Dr. Robert Zollitsch: "Ganztagsschule braucht Mitwirkung der Eltern" : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Viele Schülerinnen und Schüler profitieren von Ganztagsangeboten. Doch der positive Einfluss von Eltern auf den Bildungserfolg ihrer Kinder darf nicht unterschätzt und durch die Professionalisierung und Institutionalisierung von Erziehung und Bildung minimiert werden. Das fordert der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Dr. Robert Zollitsch, im Gespräch mit www.ganztagsschulen.org

Porträtfoto eines Mannes in katholischer Bischoftracht
Erzbischof Dr. Robert Zollitsch © Deutsche Bischofskonferenz

Online-Redaktion: In der knapp zehn Jahre alten Stellungnahme der Deutschen Bischofskonferenz wurde gefordert, dass Ganztagsangebote von den Bedürfnissen des Kindes und der Familie her konzipiert werden müssen, weniger von politischen und wirtschaftlichen Interessen. Wurde die Erwartung erfüllt?

Erzbischof Dr. Robert Zollitsch: Es gibt eine ganze Reihe von Ganztagsschulen, die mit hervorragenden pädagogischen Konzepten eine vorbildliche Arbeit leisten. Gleichzeitig steht aber auch bei vielen Ganztagsangeboten nach wie vor der Betreuungsaspekt im Vordergrund. Es gibt doch zwei zentrale politische Triebfedern für die Förderung und den Ausbau von Ganztagsschulen im großen Stil. Zum einen sollen die Chancen für bildungsbenachteiligte Kinder und Jugendliche erhöht werden. Diese Kinder können in der Tat von guten Angeboten profitieren. Zum anderen sollen Eltern in ihrer Erziehungsaufgabe entlastet werden, um ihnen eine volle Erwerbstätigkeit zu erleichtern. Eine Orientierung an den Bedürfnissen der Kinder kann ich dabei nicht vorrangig erkennen. Unser damaliger Appell ist also nach wie vor aktuell.

Online-Redaktion: Inzwischen ist bundesweit jede zweite Schule Ganztagsschule. Laut Verfassung ist Erziehung erstes Recht der Eltern. Verschwimmen mit der Ganztagsschule die Grenzen zwischen Erziehungsrecht der Eltern und Erziehungsauftrag der Schule?

Zollitsch: Zunächst einmal sollte man vielleicht besser formulieren: An jeder zweiten Schule gibt es Ganztagsangebote. Denn beispielsweise eine Grundschule mit einer angeschlossenen offenen Ganztagsschule - sprich einem nachmittäglichen Betreuungsangebot - erscheint in der Statistik als Ganztagsschule, auch wenn das Angebot nur von einem kleinen Teil der Schülerschaft genutzt wird. Das Erziehungsrecht der Eltern bleibt so lange gewahrt, wie Eltern frei entscheiden können, ob sie ein Ganztagsangebot annehmen und in welche Schule sie ihre Kinder geben möchten. Darüber hinaus müssen Ganztagsschulen mehr noch als Halbtagsschulen für Möglichkeiten der Mitwirkung und Mitgestaltung der Eltern sorgen.

Online-Redaktion: Schulen in kirchlicher Trägerschaft sind oft schon lange Ganztagsschulen. Gibt es Unterschiede zwischen staatlichen Ganztagsschulen und solchen in Trägerschaft der katholischen Kirche?

Zollitsch: Jede vierte Schule in katholischer Trägerschaft hält ein Ganztagsangebot vor, davon wiederum 60 Prozent in gebundener Form. Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal aller katholischen Schulen liegt sicher darin, dass sie eben ein dezidiert katholisches Profil haben, das heißt, dass ihr Erziehungs- und Bildungskonzept im christlichen Verständnis vom Menschen und von der Welt sowie im Glauben der Kirche grundgelegt ist. Katholische Schulen wollen neben der Vermittlung christlicher Werte auch eine religiöse Heimat ermöglichen. Sie legen besonders hohen Wert auf die formelle und informelle Mitwirkung der Eltern in der schulischen Erziehungsgemeinschaft. Außerdem erhalten sie durch ein breites schulpastorales Angebot eine besondere Prägung.

Online-Redaktion: Hat sich die Befürchtung, die Ganztagsschule könne die Teilnahme von Kindern an Angeboten der kirchlichen Jugendarbeit verhindern, bestätigt?

Zollitsch: Es wird in der Tat immer schwieriger, mit Kindern und Jugendlichen nach möglichen Terminen für Angebote in der Jugendarbeit zu suchen. Insbesondere merken wir das auch bei der Vorbereitung auf die Erstkommunion und auf die Firmung. Die Ganztagsschulen sind hier eine von mehreren Ursachen, zu denen etwa auch die Verkürzung der Gymnasialzeit auf acht Jahre gehört.

Online-Redaktion: Wie bringt sich die Kirche bei der Gestaltung von Ganztagsschulen ein?

Zollitsch: Neben ihrem Engagement in den eigenen Ganztagsschulen in kirchlicher Trägerschaft beteiligen sich auch zahlreiche kirchliche Einrichtungen und Verbände als Partner bei der Gestaltung öffentlicher Ganztagsschulen. Schwerpunkte dieses Engagements bilden Hilfen zur Persönlichkeitsentwicklung, der Wertevermittlung aus christlichem Geist, Angebote zur Stärkung des sozialen Verhaltens, Förderangebote zur Verwirklichung von Chancengleichheit sowie die Unterstützung der jungen Menschen, gesellschaftliche und politische Verantwortung zu übernehmen.

Online-Redaktion: Ganztagsschulen leisten auch einen Beitrag zur Chancengleichheit. Kann die katholische Kirche heute noch an ihrer Forderung festhalten, Ganztagsangebote im Sinne unterrichtsergänzender Fördermaßnahmen und Betreuung am Nachmittag sollten Vorrang vor dem Ausbau gebundener Ganztagsschulen haben?

Zollitsch: Im Kern ging es uns immer und geht es uns nach wie vor um die Garantie der Freiwilligkeit. Gegen gebundene Ganztagsschulen mit einem guten pädagogischen Konzept ist nichts einzuwenden, solange Eltern auch die Möglichkeit haben, sich alternativ für ein Halbtagsangebot zu entscheiden. Halbtagsschulen mit guten Konzepten tragen ebenso wie gute Ganztagsschulen zur Chancengleichheit bei. Die Prinzipien der Wahlfreiheit und der Chancengleichheit würden auch dann faktisch verletzt, wenn der Staat nur einseitig in den Ganztagsbereich investieren und damit die Halbtagsschulen qualitativ austrocknen würde.

Online-Redaktion: Kann sich die Kirche der Auffassung anschließen, dass Ganztagsangebote nicht nur  eine kompensatorische Funktion, etwa für "Familien mit sozialen Problemen", haben, sondern auch den Lernerfolg aller Schülerinnen und Schüler steigern können?

Zollitsch: Sicher profitieren nicht wenige Schülerinnen und Schüler von Ganztagsangeboten. Deshalb ist es sinnvoll, die Angebote weiter vorzuhalten und sie engagiert und bedarfsgerecht weiterzuentwickeln. Aber es ist schlichtweg nicht richtig, dass alle Schülerinnen und Schüler von Ganztagsangeboten profitieren würden. Ich glaube, dass der Beitrag, den ungezählt viele Eltern zum Bildungserfolg ihrer Kinder leisten, völlig unterschätzt wird. Und die Gesellschaft tut sich am Ende keinen Gefallen, wenn sie versucht, den positiven Einfluss dieser Eltern auf den Bildungserfolg ihrer Kinder zu minimieren, indem sie Erziehung und Bildung immer weiter professionalisiert und institutionalisiert. Die Schule ergänzt den Erziehungsbeitrag der Eltern, kann ihn aber nicht ersetzen.

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