Bayerischer Elternverband: Die Einstellung zur Ganztagsschule verändert sich : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Ein gravierender Wandel in der Einstellung zur Ganztagsschule hat sich in Bayern vollzogen. Immer mehr Eltern und die Politik begrüßen den Ausbau entsprechender Angebote. Für den Bayerischen Elternverband sollte der gebundene Ganztag das Ziel sein. Das betont dessen Sprecherin, Ursula Walther, im Interview mit www.ganztagsschulen.org.

Online-Redaktion: Wo sieht der Bayerische Elternverband seine Aufgaben?

Ursula Walther: Wir unterstützen und beraten Eltern, insbesondere aber deren Vertreter in den unterschiedlichsten Gremien. Häufig dreht es sich um Schulprobleme, angefangen von solchen mit Lehrkräften über das leidige Thema Noten, den Unterrichtsausfall oder Lehrermangel bis hin zu spezielleren Fragen wie den Umgang mit Medienkonsum. Die Noten beschäftigen in Bayern die Eltern besonders stark. Schließlich ist hier immer noch der Notendurchschnitt für den Wechsel zur weiterführenden Schule ausschlaggebend. Er muss in den Fächern Deutsch, Mathematik sowie Heimat- und Sachunterricht bei mindestens 2,33 liegen, wenn das Kind aufs Gymnasium soll. Bis 2,66 reicht er für einen Wechsel zur Realschule.

Online-Redaktion: Die Regeln sind klar. Welche Fragen und Unterstützung benötigen die Eltern dann?

Walther: Vor dem Übertrittszeugnis wollen sie wissen, wie das Kind bessere Noten erhält. Da werden Probearbeiten begutachtet und Punkte gezählt. Danach geht es um Wege,  die doch noch auf die Wunschschule führen.

Online-Redaktion: Häufig wissen Elternvertreterinnen und -vertreter nicht ausreichend über ihre Mitwirkungsrechte Bescheid. Welche haben sie in Bayern?

Walther: Elternbeiräte an Schulen bestimmen über die Hausordnung, die Pausenverpflegung und die Kosten für Klassenfahrten und Lernmittel mit. Und über das Schulprofil. Auch bei der Änderung des Schulsprengels und bei Modellversuchen reden sie mit.

Online-Redaktion: Wie definieren Sie die Rolle des Bayerischen Elternverbandes?

Walther: Wir sehen uns schon als so etwas wie die bildungspolitischen Vorreiter. Viele Dinge, die wir in den über 40 Jahren unseres Bestehens angestoßen haben, wurden später von der Politik aufgegriffen. Manchmal dauerte es ein wenig länger, manchmal ging es schneller. Ich glaube, wir können behaupten, dass wir ganz gut erkennen, wohin die Reise geht. Wir haben das Ohr an der Basis.

Online-Redaktion: Ahnten Sie vor zehn Jahren, dass sich auch in Bayern die Einstellung zur Ganztagsschule zum Positiven wandeln würde?

Walther: Geahnt? Vielleicht eher gehofft. An anderer Stelle habe ich neulich gesagt, dass sich noch vor zehn Jahren Gesprächspartner bekreuzigt haben, wenn man das Wort Ganztagsschule in den Mund nahm. Für viele war das gleichbedeutend mit der Gesamtschule und nur etwas für Alleinerziehende, für Eltern, die vermeintlich mit der Betreuung ihrer Kinder überfordert waren sowie für Mütter, die sich selbst verwirklichen wollten. Auch Schülerinnen und Schüler waren, um es vorsichtig auszudrücken, sehr skeptisch. Sie wollten, wie viele sagten, das Elend des Vormittags nicht auch noch auf den Nachmittag ausdehnen.

Online-Redaktion: Was hat die Haltung verändert?

Walther: Die flächendeckende, von Eltern wie Politik getragene Ablehnung, begann eigentlich erst zu bröckeln, als Edmund Stoiber Ministerpräsident war. Anfangs war er ebenso vehement gegen die Ganztagsschule wie die ganze CSU - und plötzlich war er dafür. Man sagte in Bayern allerdings, dass er seine Einstellung auch als Ergebnis der Erfordernisse und Erfahrungen in der eigenen Familie geändert habe. Aber das ist im Grunde gleichgültig - Hauptsache sie hat sich verändert. Hinzu kam starker Druck aus der Wirtschaft und von uns als Verband. Wobei wir uns nicht als verlängerter Arm der Wirtschaft verstehen, die sich vielfach für den Ganztag aussprach, um sich die Arbeitskraft hoch qualifizierter Frauen zu sichern. Natürlich dienen Ganztagsangebote auch der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Als Verband sehen wir aber in erster Linie den pädagogischen Sinn.

Online-Redaktion: Der da wäre?

Walther: Ganztagsschulen - und da natürlich in erster Linie gebundene - haben einfach mehr Zeit und Raum, sich um die Schülerinnen und Schüler zu kümmern. Sie können den Unterricht und Tagesablauf ganz anders gestalten, können individuell fördern und durch breit gefächerte, über den Lehrplan hinausgehende Angebote Interessen wecken. Das sehen auch immer mehr Eltern so. Aber auch mich hat überrascht, dass bei der jüngsten JAKO-O Bildungsstudie herausgekommen ist, dass 56 Prozent der bayerischen Eltern inzwischen eine Schule mit Ganztagsangeboten für ihr Kind auswählen wollen. Und das, obwohl sie längst noch nicht mit allem zufrieden sind, was dort angeboten und wie Ganztag gelebt wird.

Online-Redaktion: Wo sehen Eltern Verbesserungsbedarf?

Walther: Ich fange einmal mit etwas Positivem an. Dass in Bayern der Besuch der Ganztagsschule bis auf den Beitrag fürs Mittagessen kostenfrei ist, ist eine ganz enorme Leistung des Landes, die man nicht hoch genug schätzen kann. Aber sicher können die  Rhythmisierung und die nachmittäglichen Angebote verbessert werden. Erforderlich ist darüber hinaus eine stärkere Einbindung von Sozialpädagogen. Vom Zusammenwirken und der Erfahrung der unterschiedlichen Professionen würden Schülerinnen und Schüler stark profitieren. Was viele Eltern uns gegenüber kritisch anmerken, ist die Qualität des Essens. Häufig, so wird uns berichtet, ist sie in den Schulen am besten, in denen Eltern selbst kochen. Das darf und sollte so nicht sein.

Online-Redaktion: Sehen Sie unterschiedliche Bedürfnisse von Eltern in ländlichen oder städtischen Räumen?

Walther: Die Bedürfnisse sind ähnlich. Aber die Voraussetzungen nicht. Ein großes Problem stellt im Ländlichen das Schulgesetz dar. Es schreibt vor, dass überall, wo eine gebundene Ganztagsschule eingerichtet werden soll, auch eine Halbtagsschule existieren muss. Im Klartext bedeutet das: Selbst wenn sich alle Eltern eines Dorfes einig wären, dass sie die gebundene Ganztagsschule wollen, müsste derzeit die Halbtagsschule bestehen bleiben. Manche Städte, wie etwa München und Nürnberg, haben mit massiven Raumproblemen zu kämpfen. Viele Schulen würden sich gerne zu Ganztagsschulen weiterentwickeln, haben aber schlichtweg nicht die Möglichkeit, die erforderlichen zusätzlichen Platzkapazitäten zu schaffen.

Online-Redaktion: Was erwarten Sie von der Ganztagsentwicklung in Bayern in den nächsten Jahren?

Walther: Es geht aufwärts, da bin ich ganz sicher. Man neigt ja dazu, über die Politik zu schimpfen. Aber man muss im Vergleich mit anderen Bundesländern, etwa jenen im Osten, auch fair bleiben. Bayerns Ausgangsposition mit Ganztagsschulen war eine viel niedrigere als etwa dort. So gesehen wurde bereits einiges erreicht, doch es ist halt ein zäher Prozess. Der aber leichter vorangetrieben werden kann, weil sich die Haltung zum Ganztag geändert hat. Dauerhaft wird dies auch für die Gymnasien gelten, an denen durch die Einführung des G 8 de facto zumindest von der Länge des täglichen Unterrichts Ganztageszustände herrschen. Leider sind wir hier noch nicht soweit wie in Rheinland-Pfalz, wo nur auf G 8 umgestellt werden kann, wenn gleichzeitig rhythmisierter Ganztag herrscht. Das hat dort übrigens maßgeblich der Landeselternbeirat eingefordert und durchgesetzt.

Online-Redaktion: Ist der Bayerische Elternverband ähnlich durchsetzungsfähig? 

Walther: Leider nicht. In Bayern haben wir - wie ansonsten nur noch in Nordrhein-Westfalen - keine gesetzlich legitimierte Elternvertretung auf Landesebene. Auf Landesebene existieren etwa zwölf unterschiedliche privatrechtliche Elternverbände. Wir sind der einzige, der nicht schulartspezifisch oder kirchlich gebunden ist. Wir verstehen uns als Vertreter aller Eltern. Die beschriebene Differenzierung führt bedauerlicherweise dazu, dass Eltern landesweit nicht mit einer Stimme sprechen und deshalb auch weniger Einfluss haben. Jeder Verband vertritt erst einmal seine ureigensten Interessen. Damit Eltern mehr Mitsprache und Gehör bekommen, ist es wichtig, dass eine gesetzliche Elternvertretung auf Landesebene etabliert wird. Dann würden alle Eltern vertreten, nicht nur die, die freiwillig zahlendes Mitglied in einem Elternverband sind.

Kategorien: Forschung - Berichte

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