Stadtteilschule Stellingen: Demokratie will gelernt sein : Datum: Autor: Autor/in: Claudia Pittelkow

Demokratie braucht Bildung. An der Stadtteilschule Stellingen, einer gebundenen Ganztagsschule in Hamburg, lernen Schülerinnen und Schüler, was eine demokratische Gesellschaft ausmacht.

Sarajewo
Mit dem Bus durch Sarajewo: Hamburger Schülerinnen und Schüler im Schüleraustausch. © Stadtteilschule Stellingen

Wer in Deutschland aufgewachsen ist, für den ist Meinungsfreiheit eine Selbstverständlichkeit. Artikel 5 des Grundgesetzes gibt jedem Bundesbürger und jeder Bundesbürgerin das Recht, die eigene Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern. Dass dieses Recht allerdings sogar in manchen europäischen Nachbarländern nur auf dem Papier besteht, haben 17 Schülerinnen und Schüler der Stadtteilschule Stellingen bei einem Schüleraustausch in Bosnien-Herzegowina erlebt. „In Bosnien sprechen die Menschen aus Angst vor Repressalien in der Öffentlichkeit lieber keine politischen Themen an“, erzählt Abiturient Finn (18). Der Bosnienkrieg, vor 22 Jahren blutig beendet, sei in der Gast-Schule in Sarajevo sogar ganz und gar tabu. „Das Thema wird im Geschichtsunterricht einfach ausgelassen“, berichtet Nora (18).

„Schülerinnen und Schüler brauchen mehr als nur guten Unterricht“

Bereits seit 2005 organisiert die Stadtteilschule Stellingen, eine gebundene Ganztagsschule im Nordwesten Hamburgs, Austauschprojekte mit dem Vierten Gymnasium in der bosnischen Metropole Sarajevo. In zweiwöchigen Auslandsaufenthalten können die Schülerinnen und Schüler nicht nur ihre Fremdsprachenkenntnisse vertiefen, sondern gleichzeitig interkulturelle Erfahrungen sammeln. Denn die Jugendlichen sind in ihren Gastfamilien und beim Schulbesuch gleich mitten im Geschehen und lernen auf diese Weise Land und Leute im alltäglichen Leben kennen.

Schulleiter
Schulleiter Bernd Mader: „Schüler brauchen mehr als nur guten Unterricht.“ © Claudia Pittelkow

Nicht selten blicken sie nach einer solchen Reise mit anderen Augen auf ihre Heimat. Nora: „Zuhause regen wir uns auf, wenn in der Schule mal ein Smartboard nicht funktioniert. In Sarajevo hängt nur eine einfache Tafel an der Wand.“ Mitschüler Finn ergänzt: „Uns geht es extrem gut in Deutschland.“ Der Bosnien-Schüleraustausch ist nicht das einzige Auslandsprojekt der Schule. Auch mit Schulen in Spanien und Nicaragua bestehen langjährige Kooperationen.

„Schüler brauchen mehr als nur guten Unterricht“, findet Schulleiter Bernd Mader. Durch die Projekte würden die Jugendlichen lernen, ihren Horizont zu erweitern und über den eigenen Tellerrand hinauszublicken. So hat beispielsweise ein Straßenkinder-Projekt mit einer Partnerschule in Nicaragua, für das die Schülerinnen und Schüler Spenden mitgebracht haben, einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Ernesto (19) erzählt: „Wir haben Kinder kennengelernt, die den ganzen Tag betteln und nicht zur Schule gehen. Naomi (18): „Dort herrscht bittere Armut, die Regierung kümmert sich nicht um das Volk.“ Marten (16): „Wir haben echt Glück, in Deutschland zu leben und zur Schule gehen zu können.“

Mikrokosmos der Demokratie: „Stelli News“ und Schülerrat

Austauschprojekte sind ein Weg, den Jugendlichen im Vergleich aufzuzeigen, dass es auf der Welt große Unterschiede gibt, wenn es um Meinungsfreiheit, Bildungsmöglichkeiten und Demokratieverständnis geht. Daneben gibt es an der Stadtteilschule Stellingen eine ganze Reihe praktischer Möglichkeiten, die Rechte und Pflichten wahrzunehmen, die Meinungsfreiheit und Demokratieverständnis bieten beziehungsweise erfordern: sich einzubringen, mitzubestimmen und den Schulalltag mitzugestalten. Seit drei Jahren gibt es beispielsweise den Ganztagskurs „Schülerzeitung“, an dem zurzeit rund 20 Fünft- bis Achtklässler teilnehmen.

In den „Stelli News“ berichten die Nachwuchs-Journalisten über alles, was die Schule und die Schüler bewegt: vom weltweit größten Schachturnier, bei dem die Schule in diesem Jahr den Wanderpokal gewonnen hat, über ein Interview mit Bildungssenator Ties Rabe bis hin zum G20-Gipfel, der Thema auf einer Pressekonferenz für Schülerzeitungsredakteure im Hamburger Rathaus war. „Das war allerdings etwas langweilig, weil immer die gleichen Fragen gestellt wurden“, erinnert sich Adela (13).

Die beiden Siebtklässlerinnen Toni und Fiona (beide 13) engagieren sich im Schülerrat. Die Zwillinge sind Sprecherinnen des Gremiums, nehmen an den regelmäßigen Sitzungen teil und organisieren die demokratischen Wahlen mit, die jetzt anstehen. „Mir gefällt besonders, dass der Schülerrat jahrgangsübergreifend ist“, sagt Toni. „Auf diese Weise lernt man auch die Schüler aus der Oberstufe kennen und kann sich austauschen.“ Die Themen sind breit gefächert: Mal geht es darum, die Pausenhalle zu verschönern – hier haben alle Schülerinnen und Schüler ein Mitbestimmungsrecht –, mal stehen die Schultoiletten in der Kritik, oder es wird diskutiert, wie der Müll besser getrennt werden kann. Verbindungslehrer Jan Hüll, der als Vermittler zwischen Schülern und Lehrkräften tätig ist, erinnert sich: „Der Schülerrat hätte es fast geschafft, das Handyverbot an der Schule zu kippen.“

Schüleraustausch
Schülerinnen und Schüler sammeln Erfahrungen in Nicaragua. © Stadtteilschule Stellingen

Als Mikrokosmos der Gesellschaft können Schulen vermitteln, wie Demokratie funktionieren sollte. Dazu braucht es zum einen gemeinsam entwickelte Regeln und feste Strukturen wie Schulkonferenzen, Klassenräte und Schülervertretungen, die ernst genommen und unterstützt werden. Zum anderen fördert die Arbeit an gesellschaftlich relevanten Projekten das Erleben von Demokratie. Für die Stadtteilschule Stellingen gehört beides seit langem zum Schulalltag. Demokratieerziehung wird hier groß geschrieben.

Feedback-Kultur statt „Meckerrunde“

Mitreden und mitbestimmen – das sollen aber nicht nur die rund 1.100 Schülerinnen und Schüler, sondern auch die Eltern. Bernd Mader: „Demokratiebildung ist wichtig bei uns. Unser Elternrat steht voll und ganz hinter der Schule, die Eltern arbeiten an der Entwicklung der Schule mit.“ Im eigenen Mensa-Ausschuss unter Leitung des Elternrats werde über die Qualität des Essens diskutiert. Seitdem gibt es weder Kuchen noch Schokocroissants in der Kantine – was nach anfänglichem Murren gut akzeptiert wird.

Außerdem gebe es an der Schule eine gute Feedback-Kultur, „keine Meckerrunde“, so Mader. Der Pädagoge arbeitet bereits seit 21 Jahren an der „Stelli“, erst als Lehrer, später als Schulleiter. Seine Schülerschaft kennt er deshalb ganz genau. „Es ist großartig, wie hier alle, egal ob hochbegabt oder mit Förderbedarf, in ihrer Unterschiedlichkeit zusammen lernen.“

Die Stadtteilschule Stellingen ist seit vier Jahren eine gebundene Ganztagsschule, gestartet mit den Klassen 5 und 6 und nun langsam hochwachsend. Zwei Jahre sei der Ganztagsbetrieb vorbereitet worden, berichtet Ganztagskoordinator Ole Arnz. „Wir haben verschiedene Konzepte in Erwägung gezogen und uns schließlich für die gebundene Form entschieden, wegen der Chancengleichheit. Ziel sei gewesen, mehr Schülerinnen und Schüler zu erreichen, die nicht aus den klassischen Bildungsmilieus kommen. „Das funktioniert im gebundenen Ganztag am besten.“ Die größte Herausforderung dabei: mit dem Geld auskommen und für alle die richtigen Angebote schaffen. Heute bietet die Schule rund 40 Kurse an. Inzwischen ist geplant, den Ganztag ein Stück weit zu öffnen. Arnz: „Wir wollen die Möglichkeit bieten, sich auch außerhalb der Schule für Kurse anzumelden, etwa für Ballettkurse.“

Demokratie im Ganztag

Die geplante Öffnung des Ganztags ist ein Beispiel dafür, dass die Schule im Laufe der Jahre immer wieder auf Dinge reagiert hat, die nicht so gut laufen oder besser laufen könnten.

Lehrer
Die Lehrer René Hartenfels (l.) und Ole Arnz koordinieren Öffentlichkeitsarbeit und Ganztag. © Claudia Pittelkow

Wenn verstärkt Ballett oder Reiten nachgefragt werden, versucht die Schule, das zu ermöglichen. Auch die Rhythmisierung wurde verändert, Hausaufgaben in den Nebenfächern wurden abgeschafft. Mader: „Unsere Schüler sind 37 Stunden pro Woche in der Schule, das ist eine volle Arbeitswoche, da können sie nicht noch abends zu Hause Hausaufgaben erledigen.“

Hausaufgaben – besser gesagt: Schulaufgaben gibt es mittlerweile nur noch in den Kernfächern Mathematik, Deutsch und Fremdsprachen. Erledigt werden sie an vier Stunden pro Woche in der „Studienzeit“. Gefeilt wurde auch an den Förderkursen, die nicht mehr wie früher nur freitags stattfinden, sondern jetzt in den Ganztag integriert sind. Gleiches gilt für den „Forder“-Kurs für Kinder mit herausragenden Leistungen. Die neueste Idee hat wiederum mit der Mitbestimmung zu tun: Derzeit wird überlegt, den Schülerrat als wöchentlichen Kurs in den Ganztag zu integrieren.

 

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