Individuelle Förderung im Ganztagsgymnasium : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Reclams „Universal-Bibliothek“ ist nicht nur Leipzigern ein Begriff. In der Bildungstradition steht das Anton-Philipp-Reclam-Gymnasium, das universale Bildung in den Sprachen und MINT mit individueller Förderung verbindet.

Attraktiver Umbau des Schulgebäudes ...
Attraktiver Umbau des Schulgebäudes ... © J. Ströller

Das Wetter am Tag unseres Besuches in Leipzig darf als durchwachsen bezeichnet werden. Ein wolkenverhangener Himmel, der ab und zu seine Schleusen öffnet. Pfützen, denen es auszuweichen gilt. Doch das Wetter kann die Atmosphäre am Anton-Philipp-Reclam-Gymnasium nicht trüben. Unter einem Vordach stehen insbesondere die Jüngsten geduldig in der Schlange, um sich, der Natur trotzend, am Eiswagen verwöhnen zu lassen. Es ist Pause.

Natürlich streben nicht alle der mehr als 1000 Schülerinnen und Schüler dem süß-kalten Vergnügen entgegen. Andere, zumeist Ältere, nutzen eine der vor zehn Jahren eingerichteten, kleinen Vorbauten ähnelnden hellen Lernecken, um sich im Team auf die nächste Unterrichteinheit vorzubereiten, Inhalte, die in der Stunde zuvor noch nicht komplett verinnerlicht werden konnten, nochmals durchzugehen.

„Wir genießen diese Möglichkeit“, verrät eine 16-Jährige. Sie findet auch, dass Gestaltung und Farbe der Lernecken das Schulgebäude, einer der von Leipziger Architekten zum Campus umgestalteten Typenbauten, deutlich attraktiver gemacht haben. Sie weiß von älteren Freunden, dass diese dem Charme der Schule vor dem Umbau 2013 nicht so sehr verfallen waren. „Aber“, so fügt die Jugendliche in Erinnerung an ihre älteren „Reclamianer“-Freunde hinzu: „Das Abi haben sie trotzdem geschafft.“

Deutsch-Französisches Bildungszentrum „Franz“

Das Gymnasium mit dem berühmten Namen des Leipziger Verlegers und Buchhändlers Anton Philipp Reclam – der 1828 in Leipzig eine Leihbibliothek mit „Journal-Lesezirkel“ erwarb und sich mit lateinischen und griechischen Klassikerausgaben ebenso wie „Shakespeares Werken“ einen Namen machte, bevor 1867 sein Sohn mit Goethes „Faust“ die „Universal-Bibliothek“ begründete, die jeder Schüler und jede Schülerin heute kennt – haben auch schon früher Merkmale ausgezeichnet, die erfolgreiches Lernen ermöglichten.

Aus welchen Motiven sich heute Schülerinnen und Schüler für diese Schule entscheiden, ist sicher unterschiedlich. Für viele ist der Schwerpunkt Französisch attraktiv, sei es im Unterricht als vorgezogene zweite Fremdsprache oder im vertieften bilingualen Weg. Parallel dazu ist das Reclam-Gymnasium aber auch eine „MINT-freundliche Schule“, in der die Schülerinnen und Schüler  ab der Klassenstufe 8 ein naturwissenschaftliches Profil wählen können.

Das Reclam-Gymnasium mit teilgebundenem Ganztag gehört zum Deutsch-Französischen Bildungszentrum der Stadt Leipzig, dem „Franz“. Dieser Zusammenschluss von fünf Leipziger Bildungseinrichtungen in öffentlicher Trägerschaft hat sich eine deutsch-französische bilinguale und bikulturelle Bildung und Erziehung der Kinder und Jugendlichen von der Kindertageseinrichtung bis zum Schulabschluss zur Aufgabe gemacht.

Toleranz und Weltoffenheit

Wettbewerb „Zeich(n)en für Europa“ der städtischen Bibliotheken Dresden
Wettbewerb „Zeich(n)en für Europa“ der städtischen Bibliotheken Dresden © Kathrin Studzinski

Alle Fünftklässlerinnen und -klässler des Gymnasiums lernen Französisch, zwei der fünf Klassen jedes Jahrgangs verstärkt im bilingualen Unterricht. Wer in eine bilinguale Klasse aufgenommen werden möchte, muss sich einer Prüfung stellen. Dabei geht es nicht um die französische Sprache speziell. „Wir wollen in dieser kleinen Eignungsrunde die Begabung für Sprache im Allgemeinen erkennen“, erläutert Schulleiterin Dr. Petra Seipel. Und wenn die Zahl der Interessierten und Begabten größer ist als zwei Klassen aufnehmen können? „Dann werden alle aufgenommen. Wenn erforderlich richten wir mehr Französisch-Klassen ein“, verspricht Petra Seipel.

Bilingual unterrichtet werden ab Klasse 7 Geografie und ab Klasse 9 Geschichte. Begegnungen mit Partnerschulen in zahlreichen Ländern, natürlich auch in Frankreich, gehören selbstverständlich zum Schulleben. Deren Wert beschreibt die Ganztagskoordinatorin Theresia Zapke anhand ihrer eigenen Schulkarriere. „Mir fehlte in der Schule der konkrete Anlass, eine andere Sprache zu nutzen und damit auch wirklich zu lernen. Hier am Reclam-Gymnasium leben wir Begegnungen mit anderen Ländern und damit auch mit ihren Sprachen“, erläutert sie. Sie ist überzeugt, dass diese Interkulturalität, die sich auch in einer sehr heterogenen Schülerschaft widerspiegelt, sich in Toleranz und Weltoffenheit niederschlägt.

Im Schulprogramm wird sichtbar, welchen Stellenwert Sprachen insgesamt beigemessen werden, weil „sie dazu beitragen, sich in der heutigen Welt mit vielen offenen Grenzen zurechtzufinden“. Schülerinnen und Schüler, die es wünschen, mache sich fit fürs Cambridge-Diplom, das europäisches Exzellenzlabel CertiLingua und das Delf-Diplom. Und auch Latein steht, obwohl nicht als eigenes Unterrichtsfach angeboten, auf der Palette der Möglichkeiten – als Ganztagsangebot ist es „buchbar“ bis zum Latinum. Spanisch und Italienisch gibt es ab der Klassenstufe 8. Wer sich hier anmeldet, weiß, dass sie oder er am Ende der Schullaufbahn über sowohl hohe sprachliche als auch interkulturelle Kompetenzen verfügt.

Talente entdecken und fördern

Zu den erklärten Zielen des Gymnasiums zählt Bildung über den Lehrplan hinaus. Theresia Zapke formuliert das so: „Wir möchten neben individuellen Interessen auch die Kompetenzentwicklung und Werteorientierung unserer Schülerinnen und Schüler unterstützen.“ Entsprechend sieht der teilgebundene Ganztag in allen Jahrgangsstufen verpflichtende Projekttage vor. In Jahrgang 5 sind dies aktuell der Ägyptentag und ein Projekt, das den Umgang mit dem Smartphone reflektiert. In Jahrgang 7 wird das Bewusstsein für Gesundheitsthemen geschärft, wenn es etwa um Drogen oder Aids/HIV geht.

„FreiDay“: fächerverbindend an eigenen Projekten arbeiten
„FreiDay“: fächerverbindend an eigenen Projekten arbeiten © Maria Kasparek

„Zudem organisieren wir Klassenklimaprojekte, weil uns ein gutes Miteinander besonders am Herzen liegt.“ Seit nunmehr drei Jahren ergänzen auch „Begabungs- und Begabtenförderung“ in Jahrgang 6 die Angebotsliste. Darunter auch für ein Gymnasium eher ungewöhnliche Inhalte wie Nähen und Kalligrafie. Letztere bietet die Ganztagskoordinatorin an und ist begeistert: „Es ist beeindruckend, welche Kunstwerke da zum Teil entstehen. Die könnte man glatt ausstellen.“

Den Wert dieser Zusatzangebote sehen Petra Seipel und Theresia Zapke auch darin, dass Schülerinnen und Schüler ihre Begabungen jenseits des herkömmlichen Fächerkanons entdecken können. „Sie bestehen eben nicht nur aus ihrem Kopf. Zudem lernen wir alle unsere Schülerinnen und Schüler aus einem anderen Blickwinkel kennen. Das erleichtert uns, sie zu verstehen, vor allem aber auch, sie individuell mit ihren Talenten zu fördern “, sagt die Schulleiterin.

Zusätzliche Perspektiven eröffnen

Insgesamt bietet das Gymnasium 21 Arbeitsgemeinschaften an. Sie werden überwiegend von externen Fachleuten geleitet, wie das Schulorchester der Klassenstufen 5 bis 12 durch den Pianisten Graham Welsh, „Gitarre für Anfänger“ durch einen Gitarrenlehrer der Musikschule TonArt, „Französisches Theater“ durch den Theaterpädagogen Paul Lederer oder die AG Animation/Comic, die Hero Society Leipzig anbietet. Die „LGBTQ + Allies AG“ begleitet der Leipziger Verein RosaLinde.

Doch auch Lehrerinnen oder Lehrern wie Deutsch- und Geschichtslehrerin Theresia Zapke sind beteiligt. So betreuen die Musiklehrkräfte Anke Schöneich und Kai Zürner die Chöre, und Französischlehrer Monsieur Lemullois bietet Latein an. Den Debattierclub leitet eine Zwölftklässlerin. Die Reclam-Schulband der Klassenstufen 8 bis 12 organisiert sich im Tonstudio selbst.

Zahlreiche regionale Kooperationspartner, aber auch Forschungseinrichtungen eröffnen den jungen Menschen am Reclam-Gymnasium zusätzliche Perspektiven. Auf der Liste der Kooperationspartner in der Begabungsförderung stehen klangvolle Namen wie das Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, das mit dem weltbekannten Zoo Leipzig zusammenarbeitet, die Westfälische Wilhelms-Universität Münster oder die Physikdidaktik der Freien Universität Berlin.

Blick über den Zaun motiviert

Lesung in der Bibliothek: Schriftsteller Karsten Kruschel
Lesung in der Bibliothek: Schriftsteller Karsten Kruschel © privat

Derzeit bietet die Schule auch Nachhilfe an. „Wenn man etwas Positives an Corona entdecken will, sind es die Mittel aus dem Aktionsprogramm ‚Aufholen nach Corona’“, sagt die Schulleiterin. Knapp 20 Förderangebote stehen aktuell zur Auswahl. Doch die Pandemie hat bei vielen Lehrenden der Schule den Eindruck verstärkt, dass ein stärkeres Coaching der Schülerinnen und Schüler die bessere Alternative zur Nachhilfe darstellt.

Schulleiterin Petra Seipel und Ganztagskoordinatorin Theresia Zapke werben im Kollegium, zu dem im Herbst erstmals auch ein Sozialarbeiter stößt, für eine Neuorientierung des eigenen Handelns. Sie wissen von entsprechenden Modellen, etwa in den Niederlanden. Dort wird den Schülerinnen und Schülern ein Höchstmaß an Selbstständigkeit ermöglicht. Auf diesem Weg werden sie von persönlichen Coaches begleitet, zumeist mit täglichen Beratungen und der Möglichkeit, eigene Schwerpunkte zu setzen. Beispielsweise auch, wie viele Stunden pro Woche einem einzelnen Fach von den Lernenden selbst eingeräumt wird.

„Wir möchten unseren Schülerinnen und Schülern in ihrer Individualität noch gerechter werden und mehr Möglichkeiten, beispielsweise auch des fächerverbindenden Arbeitens anbieten“, nennt die Schulleiterin ein Schulentwicklungsziel. Daher hat das Gymnasium die Initiative „FreiDay“ aufgegriffen und in einer Pilotphase in der Klassenstufe 5 an das eigene Schulkonzept angepasst. Vier Stunden in der Woche arbeiten die Kinder fächerverbindend an eigenen Projekten mit einem integrierten Methodenkompendium, unterstützt von außerschulischen Partnern.

„Die Schülerinnen und Schüler sehen die Probleme ihrer Zeit und suchen nach Wegen, diesen zu begegnen. Aus anfänglichen Vorträgen entstanden konkrete Projekte: die Anlage eines Schulgartens oder die Vermittlung der Kinderrechte an Kindergartenkinder,“ sagt Theresia Zapke. Dabei bleibt der Blick des Kollegiums immer darauf gerichtet, alle Schülerinnen und Schüler gleichermaßen zu fördern. Diese sollen künftig noch mehr voneinander lernen und profitieren. Entsprechend entsteht aktuell ein Angebot „Schüler helfen Schüler“. Damit verbinden Schulleiterin Petra Seipel und Ganztagskoordinatorin Theresia Zapke auch den Wunsch, in der Schule „nicht nur auf eine Ellenbogengesellschaft, sondern für ein soziales Miteinander“ vorzubereiten.

Die Übernahme von Artikeln und Interviews - auch auszugsweise und/oder bei Nennung der Quelle - ist nur nach Zustimmung der Online-Redaktion erlaubt. Wir bitten um folgende Zitierweise: Autor/in: Artikelüberschrift. Datum. In: https://www.ganztagsschulen.org/xxx. Datum des Zugriffs: 00.00.0000