Engagement für die inklusive Ganztagsschule : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Ein Minister nannte die Waldhofschule Templin eine der ersten „wirklichen Ganztagsschulen“ und ihren damaligen Schulleiter „Quer- und Weiterdenker“. Wilfried Steinert hat sich dem Engagement für Bildung verschrieben.
Die Waldhofschule Templin ist eine evangelische Grund- und weiterführende Schule in Trägerschaft der Stephanus-Stiftung, die 2016 ihr 25-jähriges Bestehen feierte. 1991 war sie als Förderschule für geistig Behinderte gegründet worden, nachdem es zuvor in der DDR keine Bildungseinrichtungen für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung gegeben hatte. Heute besuchen 280 Schülerinnen und Schüler mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf die Ganztagsschule.
Einer, der die Entwicklung der Waldhofschule, die 2010 einen Deutschen Schulpreis erhielt, wesentlich mitgeprägt hat, ist Wilfried W. Steinert. Auch vor und nach seiner Schulleitertätigkeit hat Steinert sich für Bildung und Chancengerechtigkeit engagiert – sei es im Bereich der Elternvertretung, sei es im Bereich der Inklusion. Kürzlich feierte er seinen 70. Geburtstag.
Fernsehtechniker-Lehre, Religionslehrer, Schulleiter
Die Biografie von Wilfried Steinert liest sich wie ein buntes Bilderbuch. Auch er selbst hätte wohl nicht gedacht, dass ihn seine Karriere über die Mittlere Reife und eine Fernsehtechniker-Lehre über den zweiten Bildungsweg zum Theologiestudium führen würde. Und noch weniger ließ sich damals erahnen, dass zahlreiche Aus- und Fortbildungen, sein Vikariat in Essen (1973–1977) und die anschließende Tätigkeit als Pfarrer in Minden (1977–1983) ihm die Tür zur Lehrertätigkeit öffnen würden – als Religionslehrer (1983–1991) und schließlich als Kirchenschulrat in Berlin (1991–2002).
Anfang der 1990er Jahr war Steinert in Finnland. Dort beeindruckte ihn eine kleine Dorfschule mit einem Lehrerehepaar, das alle Schülerinnen und Schüler unterrichtete, ein Beispiel für Inklusion. Der nunmehrige Kirchenschulrat Steinert verdankte es dann einem brandenburgischen Bildungsminister, selbst Theologe, dass er Schulleiter wurde. Dieser sagte ihm 2002: „Sie sind ein Quer- und Weiterdenker. Wollen Sie nicht die Sonderpädagogik aus dem Nischendasein holen? Sie dürfen alles verändern – es darf nur nicht mehr kosten.“ Steinert sagte zu.
Noch lange also, bevor sich Schulen jedweder Schulform für Kinder mit Beeinträchtigungen öffneten, ging die Waldhofschule Templin den umgekehrten Weg: Die Förderschule nahm ab 2003 auch Kinder ohne diagnostizierten Förderbedarf auf. Sie wurde „Schule für alle“. Unter Leitung von Wilfried Steinert begann die Waldhofschule mit dem Konzept eines rhythmisierten Unterrichts und Ganztagsangeboten von 8 bis 15 Uhr und ebenso mit einem neuen Präsenzzeitmodell für die Lehrkräfte.
Erfüllung einer Vision
Als die Waldhofschule sieben Jahre später mit dem „Deutschen Schulpreis“ ausgezeichnet wurde, schrieb die Erziehungswissenschaftlerin Prof. Dr. Anne Ratzki über die Schule: „An dieser Schule wird erlebbar, was Inklusion heißt (...). Hier wird nicht eine Minderheit von Behinderten in eine Klasse von Nichtbehinderten integriert und erhält dort sonderpädagogische Förderung, sondern Behinderte wie Nichtbehinderte bilden hälftig eine Klasse, werden gemeinsam von Grundschullehrkräften, Sonderpädagogen und Erziehern unterrichtet und betreut. Die pädagogischen Konzepte werden bewusst und gezielt auf die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen ausgerichtet.“
Für Wilfried Steinert war das die Erfüllung eines Teils seiner Vision: „Es gibt nur noch eine Schule, in der jeder Schüler und jede Schülerin bestmöglich gefördert wird.“ Dass dies in Teilen an der Waldhofschule Realität werden konnte, war laut Steinert auch der Weitsicht der damals politisch Handelnden zu verdanken. Der Landkreis stellte der Schule die Mittel für den Ganztag zur Verfügung, sodass die Schule auch am Nachmittag Lehrkräfte und am Vormittag die Erzieherinnen und Erzieher einsetzen konnte.
Inzwischen ist die Waldhofschule Templin eine Ganztagsschule, die konsequent von 7 bis 17 Uhr geöffnet ist und außer dem rhythmisierten Schultag noch zusätzliche Angebote und Arbeitsgemeinschaften anbietet. Steinert hatte sich von Anfang an für Standards guter Ganztagsschulen eingesetzt.
Nachhaltige Prägungen
Was treibt jemanden an, sich so zu engagieren? „Ganz ehrlich, ich weiß es nicht“, sagt Steinert, der 1950 in Sandkrug bei Oldenburg als Kind einer Flüchtlingsfamilie aus Schlesien geboren wurde. Sein Klassenlehrer am Gymnasium sprach ihn nicht mit Namen, sondern herablassend nur mit „Ortsgruppe Sandkrug“ an. Wilfried Steinert verließ das Gymnasium und wechselte auf die Realschule. Die Erfahrung, selbst ausgeschlossen zu werden, und die frühe Verantwortungsübernahme nach dem Tod seines Vaters hätten ihn nachhaltig geprägt, sagt er.
Seitenfüllend wäre es, alle ehrenamtlichen Tätigkeiten von Wilfried Steinert aufzulisten. Er engagierte sich in Kitas und Schulen seiner Kinder als Elternvertreter, beispielsweise der Gesamtschule Löwenberg und des Runge-Gymnasiums Oranienburg, ab 1998 im Landeselternrat, ab 1999 dann im Bundeselternrat. Im Mai 2002 wurde er stellvertretender Vorsitzender des Bundeselternrats und 2004 dessen Vorsitzender. Ein Schulleiter als Elternvertreter? Doch Steinert überzeugte mit der Argumentation: „Wer sich engagiert, gerät in Interessenkonflikte. Ja, ich leite eine Schule, aber ich habe auch zwölf Kinder.“
Seine Zeit im Bundeselternrat war geprägt vom sogenannten PISA-Schock. Schon seine Vorgängerin Renate Hendricks aus Nordrhein-Westfalen habe den Bundeselternrat in den Blickpunkt der Bildungspolitik gerückt. Die Elternvertretung fand Gehör bei der Entwicklung des Ganztagsschulprogramms, bei der Entwicklung von Bildungsstandards und von Standards für die Lehrerbildung. Inklusion wurde zum Thema. Steinerts Eintreten für längeres gemeinsames Lernen und für Gemeinschaftsschulen brachte ihm aber auch Kontroversen ein. 2006 trat er als Vorsitzender des Bundeselternrats zurück.
Projekte statt Segeltörn
Langweilig wurde ihm auch nach Beendigung seiner Schulleitertätigkeit an der Waldhofschule Templin 2010 nicht. Als Mitglied der Jury des Jakob-Muth-Preises für inklusive Schule und später des Expertenkreises Inklusive Bildung der Deutschen UNESCO Kommission e. V. engagierte er sich ebenso wie bei Schulentwicklungstagungen. Aktuell unterstützt er das Modellprojekt Schulassistenz des Landkreises Gifhorn an der Grundschule am Lerchenberg in Wesendorf, gemeinsam mit Prof. Dr. Dietlinde Vanier von der TU Braunschweig, die den Schulversuch wissenschaftlich begleitet.
Konkret geht es darum, eine Assistentin oder einen Assistenten nicht nur einzelnen Kindern mit Unterstützungsbedarf zur Seite zu stellen, sondern der gesamten Klasse. So kann die Schule mit einer festen Zahl unterstützender Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter rechnen, die auch in die Unterrichtsplanung eingebunden werden und Teil des Kollegiums sind. Überall, wo es erforderlich erscheint, arbeitet somit ein Tandem im Unterricht. Steinert: „Auf diese Weise gelingt die Kooperation zwischen unterschiedlichen Professionen.“
Mit 70 Jahren weiß Steinert, dass „eine Schule für alle“ eine Zukunftsvision bleibt. Die Inklusion aber ist vorangeschritten. „Nicht ausreichend“, sagt er. „Mir fehlt noch die Selbstverständlichkeit im Bewusstsein für Vielfalt. „Zu oft heißt es noch: Das ist ein Förderkind, das ist ein Regelkind.“ Er wünscht sich Denkweisen wie „Wir haben 240 Kinder“ statt „Wir haben 213 Kinder und 27 mit Förderbedarf.“
Weit zum Meer hat Wilfried Steinert es von seinem Wohnort Lübeck nicht. Aber der Segeltörn um die Welt, wie er ihn für den Ruhestand geplant hatte, ist erst einmal verschoben.
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