KGS „Alexander von Humboldt“: Ganztag als neue Heimat : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Die „Alexander von Humboldt“-Schule Wittmund befindet sich seit 2017 „in globalem Dialog“, darunter mit der Partnerschule Mariupol. Ein Vorzeigeprojekt von vielen, in denen Schülerinnen und Schüler „mündig die zukünftige Welt mitgestalten“.

Es war ein Auftritt, der zu Herzen ging. Gemeinsam mit der 16-jährigen, aus der Ukraine geflüchteten Xenia und ihrer Deutschlehrerin Viktoriia Bakhur schilderte Schulleiter Dr. Reinhard Aulke, wie der Krieg in der Ukraine das Leben der Menschen verändert und warum so viele ukrainische Schülerinnen und Schüler nun an der Kooperativen Gesamtschule „Alexander von Humboldt“ in Wittmund leben und lernen. Ein Millionenpublikum vor dem Fernseher hielt den Atem an und konnte nur ahnen, was in den vom Krieg betroffenen jungen Menschen vorgeht.

Doch der Schulleiter, seine Stellvertreterin Claudia Rieken, die didaktische Leiterin Kerstin Weerts und Ganztagskoordinatorin Christine Pommerenke vermitteln im Gespräch mit ganztagsschulen.org Normalität und Selbstverständlichkeit, wenn sie darüber sprechen, dass seit Frühjahr über 50 Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine an ihrer Schule aufgenommen worden sind. Denn die Schülerinnen und Schüler sind für sie keine Fremden: Schon seit 2009 kooperiert die KGS mit dem Städtischen Lyzeum Mariupol (ukrainisch: Маріуполь) in der Oblast Donezk.

Der internationale Austausch mit Schulen ist in Wittmund eine lange gepflegte und gelebte Tradition. Die Kooperative Gesamtschule ist PASCH-Schule („Schulen: Partner der Zukunft“) mit Unterstützung des Pädagogische Austauschdienstes (PAD) der KMK und ausgezeichnete „Niedersächsische Schule MIT Afrika“.

Hoffnung und Weihnachten

Adventskalender
Wichtiges Fest der Hoffnung © Alexander-von-Humboldt-Schule Wittmund

Dennoch weiß das Kollegium der KGS, dass die Lebenssituation der Kinder und Jugendlichen aus Mariupol, aber auch der anderen Regionen des angegriffenen Landes, die in der ostfriesischen Kreisstadt Wittmund eine vorläufige neue Heimat gefunden haben, eine ganz besondere ist. Wir treffen Xenia und ihre gleichaltrigen Freundinnen Veronica und Alexandra. Sie planen gerade ihren Tanzauftritt für die bevorstehende Weihnachtsfeier. „Wir werden etwas Langsames und dann etwas Fetziges zeigen“, verraten sie lachend.

Deutsch haben die Schülerinnen längst in ihrer alten Schule, unter anderem bei Deutschlehrerin Viktoriia Bakhur, gelernt – und eben im Austauschprojekt „Mariupol–Wittmund: zwei Städte am Meer“. Sie lassen uns ein wenig in ihre Seelen blicken. „Ja, wir haben jeden Tag Angst“, räumen sie ein, denn sie sind ohne ihre Eltern in die Partnerstadt gekommen. „Wir telefonieren, wir chatten, wir schreiben SMS“, sagen sie und lassen ein Stück weit offen, was sie fühlen, wenn sie ihre Familien einmal nicht erreichen.

„Ich betrachte meine Zeit in Deutschland als Neustart, fast wie einen zweiten Geburtstag“, erzählt der Schüler Lavrentii. Sie sind von Herzen dankbar, denn ihre Gastfamilien, die Schule, Mitschülerinnen und Mitschüler federn Heimweh, Ängste und Sorgen ab, soweit das eben möglich ist. „Wir können eine Atmosphäre von Geborgenheit, Zuverlässigkeit und Struktur schaffen. Aber wir können nicht ersetzen, was sie verloren haben“, sagt Kerstin Weers. Schulleiter Dr. Reinhard Aulke betont wiederum: „Sie machen es uns extrem leicht. Sie wollen nicht als Kriegsflüchtlinge betrachtet werden.“ Christine Pommerenke nennt es: „Sie haben eine stolze Haltung.“

Gefragt, worauf sie sich freuen, strahlen die Schülerinnen: „Dass unsere Familien Weihnachten hierherkommen können.“ Wie wichtig das Fest für sie ist, schildert Reinhard Aulke: „Wir haben sie gefragt, was das letzte Schöne ist, an das sie sich in der Heimat erinnern, und erhielten die Antwort: Weihnachten 2021 im Schnee. Das war im glänzend illuminierten Zentrum Mariupols.“

Solidargemeinschaft

Begabungsförderung als Teil der Schule
Begabungsförderung als Teil der Schule © Alexander-von-Humboldt-Schule Wittmund

Nun erleben sie die Feiertage im derzeit noch weniger winterlichen Wittmund. Sie können es trotzdem genießen. Sie spüren den Geist von Weihnachten. Sie sprechen auch über ihre Gedanken mit anderen Schülerinnen und Schülern. Das Video, das Zwölftklässlerinnen und Zwölftklässler kreiert haben, bewegt, macht nachdenklich. „Zeichen für den Weltfrieden“ haben es die Jugendlichen benannt. Wort für Wort möchte man es nach Russland oder in andere Kriegsregionen schicken. Es kann nicht kalt lassen, wenn es dann heißt: „Wir haben das Schicksal der Erde in unserer Hand. Also lasst uns zusammen aufstehen und die Erde bunt anmalen. Denn bunt ist das Symbol der Vielfalt.“

Wie alle Schülerinnen und Schüler der KGS engagieren sich Xenia, Veronica, Alexandra und Lavrentii derzeit beim großen Adventsbasar der Schule, besuchen Weihnachtsmärkte, beteiligen sich am MINT-Adventskalender und bereiten eben die Weihnachtsfeiern in ihren Klassen vor. Und sie wissen zu schätzen, was die „Alexander von Humboldt“-Schule neben ihrer Fachlichkeit ausmacht: Es wird miteinander geredet. Claudia Rieken formuliert das treffend: „Jede und jeder, egal welchen Alters und welcher Funktion‘, hängt mal durch und steht mal oben. Dann sind wir füreinander da.“ Kerstin Weerts bringt es in einem Wort zusammen: „Solidargemeinschaft“.

Ganztagsangebot: Förderung und Miteinander

Xenia, Veronica und Alexandra besuchen Regelklassen. Andere Schülerinnen und Schüler aus anderen Ländern dagegen lernen zunächst einmal Deutsch in sogenannten Sprachlernklassen. Der Kontakt zu den Mitschülerinnen und Mitschülern wächst durch die Teilnahme an weniger sprachintensivem Unterricht – wie Sport und Kunst. Es ist ein tief verwurzeltes Bedürfnis der Lehrkräfte, Vielfalt und Heterogenität nicht nur auf schönen Schautafeln zu präsentieren.

Seit Längerem besuchen bereits Schülerinnen und Schüler, die früher Förderschulen zugeteilt waren, die Regelschulklassen der KGS. Auch deshalb ist die Freude des Schulleitungsteams groß, dass es gelungen ist, drei sonderpädagogisch qualifizierte Fachkräfte an die von aktuell rund 1400 Schülerinnen und Schülern besuchte KGS mit teilgebundenem Ganztag zu locken. Gemeinsam mit einem Pool von zehn Schulbegleiterinnen und -begleitern ermöglichen sie es, in nahezu allen Unterrichtsstunden der 5. und 6. Klassen doppelt und mitunter dreifach besetzt den „eher klassischen Unterricht“ durchzuführen. „Das erleichtert die Förderung von Schülerinnen und Schülern mit Unterstützungsbedarf, aber eben auch jener mit besonderen Begabungen“, versichert Claudia Rieken.

Bläserprojekt des 5. und 6. Jahrgangs
Bläserprojekt des 5. und 6. Jahrgangs © Alexander-von-Humboldt-Schule Wittmund

Christine Pommerenke stimmt als Ganztagskoordinatorin zu: „Es geht nicht nur um die Förderung, sondern auch das Miteinander abseits des Unterrichts.“ Neben der Hausaufgabenbegleitung bietet die KGS ihren Schülerinnen und Schülern vielfältige Arbeitsgemeinschaften gemeinsam mit externen Anbietern wie dem Naturschutzhof Wittmunder Wald, dem Imkerverein oder der Volkshochschule und Musikschule Friesland-Wittmund an. In Jahrgang 5 ist die Teilnahme an einer Arbeitsgemeinschaft verpflichtend.

Die KGS kooperiert gleich mit mehreren Sportvereinen, vom MTV Jever über den VfB Oldenburg bis zu Werder Bremen und Hannover 96. Besonders bewegungsmotivierte und sportbegeisterte Schülerinnen und Schüler können seit 2013 nach einem Test die von Fachbereichsleiter Frank Winkler geleitete Fußball-Klasse und eine allgemeine Sport-Klasse wählen.

Ein weiterer Baustein des sozialen Lernens ist das verbindliche Sozialpraktikum. Das Praktikum kann innerhalb der Schule – zum Beispiel in der Hausaufgabenhilfe, der Konfliktlotsen-AG, im Sanitätsdienst oder durch Übernahme einer Patenschaft im Jahrgang 5 – oder außerhalb der Schule in einer Altenpflegeeinrichtung, bei der freiwilligen Feuerwehr, bei den Tafeln oder in einer Kita absolviert werden.

Fachbereich Ästhetik: ein Aushängeschild

Der Unterricht an der KGS zeichnet sich, wie Schulleiter Reinhard Aulke betont, durch viele klassische Elemente aus. Er findet in größtenteils modernen Räumen mit bester IT-Ausstattung statt – einem Unglück sei Dank, möchte man fast sagen. Denn vor knapp zehn Jahren gab es einen Brand in der Schule, die anschließend neu geplant werden musste. Dabei fanden dann auch didaktische Überlegungen der Schulleitung und der Lehrkräfte Einzug in die Raumgestaltung: Hochmoderne Fachräume entstanden, kleinere Räume neben den Klassenzimmern ermöglichen differenzierten Unterricht.

Als ein Aushängeschild gilt der große Fachbereich Ästhetik. Zu ihm gehören die Fächer Kunst, Textiles Gestalten, Musik und Gestaltendes Werken. Die Homepage der KGS informiert darüber, dass alle Schülerinnen und Schüler der Jahrgänge 5 und 6 in der Integrierten Eingangsstufe auch in diesem Fachbereich im Klassenverband lernen, aber ihrem Schulzweigwunsch entsprechend differenziert unterrichtet und bewertet werden. Im Jahrgang 5 erhalten sie ganzjährig zweistündigen Pflichtunterricht in Kunst, dementsprechend im Jahrgang 6 in Musik.

Seit 2013 gibt es die Sport-Klassen.
Seit 2013 gibt es die Sport-Klassen. © Alexander-von-Humboldt-Schule Wittmund

Der 5. und der 6. Jahrgang können – alternativ zum regulären Musikunterricht – ins „Bläserprojekt“ einsteigen, mit Instrumentalunterricht als Ganztagsangebot in Kooperation mit der Musikschule. Für die älteren Schülerinnen und Schüler kommt die Big Band hinzu – die im Juni 2022 gerade bei der Wiedereröffnung des Wittmunder Stadions begeisterte.

Projektorientierung und Nachhaltigkeit

Beim Gang durch die mit künstlerischen Schülerarbeiten reicht verzierten Gänge des hellen Gebäudetraktes hält der Schulleiter kurz inne: „Wir möchten künftig den Unterricht stärker projektorientiert ausrichten, etwa bei der Demokratiebildung und der Bildung für nachhaltige Entwicklung.“ Er geht ein paar Schritte und ergänzt: „Wir bieten schon sehr viele Profile an. Doch ich glaube, wir müssen sie noch stärker nach außen sichtbar machen.“ Das Angebot soll sich, so hofft er, noch stärker ins Bewusstsein der Schülerinnen und Schüler einbrennen.

Ein bekanntes Projekt ist bereits jetzt die „Natürlich Nachhaltig Manufaktur“ (NANAMA), die Schülerfirma des 9. Jahrgangs im Profilkurs Wirtschaft mit ihren nachhaltigen Waren und Dienstleistungen. Im „Apfelprojekt“ beispielweise ernten die Schülerinnen und Schüler Fallobst-Äpfel und verarbeiten sie selbstständig weiter. Nach einer gelungenen Verkaufsaktion 2021 in einem Supermarkt werden Apfelsaft und Apfelgelee bald in Wittmunder Läden zu haben sein.

Eine andere Nachhaltigkeitsaktion ist die Recycling-Tonne: Schülerinnen und Schüler haben in einer Projektwoche aus einer alten Papier-Mülltonne eine „KGS-Pfandbox“ für Kunststoffflaschen hergestellt. Der Pfanderlös wird in soziale Projekte investiert. Auch größere Konzepte für regionalen Klimaschutz wurden entwickelt, etwa für einen kostenfreien Lastenradverleih oder „Urban Gardening“ zur Begrünung von Wittmund mit regionalen Pflanzen, um die Biodiversität zu fördern. Solche Aktionen, die Ökonomie, Ökologie und Soziales verbinden, ermöglichen den Erwerb vielfältiger Kompetenzen: vom Zeitmanagement über selbstständige Marktanalysen bis zur Gewinnung von Kooperationspartnern in der Region.

Eine mündige Generation, die die zukünftige Welt mitgestaltet

Einen Mangel an Schülerinnen und Schülern hat die „Alexander von Humboldt“-Schule, eine der größten Gesamtschulen Niedersachsens, nicht zu beklagen. Die ausgefeilte Berufs- und Studienorientierung, die Schülerinnen und Schüler auf Ausbildungsberufe, Betriebe, Hochschulen und Universitäten wie Bremen, Vechta und Oldenburg vorbereitet, hat sich längst herumgesprochen, ebenso die hohe Durchlässigkeit der Kooperativen Gesamtschule, deren Bildungsgänge „unter einem Dach“ alle Schulabschlüsse vom Hauptschulabschluss bis zum Abitur ermöglichen.

Die Big Band spielt zur Eröffnung des Wittmunder Stadions.
Die Big Band spielt zur Eröffnung des Wittmunder Stadions. © Alexander-von-Humboldt-Schule Wittmund

Dass Menschen miteinander in Kontakt und Austausch kommen, wird wieder besonders das internationale Online-Jugendtreffen „EUREKA! Schulen in globalem Dialog“ zeigen. 2017 hat die KGS das Netzwerk von Partnerschulen aus Argentinien, Indonesien, Kenia, der Türkei und der Ukraine gegründet. Sein Leitbild orientiert sich an der UN-Agenda 2030 und am Aktionsprogramm der UNESCO Global Citizenship Education, wie der eigens geschaffene Internetauftritt verrät. Der Dialog, soll, so Schulleiter Dr. Aulke, die junge Generation ermutigen und stärken, „innovativ, solidarisch und mündig die zukünftige Welt mitzugestalten“.

Dazu trägt nicht zuletzt das ungeschriebene Gesetz der Schule bei: „Wir lernen und leben hier zusammen, nehmen alle mit, sind ostfriesisch gelassen und mit Freude und Entspanntheit dabei.“

Hörtipp bei Lehrer-Online für Lehrerinnen und Lehrer, Schulleiterinnen und Schulleiter und pädagogische Fachkräfte:

Viele ukrainische Schülerinnen und Schüler finden aktuell ihren Weg in deutsche Schulen. Wie gehen die Länder und Schulen damit um? Was können Lehrkräfte und Schulen tun, um ihnen einen nachhaltigen Schulstart und -weg zu ermöglichen?

Schulleiter und stellvertretender Vorsitzender des deutschen Philologenverbands OStD Stefan Düll erläutert seine Einschätzungen und Erfahrungen aus der Praxis. 

Ukrainisches und deutsches Schulsystem 04:50
Ukrainische Schülerinnen und Schüler in Deutschland 07:48
Willkommensklassen? 09:43
Schulungen für Lehrkräfte? 11:41
Koordination der neuen Schülerinnen und Schüler 15:54

Die Übernahme von Artikeln und Interviews - auch auszugsweise und/oder bei Nennung der Quelle - ist nur nach Zustimmung der Online-Redaktion erlaubt. Wir bitten um folgende Zitierweise: Autor/in: Artikelüberschrift. Datum. In: https://www.ganztagsschulen.org/xxx. Datum des Zugriffs: 00.00.0000