Familien als Akteure in der Ganztagsgrundschule : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf
Wie wirken sich die ganztägige Betreuung und Bildung auf die Elterninteressen einerseits und auf die Perspektiven der Kinder andererseits aus? Diese Fragen untersucht das Forschungsvorhaben "Familien als Akteure in der Ganztagsgrundschule", das Prof. Dr. Sabine Andresen und Prof. Dr. Hans-Uwe Otto von der Universität Bielefeld leiten. Die Online-Redaktion sprach mit Sabine Andresen über die Ziele und Methoden dieses Forschungsvorhabens.
Online-Redaktion: Prof. Andresen, wie ist das Forschungsvorhaben zustande gekommen?
Sabine Andresen: Mein Kollege Prof. Hans-Uwe Otto aus Bielefeld und ich arbeiten schon seit längerem an einem Konzept von Bildung, das über die Schule hinausreicht. Hans-Uwe Otto, der aus der Sozialpädagogik kommt, interessiert vor allem, welchen bildungstheoretischen Anteil die Kinder- und Jugendhilfe hat. Im Rahmen des Forschungsvorhabens "Familien als Akteure in der Ganztagsgrundschule", das als Teil der Begleitforschung zum Investitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung" (IZBB) vom Bundesministerium für Bildung und Forschung in den nächsten zwei Jahren gefördert wird, gehen wir von einem spezifischen Ansatz aus, wonach die Kinder und die Familien im Zentrum stehen.
Ausgangspunkt war die Frage, wie die Ganztagsschule das Verhältnis zwischen Familie, Schule und den dort tätigen anderen Professionen verändert. Uns interessiert aber auch, welche neuen Möglichkeiten die Ganztagsschule den Kindern, bezogen auf ihren Bildungserfolg, bietet. Wir gehen von einem akteurszentrierten Ansatz aus. Das heißt, dass Kinder und Eltern die Schule mitgestalten.
Online-Redaktion: Welchen Zusammenhang gibt es zwischen dem Forschungsvorhaben und der "Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen" (StEG)?
Andresen: StEG ist eine quantitative und auf den Längsschnitt hin bezogene Untersuchung. Sie thematisiert die Familie sowie die Beteiligung und Akzeptanz der Eltern bezogen auf die ganztägige Betreuung und Bildung. Unser Forschungsvorhaben verstehen wir als Ergänzung zur StEG-Studie, weil wir das Verhältnis von Familie und Ganztagsschule sehr genau über qualitative Fallstudien in den Blick nehmen.
Online-Redaktion: Worin besteht der innovative Aspekt des Forschungsprojektes?
Andresen: Es gibt im Rahmen der Ganztagsschule kaum Untersuchungen über das Zusammenspiel von Elternhaus und Schule. Das halten wir aber für einen ganz wichtigen Aspekt, nicht zuletzt vor dem Hintergrund, der sich immer weiter verdichtenden empirischen Ergebnisse, dass die soziale Herkunft den Schulerfolg von Kindern nach wie vor ganz entschieden beeinflusst. Vor diesem Hintergrund hat der Bund gemeinsam mit den Ländern das IZBB in der Annahme auf den Weg gebracht, dass es über die Ganztagsschule gelingt, sozial benachteilige Kinder systematisch und besser zu fördern.
Das wird aber nicht gelingen, ohne die Familien mitzunehmen. Wir untersuchen die Frage, ob und wie Eltern von Ganztagsgrundschulen und ihren Angeboten erreicht werden. Wir fragen, wodurch sie sich aber auch davon abhalten lassen, sich im Interesse ihrer Kinder stärker zu beteiligen. Dabei geht es unter anderem darum, bildungsbenachteiligte Familie mehr einzubeziehen und ihnen damit Zugangschancen zu eröffnen.
Online-Redaktion: Grundlage dafür sind qualitative Erhebungen in Bremen, Niedersachsen, NRW und Thüringen an den Schnittstellen zwischen Schule, Familie und außerschulischen Partnern. Warum gerade diese Länder?
Andresen: Wir erheben unsere Untersuchung nur an Grundschulen. Das ist wichtig, weil die Bindung der Kinder an die Familie bzw. die Relevanz der Familie sich besonders im Grundschulalterzeigt. Einer der zentralen Punkte ist die Gestaltung der Ganztagsschulkonzepte in den jeweiligen Ländern, die sich aus der bildungspolitischen Schwerpunktsetzung ergibt. Ebenso relevant ist für uns der Blick auf die Sozial- und die Infrastruktur bezogen auf Familien als Akteure.
Es gibt offene, teilgebundene oder gebundene Ganztagsgrundschulen. Der Stadtstaat Bremen, der eine ganz spezifische Sozialstruktur aufweist, setzt auf die gebundene Form der Ganztagsgrundschulen. Nordrhein-Westfalen ist insofern wichtig, als es im Rahmen der offenen Ganztagsschule traditionell ein enges Verhältnis zwischen Schule und Kinder- und Jugendhilfe gibt.
Thüringen war uns wichtig, weil es im Vergleich zu den alten Bundesländern strukturelle Unterschiede gibt, beispielsweise mit Blick auf familiale Lebensformen oder auf das Verhältnis von Familie und Schule. Hier spielt die spezifische Geschichte möglicherweise eine wesentliche Rolle. Und Niedersachsen ist unter anderem interessant, da beispielsweise mit der Abschaffung der Orientierungsstufe der Grundschule eine neue Rolle zugeschrieben wurde.
Online-Redaktion: Der gesellschaftliche Wandel verändert die Familie und die Erziehungsleitbilder: Wie wirkt sich die ganztägige Bildung und Betreuung auf die Bildungsvorstellungen der Familien aus?
Andresen: Der gesellschaftliche Wandel zeigt sich zum einen darin, dass beide Elternteile eine Beteiligung am Arbeitsmarkt anstreben. Das verändert auch die Bedürfnisse von Familien, hinsichtlich eines verbindlichen Zeitarrangements. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ein wichtiger Motor des IZBB und das Thema nehmen wir auch in den Blick. Die Halbtagsschule wird den Ansprüchen, die die Eltern an Schulorganisation stellen, zunehmend weniger gerecht.
Ein wichtiges Thema unserer Studie sind die Hausaufgaben. Die Hausaufgabenbetreuung in der Ganztagsgrundschule könnte beispielsweise das Potenzial haben, durch die entsprechende Unterstützung und Förderung von Kindern der Bildungsbenachteiligung zu begegnen. Hausaufgaben sind ein zentrales Konfliktpotenzial in den Familien. Aus unserer Sicht nehmen die Ganztagsschulen, wenn sie eine Hausaufgabenbetreuung anbieten, auch eine gesellschaftliche Aufgabe wahr. Sie helfen dabei, die Akzeptanz der Eltern zu erhöhen und ihr Verhältnis zur Schule positiv zu verändern.
Ein weiterer bedeutsamer Aspekt unserer Studie ist die soziale Ungleichheit. Kinder, die aufgrund ihres sozialen Hintergrundes weniger Möglichkeiten haben, ein anregendes Umfeld zu erleben, können durch die Ganztagsschule ganz anders gefördert werden. Hier spielt der Aspekt der individuellen Förderung, des Lernens und des sozialen Miteinanders eine große Rolle.
Wenn man mehr Zeit hat und eine andere Rhythmisierung möglich ist, können andere Formen der individuellen Förderung entwickelt werden, insbesondere im Verbund mit außerschulischen Partnern. Folgende Fragen spielen dabei eine Rolle: Wie verhält es sich mit der Integration außerschulischer Partner in die Ganztagsschule? In welchem Verhältnis stehen die Professionen zueinander? Dominieren die Lehrerinnen und Lehrer das Schulgeschehen oder gibt es eine Partnerschaft der beteiligten Professionen?
Online-Redaktion: Welche Rolle spielen die Kinderperspektiven und die Elterninteressen?
Andresen: Wir fokussieren in unserer Studie die dritte Klasse. Pro Land nehmen wir zwei Ganztagsgrundschulen intensiv in den Blick. Die dritte Klasse haben wir deswegen ausgewählt, weil wir davon ausgehen, dass sowohl die Kinder als auch die Eltern schon über eine gewisse Erfahrung verfügen und die Entscheidung über die weiterführende Schullaufbahn noch nicht im Vordergrund elterlichen Handelns und Denkens steht.
Zunächst werden wir mit verschiedenen Methoden die jeweilige Klasse und ihre Aktionen in der Schule begleiten. Die teilnehmende Beobachtung ist dafür eine gute Methode, die sich in der neueren Kindheitsforschung als sehr ertragreich erwiesen hat. Neben den Beobachtungen werden wir Interviews mit den Kindern führen, aber auch mit den verschiedenen Professionellen an der Schule und mit den Eltern. Bei den Eltern beobachten wir insbesondere arrangierte Gelegenheiten wie Elternabende, Elterngespräche, Schulfeiern, aber auch das Bringen und Abholen der Kinder, um zu erfahren, wie sich der Kontakt zwischen Schule und Familie gestaltet.
Online-Redaktion: Die 1. World Vision Kinderstudie, an der Sie neben Prof. Dr. Klaus Hurrelmann mitgewirkt haben, hat ergeben, dass die Kinderarmut in Deutschland deutlich gestiegen ist. Was müsste getan werden, um die Situation zu verbessern?
Andresen: Diese Studie beschließen wir mit dem afrikanischen Sprichwort "Es braucht ein ganzes Dorf, um Kinder stark machen". Wir kritisieren dort die starke Familienzentrierung, die in Deutschland historisch gewachsen ist. Es ging ja darum, den Zugriff des Staates auf die Familien möglichst zu beschränken. Aber wir konstatieren auch, dass angesichts der vielen Herausforderungen in der modernen, sich über die Bildung formierenden Gesellschaft, die Eltern oft alleine gelassen werden.
Wir nehmen an, dass ein verbindliches, über den Tag gehendes Betreuungsangebot hier eine große Entlastung wäre, wobei ich nicht nur die Quantität von Stunden gewichten möchte. Die Eltern müssen der Überzeugung sein, dass ihr Kind in der Ganztagsschule bestmöglich gefördert wird, und dass schulisch bedingte Aufgaben dort erledigt werden.
Das ist kein Plädoyer dafür, dass die Eltern sich aus der Erziehung herausziehen, sondern dafür, dass die Eltern bei den verschiedenen Aufgaben, die sich im Laufe der Entwicklung des Kindes verändern, umfassend unterstützt werden. Das trifft auf alle Eltern zu, aber in besonderem Maße auf diejenigen Eltern, die unter schwierigen sozialen Bedingungen Beruf und Familie vereinbaren müssen.
Online-Redaktion: Welche Bedeutung hat das Forschungsvorhaben für die Praxis bzw. die Bildungspolitik?
Andresen: Ein großes Thema ist gegenwärtig, wie es gelingt die Eltern in die Schulen reinzuholen - gerade im Interesse der Kinder. Wir gehen davon aus, dass wir über unsere Fallstudien darüber Erkenntnisse liefern können. Dabei wollen wir herausfinden, wo genau die Probleme und Barrieren aus Sicht der Eltern liegen, um sich stärker in der Schule zu engagieren. Es geht nicht um wechselseitige Schuldzuschreibungen, sondern um eine genaue Analyse von Wechselbeziehungen. Wir hoffen, den Schulen handlungsorientierende Hinweise geben zu können.
Kategorien: Ganztag und Grundschule - Qualitätsdialog zum Ganztag
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