Waldschule Obertshausen: "Man braucht auch ein bisschen Glück" : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Seit dem Schuljahr 2009/2010 nimmt die Waldschule Obertshausen am Modellversuch „Begabungsgerechte Schule“ teil. Die Offene Ganztagsgrundschule will zeigen, dass Inklusion gelingen kann.

Obertshausen im Kreis Offenbach war einst ein überregionales Zentrum der Lederwarenindustrie. „Heute gibt es davon nur noch Reste“, erklärt Günter Kaspar, der Rektor der Waldschule, „das Geschäft ist in Billiglohnländer abgewandert.“ Bei einer Fahrt durch den Ortsteil Hausen sieht man die vielen leer stehenden oder heute anders genutzten Fabrik- und Verwaltungsgebäude. Hier und da ragen Wohnblöcke in die Höhe, ein paar Straßen weiter dominieren Einfamilienhäuser und Villen, ebenfalls noch Zeugen der wirtschaftlichen Prosperität der Stadt.

Die soziale Mischung, die sich im Ortsteil Hausen auf der Fahrt zur Grundschule in der Bebauung zeigt, spiegelt sich auch in der Schülerschaft wider. „Die Kinder sind schon beim Schuleintritt von einer außerordentlichen Heterogenität geprägt“, hat Kaspar zusammen mit seinem Kollegium bereits vor Jahren festgestellt. Die erhöhte sich noch, als 2008 die Waldschule mit der anderen Grundschule im Ortsteil fusionierte.Passenderweise hatte die Bundesregierung damals das Investitionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ (IZBB) aufgelegt, wodurch die Gebäude aus den 1950-er Jahren so erweitert und umgebaut worden konnten, dass Besucher die Waldschule heute für einen Neubau halten könnten. Viel Glas und helle Farben sorgen für eine einladende Atmosphäre auch auf den Gängen.

Kommune versteht Bildung als Zukunftsinvestition

Der Waldschule gelang zugleich die Einigung auf ein neues Leitbild. Dieses manifestiert sich in einem Satz: „An der Waldschule soll jedes Kind ausgehend von seinem aktuellen Wissensstand und seinen Begabungen möglichst individuell zum größtmöglichen Wissenszuwachs gebracht werden.“

Schulfoyer von oben
Viel Platz und viel Licht – einladende Räumlichkeiten. © Waldschule Obertshausen

Auf diesen Leitgedanken verständigten sich Eltern, Kollegium und die Schulleitung gemeinsam. Günter Kaspar gibt zu, dass dies ein hoher Anspruch ist und manche Lehrerinnen und Lehrer auch heute noch zweifeln, ob man diesem Ideal immer gerecht werden kann. Aber dem Ziel fühlen sich alle Beteiligten verpflichtet – um so mehr, als die Waldschule seit dem Schuljahr 2009/2010 an dem auf vier Jahre angelegten Modellversuch „Begabungsgerechte Schule“ des Kreises Offenbach und des Landes Hessen teilnimmt. Hier lautet der Kernsatz: „Keine Aussortierung mehr von Schülerinnen und Schülern mit Lernhilfebedarf, sondern inklusive Beschulung in der Regelschule.“

Rektor Kaspar, der die Waldschule seit 1999 leitet, führt aus:„Unser ehemaliger Landrat Peter Walter hat verstanden, dass Bildung eine entscheidende Ressource für die Kommune ist. Deshalb sind sämtliche Schulen im Kreis komplett saniert worden, und man hat 2008 entschieden, als Landkreis an diesem Modellversuch teilzunehmen. Für diesen Schulversuch hat der Kreis auch wieder viel Geld in die Hand genommen und lässt ihn durch die Goethe-Universität Frankfurt am Main im Verbund mit der Pädagogischen Hochschule Heidelberg evaluieren.“

Konrektorin als Dauergast in den Kindertagesstätten

Kinder, die zur Waldschule wollen, müssen keinen Schulreifetest bestanden haben. Es gibt keine Zurückstellung, kein Sitzenbleiben und keine Überweisung in eine Förderschule. Letzteres ist laut Kaspar die höchste Hürde, da die weiterführenden Schulen auf die Integrationskinder noch nicht richtig vorbereitet seien, aber „wir befinden uns derzeit in guten Gesprächen“.

Am anderen Ende läuft die Zusammenarbeit mit den Kindertagesstätten „hervorragend“. Konrektorin Elke John ist an vier Tagen in der Woche in den Kitas, führt Gespräche mit den Erzieherinnen, den Eltern und den Kindern. Eineinhalb Jahre vor Schuleintritt führt sie ein erstes Aufnahmegespräch von 30 Minuten mit dem Kind und dessen Eltern. „Wir holen die Jungen und Mädchen dazu nicht in die Schule, sondern das Gespräch findet in der Kita statt“, berichtet Elke John.

Jede Modellschule verfügt über eine Sozialarbeiterstelle, aber von einer 1:1-Betreuung für die Integrationskinder kann keine Rede sein. „Die Schülerinnen und Schüler müssen sich hier selbstständiger bewegen. Am Anfang hatten wir deshalb Angst, ob das funktionieren kann“, erinnert sich die Konrektorin. „Was ist, wenn eine Schülerin vom Pausenhof einfach aus dem Tor marschiert und verschwindet? Aber diese Ängste sind inzwischen verflogen, wir haben nur gute Erfahrungen gemacht.“

Alle Professionen wirken zusammen

Für die 390 Schülerinnen und Schüler ist hilfreich, dass die Tage in der Klasse fest strukturiert sind und der Stundenbeginn jeweils ritualisiert ist. Die Klassenräume bleiben in Struktur und Einrichtung gleich. Der Unterricht erfolgt nach der Stundentafel, je nach Bedarf leisten die Pädagoginnen und Pädagogen mit den Kindern vertiefende oder kompensierende Unterrichtsarbeit in einem eigenen Raum. Hier geht es dann zum Beispiel um Konzentration, Leserechtschreibschwäche, Psychomotorik, Mathematik oder Deutsch.

Schulleiter Kaspar
Seit 1999 leitet Günter Kaspar die Waldschule. © Waldschule Obertshausen

Sämtliche 24 Lehrkräfte unterrichten dabei in Jahrgangsteams, und jeder im Team – also auch die Schulsozialarbeiterin, die Sozialpädagogin, die Sprachheilpädagogin, die zwei Förderschullehrkräfte, die FSJ-lerin und die Praktikanten – bringt die eigenen Kompetenzen in den Unterricht ein. Alle helfen, die Schülerinnen und Schüler bei eigenverantwortlichem Lernen zu unterstützen. Für alle stehen Arbeitsplätze zur Vor- und Nachbereitung in der Schule zur Verfügung.

Die Leistungen der Kinder werden durch Lernstandserhebungen und individuelle Lerndokumente festgehalten. Dank einer Ausnahmegenehmigung durch das Hessische Kultusministerium muss die Schule erst auf dem Abschlusszeugnis Noten geben. Bis zu jenem Zeitpunkt erhalten die Schülerinnen und Schüler verbale Zeugnisbeurteilungen auf der Basis von Kompetenzrastern.

„Das funktioniert sehr gut, was man auch daran merkt, dass kein Elternteil aus den Wolken fällt, wenn dann am Ende der 4. Klasse die Note steht“, berichtet Günter Kaspar. Die halbjährlichen Lernentwicklungsgespräche mit den Kindern und Eltern münden jeweils in Zielvereinbarungen und halten die Eltern so laufend orientiert. Das ist auch deshalb wichtig, weil es an der Waldschule keine Hausaufgaben mehr gibt, sondern Übungszeiten während des Unterrichts.

Fachkräfte statt „Billigheimer“

Ein wichtiger Baustein der Waldschule ist das offene Ganztagsangebot, das wahlweise bis 14.15 Uhr oder bis 16.30 Uhr belegt werden kann. Träger ist der Förderverein, der das Personal organisiert und die Betreuung im FreizeitPädagogischenZentrum (FPZ) sicherstellt. Das FPZ belegt einen eigenen Gebäudetrakt. Es ist aus der Fusion des städtischen Hortes, den Günter Kaspar an die Schule hatte holen können, und der Betreuung des Fördervereins hervorgegangen.

Rund 200 Schülerinnen und Schüler werden hier nach dem Mittagessen in der Mensa durch „Fachkräfte, keine Billigheimer“, wie der Rektor betont, gefördert und gefordert. Brigitte Reith, die FPZ-Geschäftsführerin, berichtet: „Wir sind stolz und glücklich, gezielte Projekte für die Kinder anzubieten, bei denen wir auch an motorischem und sozialem Lernen arbeiten können. Wir fördern die Schülerinnen und Schüler durch Projektarbeit wie beispielsweise unsere Walderkundung oder ‚Kinder kochen für Kinder’.“ Dafür stehen viele beeindruckend eingerichtete Räume wie unter anderem ein Ruhe-, ein Computer-, ein Bewegungs- und ein Bauzimmer sowie ein Malatelier zur Verfügung. Auf dem großen und vielfältig gestalteten Außengelände sind die Go-Karts der buchstäblich große Renner.

Günter Kaspar ist sich bewusst, dass seine Schule nicht die Norm ist und manche Schulleiter von den Bedingungen nur träumen können. Wenn er daran denkt, dass die Waldschule ihren Sonderstatus einmal einbüßen könnte und auf die im Schulgesetz festgeschriebene Norm zurückgeschraubt wird, graust es ihn. Aber was kann er denen raten, die mit dieser Norm leben müssen?

„Es ist ganz wichtig, dass sich alle Beteiligten in der Schule auf ein Ziel verständigt haben. Wenn man die Mehrheit des Kollegiums oder der Eltern hinter sich hat, muss man sich Verbündete suchen – in der Politik, in den Verbänden, in der Verwaltung, in den Medien, in der Öffentlichkeit. Da muss man ständig am Ball bleiben“, meint der Schulleiter. „Und auch wenn das jetzt seltsam klingen mag: Man braucht auch einfach ein bisschen Glück.“

Die Übernahme von Artikeln und Interviews - auch auszugsweise und/oder bei Nennung der Quelle - ist nur nach Zustimmung der Online-Redaktion erlaubt. Wir bitten um folgende Zitierweise: Autor/in: Artikelüberschrift. Datum. In: https://www.ganztagsschulen.org/xxx. Datum des Zugriffs: 00.00.0000