"Kulturelle Praxis" als Markenzeichen der Steinwaldschule : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Die "Kulturelle Praxis" der Steinwaldschule in Neukirchen, die sich auf dem Weg zur gebundenen Ganztagsschule befindet, lockt immer wieder Gäste in den ländlichen Ort im Schwalm-Eder-Kreis.

Wir treffen die Leiterin des Fachbereichs „Kulturelle Praxis“, Stefanie Menz, und das Mitglied der Schulleitung, Ottmar Ginzel, in dessen Arbeitszimmer an der von 650 Schülerinnen und Schülern besuchten Integrierten Gesamtschule. Dass Kultur hier eine besondere Rolle spielt, wird auf den ersten Blick deutlich. Musikinstrumente stehen links und rechts des Schreibtisches. Das Plakat der jüngsten Veranstaltung „Neukirchener Kulturbeutel“ ziert die Eingangstür. Gerade erst haben hunderte von Eltern und Bürger des Ortes die Theater-, Musik-, Kunst und Tanzvorführungen der Schüler und sogar der Lehrerband im Atrium genossen.

Kultur wird an dieser Schule gelebt. Das verraten uns auch Schülerinnen und Schüler, die wir auf dem Schulhof treffen. Fröhlich erzählen sie von den vielfältigen Möglichkeiten, die ihnen die Schule bietet. „Ich finde es sehr schön, dass wir gemeinsam musizieren und tanzen“, sagt eine 14-Jährige, während ihr Klassenkamerad das Kreative Schreiben vorzieht, „denn ich will später vielleicht einmal Journalist werden“, sagt er. Von Scheu ist bei den jungen Menschen nichts zu spüren. Ein wertvoller Aspekt des kulturellen Profils, ist Stefanie Menz überzeugt. „Auch wir haben natürlich Probleme an der Schule, doch die Atmosphäre ist eine ganz besondere. Unsere Schulkultur ist geprägt von einem offenen Umgang und dem Bemühen, immer an einem Strang zu ziehen.“

Kooperationsvertrag mit dem Staatstheater Kassel

Die Geburtsstunde der Kulturellen Praxis liegt knapp zwanzig Jahre zurück. Damals führte Musiklehrer Christian Kammler das Darstellende Spiel an der Steinwaldschule ein. In Ottmar Ginzel, selbst Musiker, fand er einen Gleichgesinnten. Sie beschlossen, der Schule, die Schülerinnen und Schüler aus etliche Kilometer entfernt liegenden Orten dieser ländlichen Region anlockt, ein kulturelles Profil zu geben. Zweierlei war ihnen und der Schulleitung klar. Ohne Profilierung würde die Schülerzahl auf Dauer weiter sinken. Der Wegzug vieler Familien in Großstädte und der demographische Wandel sorgen ohnehin schon für eine immer kleiner werdende Schulgemeinschaft. Und ihnen war bewusst, dass ein kulturelles Profil nicht nur ein dafür begeistertes Kollegium erfordert, sondern dass außerschulische Partner vonnöten sind.

Schülergruppe mit Blasinstrumenten
© Ottmar Ginzel, Steinwaldschule Neukirchen

Einen der wichtigsten fanden sie im Staatstheater Kassel. Mit dem Theater wurde 2002 ein Kooperationsvertrag geschlossen. In ihm ist festgeschrieben, dass alle Schülerinnen und Schüler einmal im Jahr im Klassenverband eine Aufführung besuchen. Theaterpädagogen und Schulleitung legen fest, welches Stück besucht wird. Damit es nicht nur beim „Ausflug“ in die Theaterwelt bleibt, organisieren Künstler und Schule gemeinsam Workshops, die sowohl in Kassel als auch an der Steinwaldschule stattfinden.

„Viele Kinder kommen auf diese Weise intensiv mit Kultur in Berührung und das eben nicht nur in der Theorie“, wissen Menz und Ginzel. Den Eltern ist dies durchaus etwas wert. Schließlich müssen die Fahrt mit dem Bus sowie der Eintritt selbst bezahlt werden. Familien, die ihren Kindern eine Teilnahme aus finanziellen Gründen nur schwer oder gar nicht ermöglichen könnten, unterstützt der schuleigene Förderverein. Auch das Bildungs- und Teilhabepaket springt in manchen Fällen ein.

Behutsamer Übergang mit Sensibilisierungsphase

Die Heranführung an die kulturelle Bildung beginnt früh und schrittweise so, wie die Steinwaldschule ohnehin Wert auf einen behutsamen Übergang von der Grund- zur weiterführenden Schule legt. In der so genannten Sensibilisierungsphase der Jahrgänge fünf und sechs lernen die Schülerinnen und Schüler wechselweise die Bereiche Theater, Tanz, Musik, Kreatives Schreiben und Kunst kennen. Zwei Unterrichtsstunden sind pro Woche für die praktische Auseinandersetzung reserviert.

Ab Klasse sieben gibt es Wahlpflichtkurse wie etwa Töpfern, Nähen, Kochen („Esskultur“), Werken oder EDV. Kindern, die bereits mit musikalischen Vorkenntnissen an die IGS kommen, steht die spezielle Musikklasse offen. In Zusammenarbeit mit der Musikschule Schwalm-Eder wird den Jahrgängen fünf und sechs Musikunterricht als „Orchester- und Instrumentalunterricht“ angeboten. Ziel ist unter anderem, Nachwuchs für die Bigband „Stonewood-Connection“ zu gewinnen.

Gewünschte Auseinandersetzung

Dass Kultur auch etwas mit Gemeinschaft zu tun hat, erleben die Schülerinnen und Schüler im Kulturnetzwerk der Region Schwalm. An ihm beteiligen sich sechs weiterführende Schulen. Unterstützt von der örtlichen Sparkasse, bieten die – eigentlich um die Schülerinnen und Schüler konkurrierenden – Schulen außerhalb des Unterrichts unterschiedlichste Projekte und Arbeitsgemeinschaften an. Mal geht es um Jugendstil und Mode, ein anderes Mal um Comics oder Hip-Hop.

Theateraufführung
© Ottmar Ginzel, Steinwaldschule Neukirchen

Als größtes gemeinsames Ergebnis gilt die Aufführung von „Klangwelten“ vor einigen Jahren im Staatstheater, dessen Orchester mitwirkte. 350 Schülerinnen und Schüler aus fünf Schulen waren an der von Stiftungen geförderten Inszenierung beteiligt. „Die lange Vorbereitung und Aufführung, die Einbindung der Ideen und Vorstellungen der jungen Menschen stellten eine unglaubliche Mannschaftsleistung dar“, erinnert sich Ottmar Ginzel. Er ist ebenso wie Stefanie Menz vom Mehrwert einer solchen Gemeinschaftsaktion überzeugt: „Die Kinder und Jugendlichen profitieren im Unterricht, vor allem aber auch später im Leben davon, wenn sie erfahren, dass sie aufeinander angewiesen sind, sich aufeinander verlassen können und spüren, dass sie gebraucht werden.“

Im Wahlpflichtbereich gestalten die verschiedenen künstlerischen Arbeitsgemeinschaften der Jahrgangsstufe zehn ein Musical und führen es gemeinsam auf. Knapp 100 Schüler sind daran über das gesamte Jahr beteiligt. Intensive Abstimmungsgespräche sind erforderlich. Etwa, wenn Bühnenbild und Musik harmonisiert werden müssen oder das Kostüm für die Hauptdarstellerin entworfen und geschneidert werden muss. Dass es dabei nicht immer reibungslos läuft, schildert Stefanie Menz, zu deren privaten Hobbies Zeichnen und die Bildhauerei zählen, schmunzelnd: „Es ist schon vorgekommen, dass sich eine Darstellerin geweigert hat, das von der Textil- und Kostümgruppe entworfene Kleid zu tragen.“ Aber auch die daraufhin erforderliche Auseinandersetzung und Einigung seien durchaus gewollt. Sie betrachtet das Mitwirken an einem gemeinsamen Projekt auch als besondere Chance für Kinder, die in den herkömmlichen Unterrichtsfächern nicht immer erfolgreich seien. „Ihr Stellenwert in der Lerngruppe und ihr Selbstbewusstsein steigen enorm, wenn sie in so einem Musical etwas auf die Beine gestellt haben. Das wirkt sich positiv auf die Leistung aus“, weiß sie aus Erfahrung.

Kultur der Anerkennung könnte man es auch nennen. Sie widerfährt den Schülerinnen und Schülern auch in der „Kulturellen Pause“. Im Atrium haben sie die Möglichkeit, ihre eigenen Arbeiten der Schulgemeinschaft zu präsentieren. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Kunstwerke zuhause oder im Unterricht entstanden sind. Wer das Ergebnis seiner Arbeit vorstellen möchte, spricht die Verantwortlichen an. Die laden dann kurzfristig per Lautsprecherdurchsage zur „Kulturellen Pause“ ein.

Langfristig ist dagegen die Kooperation mit der Philipps-Universität Marburg angelegt. Mit Unterstützung von Studierenden drehen Schülerinnen und Schüler des Jahrgangs 10 im Rahmen einer Projektwoche Kurzfilme.

Ganztag als Chance, die „Kulturelle Praxis“ zu stärken

Trotz aller Begeisterung ihrer Gäste, der hospitierenden Schulen, mögen Stefanie Menz und Ottmar Ginzel nicht das Bild einer heilen Schulwelt zeichnen. Sie räumen ein, dass manche auch glauben, dass „die Randerscheinung Kultur zu sehr in den Vordergrund gedrängt“ werde. Und sie wissen um die Herausforderungen, die die schrittweise Einführung des gebundenen Ganztags mit sich bringt. Eine stellt die Einbindung der jahrgangsübergreifenden Arbeitsgemeinschaften in die „EuLe“ dar. „EuLe“ steht für Entspannen und Lernen und ist fester Bestandteil des Ganztagsprogramms. Täglich außer freitags arbeiten die Schüler im Lernbüro, einer Arbeitsgemeinschaft oder nehmen am Förderunterricht teil.

Den Ganztag insgesamt sehen Menz und Ginzel als große Chance, die „Kulturelle Praxis“ zusätzlich zu stärken. Kultur ist für sie eng verbunden mit sozialem Lernen. Dafür bietet der Ganztag mehr Raum und Zeit - auch wenn er an der Steinwaldschule aufgrund eingeschränkter Möglichkeiten des Öffentlichen Nahverkehrs bereits um 15 Uhr endet. Wie das soziale Lernen verankert ist, belegt die Praxis der von Stefanie Menz als Klassenlehrerin geführten sechsten Klasse. Gemeinsam mit den Jugendlichen hat sie ein Helfersystem etabliert. Es wurden Schülerpaare gebildet, die sich gegenseitig unterstützen. Mal sitzt ein „hibbeliger“ Schüler neben einem sehr ruhigen, ein „regeltreue“ Schülerin neben einer, der die Einhaltung von Regeln schwerer fällt. „Zwei Pole“, nennt es Ottmar Ginzel. Dass die Unauffälligeren darunter leiden, haben die Pädagogen nicht beobachtet. Im Gegenteil. „Sie übernehmen Verantwortung und lernen auch halt zu sagen, wenn sie sich stärker auf sich und ihre Arbeit konzentrieren möchten“, erklärt Menz. In jedem Fall passt das Konzept zum Motto der Schule: „Ich für andere“. 

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