Lernfamilien prägen den Ganztag der Kettelerschule : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

„Jedes Kind ist anders. Jedes Kind lernt anders. Deshalb braucht jedes Kind umfassende individuelle Förderung“.

Schon der erste Blick auf diese Gemeinschaftsgrundschule verrät: Hier lernen 200 Schülerinnen und Schüler an einer ganz besonderen Ganztagsschule. Mitten in Bonn-Dransdorf, einem Stadtteil mit besonderem Erneuerungsbedarf im Programm „Soziale Stadt“, strahlt ein helles, farbenfrohes und lichtdurchflutetes Gebäude. Der nach pädagogischen Überlegungen und nach architektonischen Plänen der Montag-Stiftung erstandene Neubau ergänzt die alte Schule. Sie ist zum Zentrum des Ortes geworden. Vor allem aber ist sie zu einer Heimat für Schülerinnen und Schüler, aber auch all jene Erwachsenen geworden, die hier gemeinsam lernen und leben. Offiziell handelt es sich bei der Schule, die nach dem Votum der Bürger aus einer katholischen Grundschule in eine bekenntnisfreie Gemeinschaftsgrundschule umgewandelt wurde, um eine Offene Ganztagsgrundschule. Doch die Realität sieht anders aus: Alle Schülerinnen und Schüler nutzen die Ganztagsangebote.

Jahrgangsgemischt durch die Grundschulzeit

Mirja und Ahmed (Namen von der Redaktion geändert) sind zwei von ihnen. Sie wohnen „um die Ecke“ und freuen sich jeden Morgen auf ihre „Lernfamilie“. Acht solcher „Klassen“  existieren an der Kettelerschule. Sie alle arbeiten durchgängig jahrgangsgemischt. Im Extremfall mischen sich Kinder im Alter von fünf bis zwölf Jahren in einer Familie, meist allerdings Kinder von 6 bis 10. Mirja findet das „genial“. Sie ist neun Jahre alt und würde an einer traditionell nach Klassenstufen geführten Schule nun die 3. Klasse besuchen. In ihrer Lernfamilie an der Kettelerschule aber trifft sie jeden Morgen deutlich Jüngere wie auch Ältere. „Das ist lustig und gut“, meint sie. Ahmed weiß, dass es ältere Kinder gibt, die einem etwas erklären könnten und Jüngere, an die man sein Wissen weitergeben könne: „Das ist tatsächlich ein bisschen wie zuhause“, meint er.

Rektorin Christina Lang, die die Leitung der Schule 2006 übernahm, ist vom Prinzip der völligen Jahrgangsmischung überzeugt und begeistert: „Soziales Lernen findet nirgendwo so natürlich statt wie in jahrgangsübergreifenden Klassen. Sie greifen das Leben in der Familie wieder auf.“ Die Lernfamilie besteht aus jeweils 25 Kindern. Im Schnitt verlassen fünf bis sieben jedes Jahr die Gruppe, wenn sie ihre Grundschulzeit hinter sich haben, und werden durch die gleiche Anzahl „Erstklässler“ ersetzt. „Denen müssen wir gar nicht groß die Regeln der Familie und Schule erläutern. Das übernimmt automatisch die Gruppe“, schildert Christina Lang. Dass es beim sozialen Lernen allein nicht bleibt, belegen die Übergangsquoten zu den weiterführenden Schulen. Seit die Kettelerschule die herkömmlichen Klassenstrukturen aufgebrochen und zudem den Ganztag eingeführt hat, steigt die Zahl der Kinder, die den Sprung zum Gymnasium oder zur Realschule schaffen, kontinuierlich an.

Stabilisierende Vertraut- und Geborgenheit

Christina Lang ist überzeugt, dass die Vertraut- und Geborgenheit, die die Kinder in ihren Lernfamilien erfahren, eine wesentliche Erfolgsgrundlage darstellt. Jeden Morgen treffen sie „ihre“ Klassen- und Förderlehrerin sowie ihre Erzieherin und werden per Handschlag begrüßt. Sie schätzen die Sicherheit gebenden Rituale, die 15minütige „Ankommensphase“, die liebevoll zum Aufräumen animierende Musik, das Besprechen des Tages- und Wochenplans im Gesprächskreis, aber auch die sich anschließende freie Arbeit. Die Kinder selbst entscheiden, an welchem Thema und mit welchem Lernmaterial sie arbeiten. Sie kennen ihren Plan für die Woche. Christina Lang schmunzelt: „Natürlich müssen wir Pädagogen hin und wieder ein wenig nachhelfen.“ Aber das geschehe nicht, indem festgelegt werde, was das Kind tun solle. „Weißt du schon, was du heute machen willst?“ fragen wir dann etwa. Man vertraut den Kindern, weiß, dass sie ihren Tag und Lernerfolg selbst gestalten können.

Wer nun glaubt, an der Kettelerschule liefe alles ganz locker und ohne Regeln ab, der irrt. Alle Kinder stellen sich über die gesamte Grundschulzeit hinweg klar definierten Lernzielkontrollen. „Doch das tun sie, wenn sie ein Thema bearbeitet haben und sich sicher fühlen“, sagt die Rektorin. Jedes Kind besitzt einen Lernordner, in dem es sich regelmäßig selbst einschätzt (“Das kann ich besonders gut“ – „Das kann ich noch nicht so gut“)  und ein Feedback der Schule erhält. Das erfahren Schülerinnen und Schüler sowie deren Eltern auch in vierteljährlichen Lerngesprächen. Und auch das Leselerntagebuch, in dem die Kinder ihre Lesefortschritte dokumentieren, zählt zur Rückmeldekultur der Schule.

„Zwei Zimmer, Küche, Diele, Bad“

Aufgebrochen wird das Prinzip der Lernfamilie, in denen jeweils fünf Kinder mit unterschiedlichen sonderpädagogischen Förderbedarfen lernen, nur für Englisch und Sport. Da werden jeweils Erst- und Zweit- sowie Dritt- und Viertklässler zweier Lernfamilien  durchmischt. Die Räume der Klassen oder Gruppen oder Lernfamilien, die allesamt Tiernamen tragen, liegen jeweils nebeneinander. Sie sind nach pädagogischen Gesichtspunkten konzipiert. Ein Klassen- und ein Freizeitzimmer werden ergänzt durch Garderobe, eine kleine Küche und Waschecke. „Zwei Zimmer, Küche, Diele, Bad“ werden sie genannt und spiegeln das Prinzip des Lernen und Lebens wider. Und wie in manch einer Familie üblich, darf auch der Schulhund nicht fehlen. Fini ist zum Partner der Kinder geworden. Sie lieben sie, und nicht selten sitzt eines von ihnen auf dem Sofa, liest und streichelt Fini. Die Hündin leistet viel. Sie „erzieht“, unter anderem, weil sie keine Lautstärke mag, die Kinder nehmen darauf Rücksicht. Sie „mag“ es nicht, wenn Dinge auf dem Boden herumliegen – die Schüler halten Ordnung. Und Fini trocknet Tränen, wie Christina Lang und ihre Stellvertreterin und Fini-Besitzerin Sandra van de Gey wissen: „Das Tier spürt, wenn es einem Kind nicht gut geht und läuft automatisch zu ihm hin. Das hat schon oft Wunder bewirkt.“

Übungszeiten ersetzen Hausaufgaben

Da alle Kinder den Ganztag nutzen, wäre theoretisch eine Verteilung der Unterrichtseinheiten auf den ganzen Tag möglich. Doch die Kettelerschule verzichtet darauf bewusst. Die Nachmittage sind Konferenzen und Abstimmungsprozessen sowie den die Hausaufgaben ersetzenden Übungszeiten (montags bis donnerstags von 14 bis 15 Uhr) vorbehalten. Sie werden wechselweise von Klassen-, Förder-, Fachlehrerinnen oder Erzieherinnen begleitet. Die Kinder nutzen sie, um an ihren Schwächen und Stärken zu feilen. Am Montagnachmittag findet man keine Lehrer in der Schule. Christina Lang: „Die Kolleginnen und Kollegen bereiten am Wochenende die Arbeit der kommenden Woche vor. Den Montagnachmittag benötigen sie dann, um das zu ändern, was ihnen beim Wochenstart als verbesserungswürdig aufgefallen ist.“ Im Blick haben sie dabei stets jedes einzelne Kind. Das steht auch stets im Mittelpunkt der wöchentlichen Teamsitzung der für eine Lernfamilie Verantwortlichen und der donnerstäglichen Lehrerkonferenz. Regelmäßige Förderplankonferenzen, die zweimonatliche „Kettelerkonferenz“, an der auch alle Erzieher teilnehmen, sowie zahlreiche „Tür- und Angelgespräche“ runden den intensiven Austausch ab. Ihn sucht das Kollegium auch regelmäßig zum Träger des Offenen Ganztags, der Stadt Bonn. Dieser ist für die Arbeitsgemeinschaften ab 15 Uhr zuständig, die von Vereinen, insbesondere aber einem nahe gelegenen Jugendzentrum angeboten werden. Die dort tätigen Sozialpädagogen leisten nach Ansicht der Schule „Unschätzbares“. Zumal sie die meisten Jugendlichen kennen und für sie auch nach Schulende um 16.30 Uhr eine wertvolle und vertraute Anlaufstelle darstellen.

Enge Kooperation mit den Kindertagesstätten

Die intensive Vernetzung im Stadtteil gilt als eines der Erfolgsrezepte der Schule. Früh tauscht sich das Kollegium mit den örtlichen Kindertagesstätten aus, macht sich auch dank Unterstützung einer Schulsozialarbeiterin ein Bild vom Kind und seiner Familie. Christina Lang: „Dadurch können wir recht gut einschätzen, in welche unserer acht Lernfamilien ein neues Kind aufgenommen werden soll.“ Auch darin sieht sie einen Vorteil der Altersmischung: „Ich kann eben aus acht Familien und nicht nur zwischen zwei Klassen wählen.“ Die Entscheidungen wollen wohlüberlegt sein. Der Standort der Schule bringt es mit sich, dass sich hier Kinder mit höchst unterschiedlichen sozialen und kulturellen Hintergründen zusammenfinden. Inklusion wird an der Kettelerschule breit verstanden.

Christina Lang fasst die Leitidee der Schule so zusammen: „Inklusion heißt, die Vielfalt zu nutzen. Jeder kann etwas, jeder hat eine Schwäche, und zusammen sind wir stark.“ Inklusion heißt für sie und ihr Team, jeden Menschen so anzunehmen, wie er ist, und allen die gleiche Wertschätzung entgegenzubringen. Und Inklusion bedeutet die Wertschätzung jeder Person als wichtiges Mitglied der Gemeinschaft, unabhängig von ihren Möglichkeiten und Einschränkungen. Sie schlägt sich auch in den wöchentlichen Sitzungen der Klassenräte, in denen die Schülerinnen und Schüler darüber beraten, was aus ihrer Sicht für die Entwicklung der Lernfamilien und der Schulen besonders wichtig ist, im Kinderparlament und der Inklusionsgruppe nieder. In Letzterer arbeiten gewählte Kinder, Eltern, Lehrer, Erzieher und Leitungen mit dem Index für Inklusion. Er ist eine Materialsammlung, die jede Schule bei den eigenen nächsten Schritten ihrer Entwicklung hin zu einer „Schule für alle“ und Pädagogik der Vielfalt unterstützen soll. Den Geist der Inklusion an der Kettelerschule spürt ein jeder Besucher. Er schlägt sich auch im Schullied nieder: „Jeder hier ist einzigartig und das ist ein Glück!“ Nochmals Christina Lang: „Wir schätzen jeden. Wir teilen nicht in die Kleinen und die Großen, nicht in behindert und nicht-behindert, nicht in Mädchen und Jungen. Wir sind einfach die Kettelerkinder und die Kettelererwachsenen und wir haben eine gute Lernzeit miteinander.“ Die Haltung überzeugte auch die Jury des Jakob-Muth-Preises: Die Kettelerschule wurde mit ihm kürzlich ausgezeichnet.

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