Politische Bildung im Ganztagsgymnasium : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Das Gymnasium am Neandertal ist über die Grenzen von Erkrath hinaus für seine Kunstinstallationen und Projekte in der politischen Bildung, aber auch für seine Schul- und Unterrichtsentwicklung bekannt.

Außenansicht des Gymnasiums am Neandertal
Seit 2009/2010 ist das Gymnasium eine gebundene Ganztagsschule. © Gymnasium am Neandertal

Wer Herbert Griesmann, den Ganztagskoordinator des Gymnasiums am Neandertal in Erkrath nach den Aktivitäten der Schule im Bereich der politischen Bildung fragt, muss etwas Zeit mitbringen. Denn es sind beeindruckende Projekte, die das gebundene Ganztagsgymnasium auf die Beine stellt, wohlgemerkt neben den Inhalten des Curriculums Sozialwissenschaften im Unterricht.

„Zuerst mal sind wir ‚Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage’“, erläutert Griesmann, der selbst Kunst und Sozialwissenschaften unterrichtet. „Eine Klasse hat gerade überlegt, welches Kunstobjekt wir zum Thema Flucht und Migration schaffen können. Es soll Teil eines ‚Skulpturenpfads’ für den öffentlichen Raum werden und so auch die Erkrather Öffentlichkeit erreichen.“ Bereits vor drei Jahren haben Schülerinnen und Schüler im Bavierpark ein Mahnmal zur Erinnerung an die Opfer der NS-Diktatur in Erkrath aufgestellt.

Kunst und politische Bildung mit Wirkung im öffentlichen Raum

Schülerinnen und Schüler haben zusammen mit dem Medienzentrum die Geschichte Erkraths in der Zeit des Nationalsozialismus aufgearbeitet und dafür eine Stadtrallye entwickelt. Dafür setzen sie eine Biparcours-App für Smartphone und Tablet ein. Zusammen mit Seminarteilnehmern eines VHS-Kurses sind die Gymnasiasten die verschiedenen Wege zu den geschichtsträchtigen Orten in der Stadt bereits abgegangen. Ein ähnlicher Biparcours war 2016 im Rahmen der Wanderausstellung „200 Jahre Kreis Mettmann“ entstanden.

Das Gymnasium am Neandertal ist für seine öffentlichkeitswirksamen Ausstellungen längst bekannt. Das begann vor fünf Jahren mit der Ausstellung „.einbaum“,  einem landesweit beachteten Projekt gegen Rechtsextremismus, das viel Beachtung fand. „Von der wir heute noch zehren“, wie Herbert Griesmann berichtet. Institutionen kamen seitdem auf das Ganztagsgymnasium zu und fragen an, ob die Schülerinnen und Schüler bestimmte Themen aufarbeiten.

Foto eines geschnitzen Einbaum-Bootes
Schulübergreifendes Kunstprojekt gegen Rechtsextremismus. © Gymnasium am Neandertal

Und dabei geht es nicht nur um Geschichte. „Vor dem Erkrather Bahnhof steht unsere Installation zur Zukunft des Autos. Da haben wir all die Diskussionen um den Sinn und Unsinn des Verbrennungsmotors thematisiert und vorweggenommen“, erzählt Griesmann. „Wir nehmen regelmäßig an der ‚Juniorwahl’ teil. Davor laden wir immer Politikerinnen und Politiker zu Podiumsdiskussionen ein. Die Schülerinnen und Schüler stellen ihre vorbereiteten Fragen und haken auch schon mal ganz schön nach, wenn sie mit Antworten nicht zufrieden sind.“

Von der „Model United Nations“-Konferenz bis zum „Smoothie-Fonds“

Regelmäßig besuchen die Schülerinnen und Schüler den Landtag. 2012 diskutierten zehn Schülerinnen und Schüler im „Jugenddialog“ sogar in Berlin mit der Bundeskanzlerin, unter anderem über das Thema Bildungschancen. In einer Zukunftswerkstatt hatten sie die Diskussion vorbereitet. Zurzeit arbeiten die Schülerinnen und Schüler an der Teilnahme an Model United Nations (MUN), bei dem sie in einer Internet-Simulation in die Rolle von Delegierten bei den Vereinten Nationen schlüpfen. Sie werden auch zur nächsten internationalen MUN-Konferenz nach Bonn fahren.

Die Radio-AG nimmt gesellschaftliche Themen aus dem Unterricht auf, so zum Beispiel zu den Auswirkungen der Globalisierung. Der Regionalsender Radio Neandertal hat inzwischen rund 15 solcher Sendungen in seinem Bürgerfunk ausgestrahlt. Über den Sozialdienst katholischer Frauen und Männer (SKFM), der als ständiger Kooperationspartner im Ganztag mitwirkt, haben Schülerinnen und Schüler ein Sozialkaufhausprojekt und eine Fotoausstellung über den Alltag von Migranten in Erkrath organisiert. Weitere Partner sind die Friedrich-Ebert-Stiftung oder der Wirtschaftskreis Erkrath, mit dem die Schülerinnen und Schüler über Stadtgestaltung diskutieren und in den Nawi-Wochen in naturwissenschaftliche Berufe hineinschnuppern.

Mobile Saftbar
Gesundes aus nachhaltiger Landwirtschaft im mobilen Fruchtladen © Gymnasium am Neandertal

Nachdem Erkrath vor zwei Jahren Fair-Trade-Stadt geworden ist, haben sich die Schülerinnen und Schüler auch verstärkt mit Beiträgen zum fairen Handel eingebracht. Beim „Deutschen Gründerpreis für Schüler 2018“ beteiligte sich ein Team der Schule mit einem Projekt „Mobile Smoothie- und Vitaminbar auf Rädern“ für Schulen und Kantinen. Es geht darum, ein so teures Projekt wie Smoothies für alle erschwinglich zu machen. Für ihren „Smoothie-Fonds“ sammeln sie jetzt bei ihren Eltern Geld ein „und appellieren an deren soziales Gewissen“, schmunzelt der Ganztagskoordinator.

Das Besondere: „Alle Projekte sind an den Unterricht angebunden“, stellt Schulleiter Hans Gruttmann klar. Die Möglichkeit der Kapitalisierung von Stellen begrüßt er: „Ich kann nur jeder Ganztagsschule dazu raten, außerschulische Kräfte in die Schule zu holen.“

Ganztag mit Netzwerk: „…enorm bereichernd“

Seit dem Schuljahr 2009/2010 ist das Gymnasium am Neandertal mit seinen rund 740 Schülerinnen und Schülern eine gebundene Ganztagsschule, als eines der ersten Gymnasien im Kreis Mettmann. Unterstützung gab das Land Nordrhein-Westfalen: mit zusätzlichen Ressourcen für den gebundenen Ganztag in G8-Gymnasien. „Wir haben uns das sehr genau angeschaut“, erinnert sich Hans Gruttmann. „Und dann in der Schulkonferenz bei einer Gegenstimme für den Ganztag votiert.“

Für den Schulleiter war es ein „sachlogischer Weg“ dorthin. Zum einen empfand er bei seinem Amtsantritt 2007 eine „chaotische Umsetzung von G8“. Zum anderen war es auch eine Frage im Wettbewerb der Gymnasien an der Stadtgrenze zu Düsseldorf. „Es gibt hier im Umkreis von sieben Kilometern zehn Gymnasien. Da geht es rund“, meint Gruttmann. Bei der Etablierung des Ganztags halfen ein noch heute bestehender Arbeitskreis von Eltern, Lehrkräften, Schülerinnen und Schülern und die Zusammenarbeit mit der Serviceagentur „Ganztägig lernen“.

Plakat zur Theateraufführung "Shakespeare #Sturm"
© Gymnasium am Neandertal

Deren Zukunftswerkstatt „Dem Ganztag ein Gesicht geben“ empfindet Ganztagskoordinator Herbert Griesmann als „herausragend“. Dank IZBB-Mitteln und Unterstützung des Schulträgers konnte 2011 eine Mensa eröffnet werden, die auch von der Städtischen Realschule genutzt wird. Zugleich begann sich das Gymnasium in Netzwerken wie „Labor Lernkultur“ im Programm „Ganztägig lernen“ und im Netzwerk „Zukunftsschulen NRW“ zu engagieren. „Mittlerweile wüsste ich gar nicht mehr, wie es ohne diese Vernetzung gehen sollte“, findet Hans Gruttmann. „Der Austausch ist enorm bereichernd.“

„Für ein klassisches Gymnasium ungewöhnlich“

„Das große Plus am Ganztag ist die massive Entschleunigung des Tages. Hatten wir früher bis zu sieben Einzelfächer am Tag, sind es heute im Idealfall drei“, sagt der Schulleiter. Der längere Schultag hat in den letzten Jahren viel Schulentwicklungsarbeit angestoßen, einschließlich der Veränderungen des Unterrichts. Das Ganztagsgymnasium setzt auf ein 60-Minuten-Modell statt auf Einzelstunden, hat das Lehrerfachraumprinzip und ein neues Lernzeitenkonzept eingeführt. Die früher als Hausaufgaben in die Familien ausgelagerten Aufgabenzeiten sind zu Lernzeiten in der Schule geworden. Dazu haben alle Fächer ein Drittel ihrer Unterrichtszeit abgetreten.

„Es geht darum, Lernprozesse zu reflektieren, dass Schülerinnen und Schüler eigenverantwortlich ihren Lernprozess mitorganisieren und dass es auch Zeiten für die Arbeit der Schüler untereinander gibt“, erläutert Beate Gorgels, die stellvertretende Schulleiterin. Die Schülerinnen und Schüler erhalten sogenannte Lernzeitenplaner zur selbstständigen Dokumentation ihrer Lernprozesse. Die zu bearbeitenden Aufgaben der Lernpläne sind über zwei Jahre lang von den Fachschaften, unter anderem an vier Tagen schulinterner Fortbildung, gemeinsam erarbeitet worden. „Für ein klassisches Gymnasium ist diese intensive Teamarbeit des Kollegiums an Unterrichtsfragen ungewöhnlich“, findet die stellvertretende Schulleiterin.

Ruder-AG auf dem Wasser
Ehrenamtliches Engagement im Ruderverein der Schule. © Gymnasium am Neandertal

Hans Gruttmann ergänzt: „Das Kollegium ist während dieses Prozesses eng zusammengewachsen. Als Schulleiter kann ich solche Prozesse initiieren und hoffen, dass was daraus wird. Aber wenn dann nach den zwei Jahren Kolleginnen und Kollegen auf mich zukommen und sagen, sie wollten gerne mal kollegiale Hospitationen durchführen – dann kann man als Schulleiter nur noch jubeln.“

Hausaufgabendiskussion hat sich erledigt

Die Lernzeiten haben Auswirkungen auf die Rolle von Eltern und Lehrkräften, meint Beate Gorgels: „Die müssen in gewisser Weise lernen, abzugeben und zu vertrauen“. Die Lehrerin oder der Lehrer ist nun oft in der Rolle eines Lernbegleiters, „der mit dem Schüler bespricht, was ihm hilft, zu einer Lösung zu kommen. Man muss den Schüler auf den Lernprozess stoßen, ihm Werkzeuge an die Hand geben, dass er selbst Lösungsmöglichkeiten findet.“

Schulleiter Hans Gruttmann ist überzeugt, dass die Lernzeiten mit der gezielten Förderung die Chancengleichheit unterstützen. „Mir fallen jetzt viel eher diejenigen Schülerinnen und Schüler auf, die Probleme haben. Mit dem Einzelnen dann sprechen und ihn stärken zu können, finde ich in diesem System großartig aufgehoben.“ Und die Jugendlichen schätzten die schnelle Rückmeldung in den Lernzeiten. Viele Kolleginnen und Kollegen wiederum sehen die Entlastung und die Zusammenarbeit in Teams. Es gibt keinen Unterrichtsausfall und keine Springstunden mehr, weil mit den Lernzeitenplanern alle Lehrerinnen und Lehrer vertraut sind. Und der Lernzeitenplaner ist zugleich Kommunikationsmittel zwischen Schülerinnen und Schülern, Lehrkräften und Eltern.

„Wir haben noch bei weitem nicht ausgereizt, was an Rhythmisierung in einer Ganztagsschule möglich ist. Aber Prozesse müssen langsam laufen, alle müssen sich mitgenommen fühlen“, wie Hans Gruttmann als erfahrener Schulleiter weiß. Doch jetzt wirft erst einmal ein freudiges Ereignis seinen Schatten voraus: Das Gymnasium am Neandertal feiert sein 50-jähriges Bestehen. Zum Festprogramm der Schule und der Stadt Erkrath gehören von Juli bis September ein Musikabend und eine Kunstausstellung in der Stadthalle, ein Spendenlauf im Toni-Turek-Stadion, der Fußball-Memory-Cup, Projekttage, ein Schul- und Lernfest, schließlich der Festakt in der Stadthalle. Auf die nächsten 50 Jahre!

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