Offenheit prägt die Ganztagsgrundschule an der Comeniusstraße : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Eine ausgeprägte Offenheit für andere und ihre Ideen kennzeichnet die Arbeit der Ganztagsgrundschule an der Comeniusstraße in Braunschweig.

Entspannt und gut gelaunt sitzen Ute Wasserbauer und Brigitte Rössing im Schulleitungsbüro der mitten im östlichen Ringgebiet gelegenen Schule. Die Leiterin des Kinderhauses Brunsviga und die Rektorin der Offenen Ganztagsgrundschule stellen so etwas wie die Personifizierung gelingender Kooperation dar. Sie arbeiteten schon zusammen, als von Ganztagsschule noch keine Rede war. Anfangs waren „nur“ die Kinder die Bindeglieder. Morgens besuchten sie die Schule, nachmittags nutzten viele die Angebote der Offenen Kinderarbeit der auf einem ehemaligen Fabrikgelände beheimateten „Brunsviga“. Die Annäherung fand schrittweise statt.

Möglich war sie nur durch die Bereitschaft beider Seiten, sich der anderen Profession zu öffnen. 1994 teilten sich die beiden Einrichtungen einen pädagogischen Mitarbeiter im Rahmen einer ABM-Maßnahme, nachdem zwei Jahre zuvor die „Volle Halbtagsschule“ eingeführt worden war. Vier Jahre später wurde die erste Hortgruppe in der Schule gegründet. Sie wuchs und wuchs ebenso wie der Bedarf und der Wunsch nach einer Offenen Ganztagsgrundschule. Deren Einführung wurde 2005 ohne Gegenstimme beschlossen. Ein Hinweis für den Haltungs- und Einstellungswandel im Kollegium. War die Zustimmung zur „Vollen Halbtagsschule“ 1991 im Kollegium doch noch äußerst knapp ausgefallen. Ein 14:10 für das „Ja“ stand am Ende zu Buche.

Aus Gästen wurden gleichberechtigte Partner

Was, so fragt sich der Betrachter, hat sich in diesen Jahren verändert? Wie sind zwei Professionen so zusammengewachsen, dass die gemeinsam entwickelten Angebote im Rahmen der Offenen Ganztagsgrundschule von 380 der 390 Schülerinnen und Schüler angenommen werden? Schulleiterin Brigitte Rössing: „Es ist ein ganz langer Prozess, der auch bis heute nicht abgeschlossen ist. Ich glaube, unsere Stärke war, dass wir die Profession des anderen von Anfang an geschätzt und als Bereicherung, ja als Geschenk, betrachtet haben.“ Ute Wasserbauer sieht es ähnlich und verweist dennoch auf die eigene Haltung mit der sie und ihr Team in die Schule gekommen sind: „Wir sind als Gäste gekommen und haben Lehrerinnen und Lehrer als Respektpersonen betrachtet.“ Die gegenseitige Wertschätzung aber war schnell greifbar. Aus Gästen wurden gleichberechtigte Partner. Darum empfindet es Brigitte Rössing einfach nur als „beschämend“, dass Erzieherinnen soviel schlechter bezahlt werden.

© Grundschule Comeniusstraße

Aus ihrer durchaus anderen Sichtweise auf Kinder machten beide Seiten von Beginn an keinen Hehl. Doch im Mittelpunkt aller Bestrebungen stand das Positive am gemeinsamen Handeln: Wie können wir voneinander profitieren? Ute Wasserbauer nennt Beispiele: „Jugendhilfe arbeitet oft freier. Da geht es auch deutlich lauter zu. Schule braucht viel mehr Ruhe.“ Und: „So strukturiert und mit klaren Plänen wie die Schule haben wir nie gearbeitet. Jetzt schätze ich die Vorzüge.“ Kein Wunder. Schließlich gilt es unter anderem mehr als 80 unterschiedlichste Arbeitsgemeinschaften zu organisieren. Brigitte Rössing schildert die Teambildung aus ihrer Sicht an einem konkreten Fall: die Nutzung der Klassenräume. Schmunzelnd erklärt sie das traditionelle Lehrer/innen-Verhalten: „Die Klassenlehrerin beendet den Unterricht. Sie räumt alles schön an seinen Platz, schließt den Klassenraum ab und freut sich am nächsten Morgen, alles wiederzufinden.“ Dieses Prinzip kann an der Comenius-Grundschule nicht mehr durchgehalten werden. Die Klassenräume sind ganztags geöffnet und werden allesamt für Arbeitsgemeinschaften des OGS-Trägers und zur Durchführung von Förderangeboten genutzt. „Die unterschiedliche Vorstellung von Ordnung und Regeln hat hier durchaus zu heftigen Diskussionen geführt“, gesteht die Schulleiterin. Doch auch diese gehören der Vergangenheit an.

Nicht immer ist ein Kompromiss die Lösung. Die Einschätzung ist Rössing und Wasserbauer wichtig. „Kompromisse können schnell faule Kompromisse zu Lasten der Kinder bedeuten. Jede Profession muss in ihrer Haltung auch einmal zurückstecken. Das ergibt schließlich eine gesunde Mitte.“ Das Bemühen um den gemeinsamen Weg erfordert kontinuierlichen Austausch über jedes einzelne Kind und über die Weiterentwicklung der Schule. Die Kommunikation findet in gemeinsamen Konferenzen, bei Einzelfallbesprechungen sowie in Teamsitzungen der vier, jeweils aus einer Klasse einer Jahrgangsstufe bestehenden Flurgemeinschaften und im permanenten persönlichen Gespräch (Wasserbauer: „Fast schon Tag und Nacht“) statt. Protokolle sämtlicher Gesprächsrunden gehen dank guter medialer Vernetzung an alle.

Schülerwünsche werden ernst genommen

Die Offenheit beschränkt sich nicht auf die Art der Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe. Brigitte Rössing: „Wir schauen uns an, wie es andere machen und versuchen, daraus Schlüsse für uns zu ziehen, wissend, dass es keine Patentrezepte gibt.“ In Schweden holte sich das Team Impulse, aber auch in Deutschland. Die Neue Schule Wolfsburg war ein Ziel. Von dort nahm man unter anderem die Idee mit, ein gemeinsames Frühstück für die Comenius-Kinder zu organisieren. Eines, bei dem die Schüler nichts mitbringen müssen. „Dann können alle das gleiche Angebot nutzen. Es gibt keine hektischen Tauschaktionen und keine Kinder mehr, die gar nichts dabei haben“, sagt Rössing. Was sie nicht ausdrücklich betonen will: Das von der Schule vorbereitete Frühstück garantiert auch einen gewissen Qualitätsstandard.

Dass Offenheit auch die Einbindung von Kindern und Eltern sowie die Wertschätzung ihrer Meinung bedeutet, erfuhren erst kürzlich die Schülerinnen und Schüler. Die Frage einer Studentin, die die Schule im Rahmen ihrer Masterarbeit besuchte, was die Kinder von der täglichen Bewegungspause hielten, beantwortete ein Mädchen mit dem Hinweis, dass die Bewegungsphase super sei, sie es für sinnvoller hielte, die Frühstückpause anschließend und nicht davor anzubieten. „Warum?“ hakte die junge Frau nach und erhielt die wohldurchdachte Antwort: „Dann haben wir nach dem Toben noch Zeit, ,herunterzukommen`, bevor der Unterricht weitergeht.“ Die Anregung verhallte nicht ungehört. Zum kommenden Schuljahr soll der Tagesablauf entsprechend angepasst werden. Dass es sich um keinen Einzelfall von Partizipation handelt, bestätigen zwei Viertklässlerin. „Alle haben hier ein offenes Ohr für unsere Wünsche“, sagen sie und kontern die Nachfrage, ob das in Schule und „Betreuung“ gleichermaßen der Fall sei, mit einer Portion Unverständnis: „Den Unterschied merken wir eigentlich gar nicht. Die Erwachsenen sind einfach alle für uns da.“

„Dasein für die Kinder“

„Dasein für die Kinder“, könnte zweifellos ein Motto der Schule lauten. Brigitte Rössing formuliert es so: „Wir möchten die Umgebung so gestalten, dass Kinder sich frei entfalten können.“ Zu dieser Entfaltung zählt auch die gezielte Förderung von Stärken und Schwächen. Aus der Reihe der Unterstützungssysteme für Leistungsstärkere seien nur zwei genannt. Ein pensionierter Gymnasiallehrer nimmt sich kleiner „Mathematikgenies“ einmal wöchentlich in einer Sondereinheit an. Dafür werden die Kinder auch schon einmal aus dem Unterricht anderer Fächer herausgenommen oder verzichten auf die Teilnahme an der täglichen Lernzeit, die einerseits Förderangebote beinhaltet zugleich aber Raum bietet, aus Haus- Schulaufgaben werden zu lassen. In Kooperation mit dem benachbarten Wilhelm-Gymnasium bietet die Grundschule eine naturwissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft am Nachmittag an. Rössing und Wasserbauer sind überzeugt: „Es muss uns immer gelingen, die Stärken von Kindern zu entdecken, manchmal vielleicht herauszukitzeln. Wer seine Stärken kennt, kann mit seinen Schwächen besser umgehen.“ Sie erinnern sich an einen Schüler, der in nahezu allen Fächern zu den weniger Leistungsstarken zählte. „Als sein außergewöhnliches Talent für Basketball entdeckt worden war, stiegen seine Achtung bei den anderen, aber auch das eigene Selbstwertgefühl sprunghaft an“, berichten sie.

Spricht man mit den beiden „Müttern“ dieser Offenen Ganztagsgrundschule über leistungsschwächere Schüler, so wählen sie für diese Gruppe bewusst eine andere Bezeichnung: Kinder, denen es nicht so gut geht. Selbstkritisch merken Rössing und Wasserbauer an, dass es „uns noch besser gelingen muss, stärker individuell zu fördern“. Doch so manch ein Angebot trägt schon jetzt zur persönlichen Stabilisierung bei. So die Reitfördergruppe. In ihr versammeln sich Kinder mit psychomotorischen Schwierigkeiten. Für die Schulleiterin steht fest: „Durch den regelmäßigen Umgang mit Tieren gewinnen die Kinder an Selbstbewusstsein. Das wirkt sich auf ihre Lern- und Leistungsfähigkeit aus.“ Für Kinder, „die den Unterricht nicht mehr durchhalten“, bietet die Schule eine tägliche Auszeit in einer Kleingruppe an. Dort können sie spielerisch lernen (z.B. Zahlen auf die Treppenstufen malen) und so neue Kraft sammeln. Als Makel empfinden die Kinder die Zuteilung zu diesem kleinen Team nicht. Geradezu freudestrahlend sagt eines von ihnen: „Prima, ich gehe jetzt zu Katrin und Kerstin“. Die beiden sind Sozialpädagoginnen und betreuen die Gruppe.

Das Erreichte weiter ausbauen

Mit Spannung blickt eine ganze Schule nun auf die Vergabe des Deutschen Schulpreises am 3. Juni 2013 in Berlin. „Die Nominierung zeigt, dass wir uns auf einem guten Weg befinden“, erklären Rössing und Wasserbauer. Doch damit wollen sie sich nicht zufrieden geben. „Schule, insbesondere aber auch eine Offene Ganztagsschule muss sich immer weiterentwickeln und das Leben widerspiegeln“, betonen sie. Verbesserungspotenziale haben sie schon ausgemacht. So wird Jahrgangsübergreifender Unterricht in den Flurgemeinschaften angestrebt und, wenn es nach der Schulleiterin geht, sollte es normal werden, dass Pädagoginnen und Pädagogen ihren Arbeitsplatz ganztags in der Schule haben. Die Einsicht dafür aber ist nach ihrer Überzeugung insbesondere beim an einer Grundschule tätigen Personal nur zu gewinnen, wenn die Effizienz der in der Schule verbrachten Zeit gesehen wird. Sie denkt dabei etwa an die nachmittäglichen Konferenzen: „Da können wir sicher noch straffere Formen des Gesprächs finden“, gesteht sie. Man wird sich andernorts und in Schulungen darum bemühen – ganz im Geiste der Offenheit.

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