Oberschule an der Julius-Brecht-Allee in Bremen : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Individuelle Förderung und Partizipation, auch mit Unterstützung der Schulsozialarbeit, sind Schwerpunkte an der Ganztagsschule im Bremer Stadtteil Neue Vahr.

Schülergruppe
© Oberschule an der Julius-Brecht-Allee Bremen

Gut die Hälfte der ca. 620 Schülerinnen und Schüler des ehemaligen Schulzentrums an der Julius-Brecht-Allee, das mit der Bremer Schulreform 2011 zur Oberschule wurde und 2009/2010 den gebundenen Ganztagsbetrieb aufgenommen hat, kommen aus Familien mit Migrationshintergrund. Salomon und Anita sind zwei von ihnen. Die beiden Zwölfjährigen blicken auf togolesische und russische Wurzeln zurück. Das nahezu selbstverständliche Miteinander der Kulturen empfinden beide als Bereicherung. Salomon meint: „Wir lernen an dieser Schule ganz viel über andere Sprachen und Kulturen.“

Studierzeit statt Hausaufgaben

Profitieren können nach Ansicht der beiden alle davon. Etwa in der „Studierzeit“, die an dieser Schule die traditionellen Hausaufgaben ersetzt. Viermal pro Woche können in ihr Inhalte vertieft werden. Zwar stehen die Klassenlehrerin oder der Klassenlehrer stets als Ansprechpartner zur Verfügung, doch das selbstgesteuerte Lernen und das Miteinander der Jugendlichen prägen die Studierzeit. Anita etwa hilft regelmäßig einer Klassenkameradin, die aus Ghana stammt. Sie zeigt zugleich Verständnis für ihre Lehrer: „Die können ja gar nicht alles und jedem Einzelnen immer wieder erklären.“ Außerdem, meinen Anita und Salomon, sei es manchmal sogar besser, etwas von Gleichaltrigen vermittelt zu bekommen: „Wir erklären das mit ganz anderen Worten. Und dann kann es der andere leichter verstehen.“. Und weil das Konzept der Schule so gut funktioniert, äußert Salomon auf die Frage nach Verbesserungspotenzialen: „Etwas mehr Studierzeit wäre gut.“

Dass die individuelle Förderung und der Blick auf den Einzelnen im Fokus der Schule stehen, betont Ganztagskoordinator Jan Thiele. Als Beispiel führt er die Flexibilität in jedem Unterrichtsfach an. Vier Stunden Mathematik auf dem Stundenplan bedeuteten nicht, dass vier Stunden lang frontal „unterrichtet werde“, so Jan Thiele. „Von diesen vier Stunden werden zwei vom Lehrer gesteuert, in den beiden anderen arbeiten die Schüler im Lernbüro, und zwar in ihrem Tempo und an ihrem Schwierigkeitsgrad.“ Dass die Schule bis Klasse 7 statt Notenzeugnissen Lernentwicklungsberichte vergibt, erleichtert die Individualisierung. Lernentwicklungsberichte fassen die persönlichen Fortschritte, aber auch Förderbedarfe zusammen. Jan Thiele macht aus seinen leichten Zweifeln an der notenfreien Phase kein Geheimnis: „Ganz überzeugt bin ich davon nicht. Manchmal fehlt so manchen Schülern der Ansporn.“ Und Eltern könnten schriftliche Beurteilungen nicht immer einschätzen.

Individualität und Inklusion

Schüler beim Lernen
© Oberschule an der Julius-Brecht-Allee Bremen

Individualität ist auch bei Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf gefragt. Fünf von ihnen werden in jedem Schuljahr aufgenommen. Bewusst entschied sich die Schule, sie auf die Klassen zu verteilen. So soll verhindert werden, dass sie als Gruppe in einer Klasse isoliert bleiben. Die bisherigen positiven Erfahrungen bestätigen nach Ansicht Thieles die ursprüngliche Konzeption. Anders agiert die Schule bei der Integration der vier bis fünf Schülerinnen und Schüler, die pro Jahr mit einer geistigen Beeinträchtigung an die Julius-Brecht-Allee kommen. Sie werden in einer eigenen Kleinklasse von einem Lehrer, einem Sonderpädagogen und Assistenzkräften unterrichtet. Wann immer es sinnvoll und möglich erscheint, werden sie in den Unterricht der Partnerklasse eingebunden.

Für die unter den Pädagogen und Betreuern erforderliche Abstimmung wurden regelmäßig stattfindende Konferenzen etabliert. Geeignete Raum- und Besprechungsmöglichkeiten existieren. Jan Thiele nennt es „durchaus vorzeigbare Arbeitsmöglichkeiten“. Ein „Lehrerstützpunkt“ mit individuellen Arbeitsplätzen sowie ein großes Lehrerzimmer mit angrenzender, mit Liegen ausgestatteter Ruhezone, sorgen dafür, dass manch ein Kollege mit dem Gedanken spielt, seinen Arbeitsplatz komplett an die Schule zu verlegen. Rückzugs- und Ruheräume stehen auch den Schülerinnen und Schülern in Form einer „Chillzone“ mit Kicker und Billard sowie einer Ruhezone („Sockenraum“) zur Verfügung. „Unter Rhythmisierung verstehen wir eben nicht nur die Verteilung der Unterrichtsfächer und Arbeitsgemeinschaften über den ganzen Tag, sondern auch die feste Etablierung von Entspannungs- und Bewegungsphasen“, erklärt der Ganztagskoordinator.

Im bundesweiten Netzwerk aktiv

Schüler beim Tischtennis
© Oberschule an der Julius-Brecht-Allee Bremen

Aktive und bewegte Pausen sind ein Motto der Schule. Möglichkeiten, frei zu spielen und zu toben, existieren mehr als ausreichend auf dem Schulgelände. Die Verantwortung, dass alles reibungslos abläuft, übernehmen nicht nur die Pädagogen, sondern auch ältere Schülerinnen und Schüler. Auch das geschieht nicht willkürlich. Es ist Teil des Partizipationsgedankens der Schule, die an drei Tagen pro Woche als gebundene Ganztags- und an zwei Tagen als offene Ganztagsschule geführt wird. Jan Thiele: „Wir haben uns gefragt, was es heißt, sich an einer Schule wohl zu fühlen. Für die Schülerinnen und Schüler bedeutet dies mitgestalten und mitbestimmen zu können.“

Er räumt ein, dass es da in der Vergangenheit deutlichen Nachholbedarf gegeben habe. Inzwischen aber sind die Kinder und Jugendlichen stark eingebunden. Der Schülerrat tagt regelmäßig mit den Vertrauenslehrern, nimmt an Gesamt- und Schulkonferenzen teil. Die Mitwirkung spiegelt sich auch im Alltag wider, etwa in der freiwilligen Schüler-Arbeitsgemeinschaft „Schöne Schule“ oder wenn, wie aktuell geschehen, zwei Schüler aus der fünften Jahrgangsstufe ein Konzept zur Wiedereröffnung des PC-Raums in der Mittagsfreizeit erarbeiten. Die Liste der Schüleraktivitäten ließe sich beliebig fortsetzen.

„Wichtig ist uns eigentlich das ständige Bewusstsein, diejenigen, um die es hier geht, nämlich die Schülerinnen und Schüler, mitzunehmen und nicht über ihre Köpfe hinweg zu entscheiden“, erklärt der Ganztagskoordinator. Darüber, wie das gelingen kann, tauschten er und seine Kollegen sich in der Vergangenheit bereits im bundesweiten Netzwerk psychische Gesundheit mit anderen Schulen aus. Und sie sind stolz, auch im neuen, erst vor wenigen Wochen etablierten Netzwerk „Projekt lernen“ dabei sein zu können. 

Neuer Stundenplan mit noch stärkerer Rhythmisierung

Skulpturenbau
© Oberschule an der Julius-Brecht-Allee Bremen

Dort können sie möglicherweise im kommenden Schuljahr über ihre Erfahrungen mit dem neuen, noch stärker rhythmisierten Stundenplan berichten. Er wird derzeit entwickelt. So ist für die fünften Klasen unter anderem vorgesehen, jeden Tag mit einer offenen Eingangsphase (8 bis 8.15 Uhr) zu beginnen. Es folgt ein erster Unterrichtsblock bis 9.45 Uhr. Montags dienen die ersten 45 Minuten dem Austausch mit dem Klassenlehrer bzw. der Klassenlehrerin zur Planung der Woche. Einer ersten halbstündigen Pause folgt der zweite Block, in den auch die Profilklassen (Musik, Naturwissenschaften, Theater, Gesellschaft und Politik) eingebettet sind. Jede Schülerin und jeder Schüler wählt zu Beginn des fünften Schuljahres eines dieser Profile. Es schließt sich an drei Tagen die „Studierzeit“ an, ehe es um 12.35 Uhr in eine 70minütige Mittagspause mit betreuter Freizeit geht. Bis 15.15 Uhr steht an drei Tagen der dritte Unterrichtsblock auf dem Plan. Ergänzt wird dieser von verpflichtenden und freiwilligen 90minütigen Arbeitsgemeinschaften und bei Bedarf von Betreuungsangeboten. Schulschluss ist um 15.45 Uhr.

Sozialarbeiter sind geschätzte Ansprechpartner

Wichtige Grundlagen werden in der Oberschule an der Julius-Brecht-Allee, in der auf die Einhaltung klarer Regeln (z.B. keine Handys) geachtet wird, in Klasse fünf gelegt. „Soziales Lernen“ steht dann auch auf dem Stundenplan. Hier machen die vier an der Schule tätigen Sozialpädagoginnen und -pädagogen nicht nur die Kinder mit den Geflogenheiten der Schule vertraut. Sie lernen auch jedes einzelne Kind gut kennen. „Dadurch bauen wir wertvolle Beziehungen auf“, erläutern Susanne Bäuml, Daphne Langkau, Ulrich Zech und Hartwig Hinney ihr Erfolgskonzept. „Nur wenn man auch die Hintergründe und Lebenssituation der Kinder kennt, kann man ihr Verhalten richtig einordnen“, betonen die engagierten Sozialpädagogen im Gespräch mit www.ganztagsschulen.org.

Sie sind täglich Ansprechpartner für die Schülerinnen und Schüler, stehen aber auch Lehrerinnen und Eltern für Beratungsgespräche zur Verfügung. Das Miteinander mit den Pädagogen findet nach ihrer Einschätzung „auf Augenhöhe statt“. Das gilt auch für ihre Akzeptanz bei den Schülern. Noch nie haben sie den Satz hören müssen: „Ihr habt uns nichts zu sagen.“ Wie sehr sie wertgeschätzt werden, verrät eine 15-Jährige: Sie habe zuhause Stress gehabt, erzählt sie offen, ihr Vater habe keine Arbeit gehabt, es habe Streit in der Familie gegeben. Sie hat sich den Sozialarbeitern anvertraut und Tipps erhalten. Die Sozialpädagogen müssten mit ihren Eltern gesprochen haben, vermutet die Schülerin: „Denn eines Tages, nachdem ich mir Rat und Hilfe geholt habe, wurde es besser. Und darum gehe ich so gerne in diese Schule.“

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