Mehr Ganztag in Gingst : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Ihrer 44-jährigen Tradition verpflichtet, die Türen fürs Moderne weit geöffnet. Die Regionale Schule mit Grundschule Gingst schafft einen überzeugenden Spagat.

Gingst ist eine kleine Kommune im Westen der Insel Rügen. Doch täglich wird sie zum Ziel vieler Menschen. Auch von Touristen, die die idyllische Insel besuchen. Vor allem aber für junge Menschen. Rund 360 Schülerinnen und Schüler bringen früh morgens zusätzliches Leben in den Ort. Sie besuchen die Regionale Schule mit Grundschule, die einzige auf der Insel, die seit 1972 die Klassen eins bis zehn unter einem Dach vereint. 85 Prozent der Kinder sind Fahrschüler, nehmen weite Wege aus dem gesamten Westen Rügens in Kauf, um hier getreu dem Schulmotto „auf das Leben vorbereitet“ zu werden.

Wie Leben in Gemeinschaft und Gesellschaft ist, erfahren sie schon bei An- und Abreise zur Schule. Schulbusse gibt es nicht. Der Öffentliche Nahverkehr muss es richten. Noch bevor die Gäste aus Nah und Fern ihr Frühstücksbuffet beendet haben, erreichen früh die Busse aus allen Himmelsrichtungen die Gingster Schule. Sehr früh. Pünktlich um 7 Uhr öffnen sich ihre Türen, heraus strömen zumeist gutgelaunte Inselkinder. Der Unterricht beginnt um 7.15 Uhr. Und auch wenn er in der Grundschule je nach Klassenstufe zwischen 11 und 12 Uhr, in der weiterführende Schule kurz vor 14 Uhr endet, bedeutet das für die Schülerinnen und Schüler nicht das Ende des Schultages. Arbeitsgemeinschaften und Förderangebote hängt die teilgebundene Ganztagsschule bewusst additiv an den Stundenplan an. Schließlich können die Fahrschüler ab 14 Uhr nur alle zwei Stunden wieder abreisen. Was Schulleiter Eckhard Mostek schmunzelnd kommentiert: „Wir unterrichten solange, bis der Bus kommt.“

Einen Ausbildungsplatz finden alle

Der Mann strahlt Gelassenheit aus. Er gilt inzwischen als Urgestein der Schule. 1983 kam er als junger Lehrer an die polytechnische Oberschule, die die Klassen 1 bis 10 umfasste. 1990 wurde er in die Schulleitung gewählt, sieben Jahre später übernahm er diese. Er hat viele „Schulreformen und -reförmchen“ miterlebt, die bildungspolitischen Folgen der „Wende“ erlebt. Doch das Credo des sportlich und politisch Aktiven lautete stets: „Die Kinder stehen im Zentrum aller Überlegungen. Erst bauen wir zu ihnen eine Beziehung auf, dann kommt das Fachliche.“

 Eckhard Mostek und André Farin
Schulleiter Eckhard Mostek und Stellvertreter André Farin © Regionale Schule mit Grundschule Gingst

Unterstützung ist ihm und damit seinem gesamten Team auf der gesamten Insel gewiss. Eckhard Mostek gilt als „bunter Hund“, der alle und den alle kennen. Die Eltern vieler seiner heutigen Schüler besuchten selbst die Gingster Schule. Man kennt sich. Das öffnet Türen. Kein Wunder, dass die Suche nach Kooperationspartnern leicht fällt: 135 Betriebe, Institutionen und Vereine arbeiten mit der Regionalen Schule zusammen, unterstützen die Berufsorientierung der Kinder, bieten Arbeitsgemeinschaften, stellen ein engmaschiges Netz dar, durch das kein Jugendlicher fällt: Bis zum heutigen Tag fanden alle Abgänger der 9. und 10. Klassen eine Ausbildungsstelle.

Mostek: „Wir kümmern uns bis zur finalen Vermittlung.“ Ein Gelingensfaktor: Aus nahezu jeder Branche findet sich ein Betrieb, ein Unternehmer, ein Einzelhändler unter den Kooperationspartnern. Sie engagieren sich, wohl wissend, dass die Zahl der Jugendlichen, die Rügen nach erfolgreich abgeschlossener Ausbildung den Rücken kehren, kontinuierlich steigt.

Berufsorientierung schon in Klasse 1

Doch die Betriebe wissen auch, dass sie gut vorbereitete Auszubildende bekommen. Sie kennen das Berufsvorbereitungskonzept, das bereits in Klasse 1 der Grundschule beginnt. Schon die Jüngsten kommen mit einer Vielzahl von Berufsbildern in Kontakt, wenn der jährliche Besuch auf dem Bauern- und Erlebnishof Kliewe ansteht. Dessen Betreiber hat sich der Realität gestellt, ist heute nicht mehr „nur“ als Landwirt tätig. Er führt ein Restaurant, verkauft als Einzelhändler die selbst produzierte Ware, ist Tier- und Pflanzenwirt, bietet Touristen Unterkunft und plant mit der Schule die Entwicklung eines Lehrpfades.

Wir treffen auf dem Schulgelände eine Gruppe Achtklässler. Wollen von ihnen wissen, ob sie sich an jenen ersten Tag der Berufsorientierung erinnern. „Na klar“, sagen sie übereinstimmend, „das war lustig.“ Hat es ihnen auch etwas gebracht? „Vielleicht. Ich möchte später auch gerne etwas mit Tieren machen“, erzählt uns eine 14-Jährige. Ihr Wunsch hat sich im Laufe ihrer Schullaufbahn und mit jedem jährlichen Schwerpunkt der Berufsvorbereitung immer stärker herauskristallisiert.

Ein Ziel: die sinnvolle Freizeitgestaltung

SChüler mit Schleifgerät
© Regionale Schule mit Grundschule Gingst

Da kann sie sich mit der elfjährigen Lina zusammentun. Die Tochter der Vorsitzenden der Schulkonferenz Wencke Dargatz möchte Tierärztin werden. Ihre Mutter unterstützt das Bestreben, „auch wenn der Weg ja noch lang ist“. Die gelernte Empfangsleiterin eines Hotels im Ostseebad Göhren ist von den Angeboten der Schule begeistert: „Hier gibt es nichts, was es nicht gibt.“ Sie denkt an die Arbeitsgemeinschaften, die von sportlichen und musikalischen Aktivitäten über Plattdeutsch, die Erstellung einer Schülerzeitung, Töpfern bis hin zum Segeln oder der Mitarbeit im Kleintierzüchterverein reichen. „Mehr Ganztag in Gingst“ ist das Ganztagsprogramm der Schule überschrieben.

Die Teilnahme an einer AG ist verpflichtend. Ob diese von einer oder einem der 30 Lehrerinnen und Lehrer, zwei Sonderpädagogen und 15 Honorarkräfte angeboten wird oder von außerschulischen Partnern, ist gleichgültig. Eine Schulsozialarbeiterin hat die Schule auch. „Unsere Schülerinnen und Schüler sollen ihre Freizeit sinnvoll gestalten. Ganztagsbildung wollen wir nicht auf das begrenzen, was im Schulgebäude stattfindet“, sagt Mostek. So zählt das freiwillige, aber regelmäßige Engagement in der Jugendfeuerwehr ebenso als Teilnahme an einer Arbeitsgemeinschaft. Wencke Dargatz denkt aber auch an das ausgeklügelte Konzept zur Berufsorientierung.

Die „Berufswelten“ gehören dazu. Die Klassenleiter organisieren sie in Absprache mit der Verantwortlichen für Berufsorientierung, Ramona Hatrath. Die Inhalte sind für jeden Jahrgang verbindlich, werden im Unterricht erarbeitet und münden jährlich in zwei Projekttagen. So widmen sich die Fünft- und Sechstklässler im Deutschunterricht den „Berufen meiner Eltern“ oder dem eigenen Traumberuf. Die Ergebnisse stellen sie künstlerisch am Projekttag vor.

„Die beste Entscheidung, die ich treffen konnte“

Mädchen wie Jungen legen den Haushaltsführerschein ab und freuen sich auf einen Rollentausch: Sie suchen sich männer- und frauentypische Berufe aus und schlüpfen in die Rolle des anderen Geschlechts. In Klasse 7 steht „Berufsgeschichte“ auf dem Plan. Die Schüler vergleichen ausgewählte Berufsbilder von früher und heute, referieren über einen Beruf und lassen sich in den Historischen Handwerkerstuben inspirieren. Sie beginnen mit der Arbeit an ihrem Berufswahlpass, der sie durch die gesamte Schulzeit begleiten wird.

Schüler im Werkunterricht
© Regionale Schule mit Grundschule Gingst

Von Schuljahr zu Schuljahr nimmt die Intensität der Berufsorientierung zu. Alle zwei Wochen steht den Jugendlichen ab Klasse 8 eine Beraterin von der Arbeitsagentur Bergen Rede und Antwort. Betriebserkundungen und -praktika sowie Bewerbungstrainings sind ebenso obligatorisch wie die jährliche Berufsmesse. Dort präsentieren sich bis zu 30 Betriebe, ermöglichen ersten Kontakt und beantworten die Fragen der jungen Menschen. Die kommen gut vorbereitet zum Stelldichein der Unternehmen. Ein jeder hat einen konkreten Auftrag aus seiner Berufsmappe zu erfüllen. Die Jüngeren sammeln einfache Infos über Berufe, um diese im Klassenverband vorzustellen, die Älteren feilen an präzisen Darstellungen über Betriebe, Perspektiven und Jobvoraussetzungen.

Stets wird darauf geachtet, dass die praktische Erfahrung nicht isoliert gesammelt wird. Sie wird Bestandteil des Unterrichts und erfahrbar für die ganze Klasse. „Mir hat es total viel gebracht, mich selbst über Berufe zu informieren, mit Unternehmen sprechen zu können, Betriebe zu erkunden, aber eben auch von den anderen zu hören, was sie erfahren haben und wie sie andere Tätigkeiten einschätzen“, verrät uns eine 16-Jährige. Sie hatte sich trotz Gymnasialempfehlung nach der 6. Klasse für die Regionale Schule entschieden. Wie sie heute glaubt: „Die beste Entscheidung, die ich treffen konnte. Zumal mir die Schwerpunkte dieser Schule, Kunst, Sprache und Sport, bestens liegen.“

Prominente Bundestagsabgeordnete erwartet

Die Mischung der vielfältigen Angebote und Schwerpunkte schätzen Eltern wie Wencke Dargatz. Ehrungen bleiben da nicht aus: Platzierung unter den 20 besten Schulen beim Deutschen Schulpreis (2010), erste Gewinnerin des Hauptschulpreises des Landes Mecklenburg-Vorpommern (2007). Seit 2007 ist die Regionale Schule „Starke Schule“, das heißt, sie gehört zu „Deutschlands besten Schulen, die zur Ausbildungsreife führen“ und ist Träger des Berufswahlsiegels in Mecklenburg-Vorpommern. Ihre „Gingster Welle“ gewann gerade den 3. Preis beim landesweiten Schülerzeitungswettbewerb. Die Ostsee-Zeitung berichtet regelmäßig über die Schule, die auch aktiv im Ganztagsschulnetzwerk der Serviceagentur Mecklenburg-Vorpommern arbeitet.

Erfolgreiches Lernen erfordert, das weiß man in Schule und Kommune, den „Raum als dritten Pädagogen“. Und so wird das in die Jahre gekommene Schulgebäude – von 2006 bis 2008 auch mit Bundesmitteln aus dem IZBB – Stück für Stück modernisiert, um- oder neu gebaut. An der Grundschule legen die Arbeiter derzeit besonders fleißig letzte Hände an. Schließlich wird ihr Neubau am 23. Juni feierlich eröffnet. In Anwesenheit von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Man kennt sich. Schließlich gehört Rügen zum Wahlbezirk der Bundestagsabgeordneten.

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