor das kroatische Mädchen Davina an der Grundschule Kleine Kielstraße in Dortmund eingeschult wird, hat die Schule den Förderbedarf des Kindes festgestellt. Bei der Schulanfängeranmeldung durchläuft Davina sechs verschiedene Stationen, in denen es um die soziale und emotionale Kompetenz, das sprachliche und alltagsorientierte Wissen, die Körperkoordination, den pränumerischen Entwicklungsstand, das Konzept des eigenen Körpers, die Graphomotorik sowie die optische, rhythmische und phonologische Differenzierungsfähigkeit geht. Ein Beobachtungsteam aus Lehrerinnen, Sonderpädagogin, Sozialpädagogin und Schulleitung fasst die Eindrücke zusammen.
Rund 30 verschiedene Kompetenzen bewerten sie mit den Farben Grün, Gelb und Rot. Dazu kommen entsprechende Vorschläge zur Förderung. Im Begleitportfolio des kroatischen Mädchens sind ziemlich viele rote Punkte zu sehen, es besteht also erhöhter Förderbedarf. Dreimal pro Schuljahr wiederholt sich diese Diagnostik, über vier Jahre Schulzeit verändern sich die Farben, das dominante Rot nimmt ab. Am Ende der Grundschulzeit hat dieses Mädchen die Empfehlung für die Realschule erhalten. "Hier wird die Arbeit der Lehrerinnen sichtbar", stellt Gisela Schultebraucks-Burgkart beim Durchblättern des Begleitportfolios fest.
Die Rektorin leitet die Grundschule Kleine Kielstraße seit der Schulgründung 1994. Während andernorts Grundschulen wegen Schülermangels geschlossen werden müssen, war es hier in der nördlichen Dortmunder Innenstadt notwendig, eine neue Grundschule zu eröffnen. "Dieser Stadtteil ist der einzige in Dortmund mit einem Geburtenüberschuss. Ausgerechnet in der kinderunfreundlichsten Umgebung, die man sich vorstellen kann, kommen die meisten Kinder zur Welt", erklärt die Rektorin.
Schwerpunkt Leseförderung und Rechtschreibung
In der Tat: Das Schulgebäude vom Anfang des 20. Jahrhunderts wirkt trotz seiner imposanten Größe ein wenig geduckt vor der Silhouette der Hochhäuser aus den siebziger Jahren, und die Nordstadt selbst gilt seit langem als "Stadtteil mit besonderem Entwicklungsbedarf". Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die sozialen Herausforderungen bleiben trotz aller staatlichen und kommunalen Bemühungen groß. Dem Kollegium und der Schulleitung war von Beginn an klar, dass ihre Schule auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen müsste. "Was ist eine gute Schule für die Kinder, die hier aufwachsen?", fragte deshalb die erste Lehrerkonferenz.
Die 365 Schülerinnen und Schüler kommen aus 26 verschiedenen Nationen - bei über 80 Prozent ist die Muttersprache nicht Deutsch. Die Deutschkenntnisse sind bei der Einschulung mitunter sehr gering. Ein Hauptaugenmerk der Grundschule richtet sich daher auf die Rechtschreibung und die Kernkompetenz Lesen, was sich auch in der Gestaltung der Klassenräume niederschlägt. So verfügen alle Klassen über Leseecken und eine Bücherei. Feste und freie Lesezeiten, regelmäßiges Vorlesen, Lesestunden mit den Eltern, Lesenächte, Büchertische zu Unterrichtsthemen und die Einbindung des Computers zur Schreib- und Leseförderung schaffen immer wieder Anlässe zum Schreiben, Lesen und Zuhören. Die Kinder wachsen mit einer Lesekultur auf, die sie vielfach zu Hause nicht vorfinden.
Bereits zu Beginn eines Unterrichtstages lesen sich Schülerinnen und Schüler einer jahrgangsgemischten ersten und zweiten Klasse im Sitzkreis gegenseitig Sätze vor, die sie geschrieben haben, und stellen dazu Fragen. Die Lehrerin sitzt dabei, eher Moderatorin eines Gesprächskreises, die korrigiert, wo es nötig ist, und achtet auf die Einhaltung des "Fahrplans". Die Schulstunde ist in kleine Module eingeteilt, die an der Tafel durch Symbole dargestellt sind: Es wird vorgelesen, gesungen und Lautsprache geübt. Dann löst sich die Gruppe auf, und die Kinder arbeiten individuell an ihren Wochenplänen. Um dem unterschiedlichen Förderbedarf der Schülerinnen und Schüler Rechnung zu tragen, stehen sechs verschiedene Schwierigkeitsgrade im Wochenplan mit entsprechenden Arbeitsmaterialien zur Verfügung.
Kooperation mit den Eltern als Standbein der Schule
Der ermittelte Förderbedarf ist keine Reaktion auf Augenblickseindrücke, sondern eine fortschreitende Maßnahme, die lange vor dem ersten Schuljahr einsetzt. Bereits zwei Jahre vor der Einschulung lädt die Grundschule Kleine Kielstraße zusammen mit den Kindertageseinrichtungen die Eltern zu einer Informationsveranstaltung ein. Mit allen Kindergärten und Tageseinrichtungen steht die Schule im Kontakt, um sich über die zukünftigen Schülerinnen und Schüler auszutauschen. Mit sechs umliegenden Kindertageseinrichtungen ist ein fester Arbeitskreis gebildet worden, der unter anderem die Kenntnisse über die Arbeit in den einzelnen Einrichtungen erweitern und eine gemeinsame Begleitung der Kinder vom Kindergarten bis zum Ende der Schuleingangsphase sicherstellen soll. Fördermöglichkeiten im Kindergarten, in der Schule bei anderen Anbietern werden gemeinsam mit den Eltern abgesprochen.
Das Zusammenspiel mit den Eltern ist ein weiteres wichtiges Standbein der Grundschule Kleine Kielstraße. In der Laudatio bei der Verleihung des Deutschen Schulpreises 2006 hieß es dazu, dass diese Kooperation ihresgleichen suche. Auch sie beginnt wie die individuelle Förderung der Kinder bereits vor der Einschulung. Zwischen Anmeldung und erstem Schultag können die Eltern an mehreren Elterngesprächskreisen teilnehmen, zu denen die Schule einlädt. Hier informiert und diskutiert man Themen wie schulisches Leben heute, Sprachförderung zu Hause und Erziehung zur Selbstständigkeit. Bereits in der zweiten Woche nach der Einschulung findet ein Elternsprechtag statt, bei dem die Eltern persönliche Anliegen mitteilen können. Das Gespräch endet mit der Unterzeichnung eines "Erziehungsvertrages", der die Verpflichtungen von Schule und Elternhaus festhält. Dort heißt es unter anderem auf Elternseite: "Wir interessieren uns dafür, was in der Schule geschieht" oder "Wir sorgen dafür, dass das Kind einen Platz hat, an dem es seine Hausaufgaben in Ruhe machen kann".
Täglich im Anschluss an die große Pause findet das Elterncafé statt. Es ist aus einem ehemaligen Modellprojekt entstanden, das vom Jugendamt und der Landesentwicklungsanstalt finanziert wurde. Hier kommen Mütter miteinander ins Gespräch und können Beratungsangebote der Schule wahrnehmen. Die anwesende Sozialpädagogin oder die Sozialarbeiterin vermittelt bei Problemen Kontakt zu Unterstützungssystemen und begleitet die Eltern manchmal auch dorthin. Inzwischen lassen sich Mütter und Väter auch im neu entstandenen Lernzentrum qualifizieren. Sie nehmen an Deutsch-, Alphabetisierungs-, Computer- oder Erste Hilfe-Kursen oder Erziehungsseminaren teil.
"Wir sind Fans von Strukturen"
"Mit dem systemischen Ansatz lassen das Kollegium, die Schulleitung und die außerschulischen Pädagogen die Aufwachsbedingungen der Kinder nicht außer acht", betont Gisela Schultebraucks-Burgkart. Aber man will sich dabei auch nicht verzetteln: "Wir sind keine Sozialstation, wir sind Schule", stellt die Schulleiterin klar. "Unsere Kinder werden lebenslang lernen müssen, und darauf müssen wir sie vorbereiten."
Die veränderte Kindheit korrespondiert mit einer veränderten Schule: "Früher hieß es: meine Klasse und ich", erinnert sich die Schulleiterin, "heute heißt es: unsere Schule und wir". Den Herausforderungen einer völlig heterogenen Schülerschaft stellt man sich in der Grundschule Kleine Kielstraße als Team, das auch die außerschulischen Fachkräfte umfasst. "Das haben wir noch nie erlebt", war die Reaktion von Honorarkräften auf den täglichen informellen Austausch zwischen Schulleitung, Kollegium und dem Ganztagsteam.
"Wir sind Fans von Strukturen", meint Gisela Schultebraucks-Burgkart. Tatsächlich sorgen drei Kooperationsverbünde für die Organisation möglichst wirksamer Lernprozesse für Kinder. Die Lehrerinnen und Lehrer treffen sich einmal wöchentlich in Jahrgangsstufenteams, der ersten und wichtigsten Diskussionsebene. Man konzipiert gemeinsam Unterrichtsreihen, erstellt Wochenpläne und Arbeitsmaterialien, spricht Leistungsüberprüfungen ab, legt Anforderungs- und Auswahlkriterien fest und hospitiert in Parallelklassen.
Die Arbeit der Teams wird dokumentiert und damit für alle Kolleginnen und Kollegen transparent. Am Ende des Jahres werden die Jahrgangsordner an die Lehrerinnen und Lehrer weitergegeben, die im folgenden Schuljahr in der Stufe arbeiten. Im Laufe der Jahre ist so ein abgestimmtes, ständig weiterentwickeltes Unterrichts- und Erziehungskonzept entstanden. Zur Vorbereitung schulübergreifender Vorhaben werden auch zeitlich begrenzt thematische Teams aus Vertreterinnen und Vertretern sämtlicher Jahrgangsstufen gebildet.
Inhaltliche Verzahnung von Vor- und Nachmittag
Das Kollegium diskutiert als zweite Kooperationsebene grundlegende didaktische Konzepte und trifft die Entscheidungen für entsprechende Materialien. Jede Woche beginnt mit einer Dienstbesprechung, an der mit Birgit Schnellen auch die Leiterin des Ganztagsbetriebs teilnimmt. Darüber hinaus finden am Ende eines Schuljahres jahrgangsübergreifende Konferenzen statt, um Informationen und Verbesserungsvorschläge auszutauschen.
Auf der dritten Ebene arbeitet die Schulleitung, die bestrebt ist, die organisatorischen Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass die Absprachen in Jahrgangsteams und klassenübergreifendes Arbeiten erleichtert werden. Sie gibt inhaltliche Impulse und fördert die Netzwerkbindung mit anderen Schulen, vorschulischen Einrichtungen und mit Partnern im Stadtteil. Nicht zuletzt informiert sich Gisela Schultebraucks-Burgkart in den so genannten Jahresgesprächen mit jeder Klassenlehrerin über die Entwicklung jedes Kindes.
"Mir ist auch wichtig, dass unser Vormittag gut mit dem Nachmittag verzahnt ist", erklärt die Schulleiterin. Die ganztägige Betreuung bietet die Grundschule bereits seit dem Schuljahr 1996/1997 an. Derzeit besuchen 125 Schülerinnen und Schüler die Angebote der offenen Ganztagsschule bis 16 Uhr. Sie erhalten vor Unterrichtsbeginn ein Frühstück und nach dem Unterricht ein warmes Mittagessen, das durch einen Caterer angeliefert wird. Eine Sozialarbeiterin, Sonderpädagoginnen und Erzieherinnen kümmern sich am Nachmittag in der Hausaufgabenbetreuung, der 45-minütigen Fördereinheit und in den Spiel- und Sportangeboten um die Schülerinnen und Schüler. Träger der Ganztagsschule sind die Stadt Dortmund und die Dortmunder Beschäftigungs-, Qualifizierungs- und Ausbildungsgesellschaft (DOBEQ).
Die Unterrichtsthemen werden in den Nachmittagsangeboten aufgegriffen. Das Ganztagsteam erhält dazu zwei Wochen im Voraus den Wochenplan. Durch Hospitationen im Unterricht gewinnen die außerschulischen Pädagoginnen Einblicke in den Unterricht und die Didaktik der Lehrerinnen. Schwierigkeiten mit den Hausaufgaben werden den Lehrerinnen gemeldet. Zusammen erwägt man die sich daraus ergebenden individuellen Unterstützungs- und Fördermaßnahmen.
Ganztagsschule als ein Stück Familie
Feste Gruppenleiterinnen leiten sechs Ganztagsschulgruppen. Dieses Team trifft sich einmal wöchentlich zur Besprechung und bereitet gemeinsam die pädagogisch ausgerichteten Angebote vor. "Wir halten eine kontinuierliche Betreuung für sinnvoller, als die Kinder in externe Projekte zu schicken", berichtet Bettina Schnellen, die Leiterin des Ganztagsschulbetriebs. "Eine lange AG-Planung ist bei unseren Schülerinnen und Schülern gar nicht möglich. Wir beraten intern, was die Kinder brauchen, oder fragen sie einfach, wozu sie Lust haben."
Ein Angebot, das die Kinder begeistert hat und das aus einer Projektwoche entstand, ist das Kickboxen. Auch Voltigieren, Klettern, Zaubern, Trommeln und ein Fahrradprojekt sind schon im Angebot gewesen. "Die offene Ganztagsschule ist ein Stück Familie für die Kinder. Hier lernen sie, Empathie zu entwickeln und andere ausreden zu lassen", erklärt Birgit Schnellen. "Sie erwerben eine andere Streitkultur, Selbstständigkeit und Rücksichtnahme."
Regeln des Miteinanders gelten sowohl im Unterricht als auch in den Ganztagsangeboten. Gewalt wird nicht toleriert, bei derartigen Vergehen werden Kinder sofort nach Hause geschickt. Laut der Sozialarbeiterin sind die Schülerinnen und Schüler, welche die offene Ganztagsschule besuchen, dafür besonders sensibilisiert. Dass die Eltern aber nicht aus der Verantwortung für die Erziehung entlassen sind, machen nicht nur die oben erwähnten Instrumente wie der Erziehungsvertrag deutlich. Birgit Schnellen lädt Eltern - falls nötig - zu Gesprächen ein oder macht unangemeldete Hausbesuche. Die meisten Mütter und Väter nehmen das positiv auf: "Sie haben das Gefühl, ich kümmere mich."
Im August 2007 bezogen die Ganztagsschülerinnen und -schüler neue Räumlichkeiten, die auch Rückzugsmöglichkeiten zulassen. Manche Schülerinnen und Schüler wünschen sich noch längere Betreuungszeiten, das Ende um 16 Uhr wird als Bruch empfunden. "Bei uns sind die Kinder herzlich willkommen, und das spüren sie auch. Hier werden sie angenommen, ohne dass zum Beispiel über ihre Kleidung gespottet wird", erklärt die Sozialarbeiterin. "Wenn wir nicht wären, würde den Kindern etwas fehlen. Sie brauchen sich und uns."
Kategorien: Kooperationen - Lokale Bildungslandschaften
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