Im Ganztag Eigenmotivation entwickeln : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

„Wir sind ein Lern- und Lebensort und vermitteln nicht nur Fachwissen“, sagt Schulleiter Thomas Schlicke. In der Theodor-Fontane-Gemeinschaftsschule Arendsee sollen Schülerinnen und Schüler für ihr Leben lernen.

Lern- und Lebensort
Lern- und Lebensort © GmS Arendsee

Irgendwie stellt sich die Szene als symbolträchtig heraus. Wir sind mit Thomas Schlicke, dem Schulleiter der Theodor-Fontane-Gemeinschaftsschule Arendsee, verabredet. Beim Eintreffen hält just der Briefträger mit einem Stapel Post. Der agile Schulchef, gerade vor die Tür getreten, nimmt einen Teil der Briefe und drückt sie uns in die Hand: „Bitte festhalten.“ Er darf noch ein größeres Päckchen entgegennehmen. Die Momentaufnahme spiegelt eine Haltung der jungen Gemeinschaftsschule wider: „Hier packen alle mit an.“

Zwei, für die das in jedem Fall gilt, verstärken das Team seit Kurzem – zum Glück, wie Thomas Schlicke strahlend sagt –, konkret seit diesem Schuljahr. Nancy Haugk ist eine aus Berlin in die Altmark gezogene pädagogische Mitarbeiterin. Jenni Hoyer kommt vom Bundesfreiwilligendienst, unterstützt, wo es erforderlich ist, führt Aufsicht in der Pause, begleitet Schülerinnen und Schüler in der Nachhilfezeit und ist jetzt schon liebgewonnene Ansprechpartnerin für die „Jugend“. Beide bezeichnen sich gerne als „Mädchen für alles“. Wie einige neue Lehrkräfte und drei Seiteneinsteigerinnen tragen sie dazu bei, dass das Team deutlich jünger wurde.

Der Schulleiter ist dankbar, dass sein Bemühen um die pädagogischen Mitarbeiterinnen endlich von Erfolg gekrönt war. „Nancy und Jenni bringen andere Sichtweisen und neue Impulse ein. Das ist wertvoll, auch wenn wir Älteren uns vielleicht noch daran gewöhnen müssen, dass sich Schule wandelt und es nicht darum gehen kann, immer so weiter zu machen, wie man es gefühlt ewig getan hat.“ Haugk und Hoyer machen jedoch gleich klar, als was sie sich nicht verstehen: „Wir unterstützen die Lehrkräfte nach Kräften und gerne. Aber wir sind keine Ersatzlehrerinnen.“ Was wohl heißen soll, dass ihre Aufgabe nicht ist, Unterrichtsausfall zu kompensieren.

Rollenwechsel für die Lehrkräfte

Thomas Schlicke kam vor vier Jahren als Schulleiter zurück nach Arendsee an die Theodor-Fontane-Schule, an der er bereits früher als Lehrer gearbeitet hatte. Er kam mit Visionen. Einige davon hat er als stellvertretender Schulleiter der Lessing-Ganztags- und Gemeinschaftsschule in Salzwedel aufgesaugt. Eine betrifft das selbstständige und eigenverantwortliche Lernen der Schülerinnen und Schüler. „Wir sind schließlich ein Lern- und Lebensort und vermitteln nicht nur Fachwissen“, begründet er das.

Die pädagogischen Mitarbeiterinnen bringen andere Sichtweisen und Impulse ein
Die pädagogischen Mitarbeiterinnen bringen andere Sichtweisen und Impulse ein © GmS Arendsee

Er weiß, dass der Rollenwechsel vom „Chef im Ring“ zum Begleiter nicht einfach ist: „Keiner von uns ist das gewohnt.“ Er baut darauf, dass positive und erfolgreiche Lernkarrieren überzeugend wirken. Nancy Haugk stimmt ihm zu, wenn er eine strukturiertere Form des selbstorganisierten Lernens und Arbeitens anstrebt. In den drei Stunden, die wöchentlich dafür vorgesehen sind, werden fächerverbindende Themen bearbeitet – im jeweils eigenen Tempo und entsprechend den individuellen Lernvoraussetzungen.

„Dazu benötigen die Schülerinnen und Schüler dennoch eine Art Leitfaden, beispielsweise bei der Internetrecherche“, weiß die pädagogische Mitarbeiterin. Wichtig ist ihr, dass es in diesen Unterrichtseinheiten, aber auch im Ganztagsangebot nicht nur um einzelne fachliche Inhalte geht. „Wir möchten auf das Leben vorbereiten, die Kinder und Jugendlichen befähigen, komplexe Aufgaben zu lösen, die das Leben bereithält.“ Dazu gehören etwa auch das Einrichten einer ersten eigenen Wohnung und der Umgang mit den Finanzen.

Menschen an die Schule binden

Schulleiter Thomas Schlicke sieht als wichtigste Voraussetzung für erfolgreiches Lernen auf allen Ebenen die Eigenmotivation. Diese zu entwickeln, gelingt nach seiner Ansicht am stärksten in den Angeboten des Offenen Ganztags. Überwiegend Externe bieten aktuell rund 20 Kurse an. Sie zu finden, fällt dem Schulleiter, der im Stadtrat sitzt und mehreren Vereinen angehört – etwa dem Arendseer Regattaverein –, in der ländlichen Region leicht. Seine Credo: „reden, überzeugen, binden“. So hat er Menschen gefunden, die AGs anbieten: Filzen oder Trommeln, Schlagzeugspielen oder Tanzen in einem dafür eigens hergerichteten Raum.

Dass der gebundene Ganztag nicht eingeführt werden konnte, bedauert er. Gerne würde er auch eine gymnasiale Oberstufe an der Gemeinschaftsschule haben. Doch klagen über das halbleere Glas möchte er nicht: „Auch wenn wir das beim Wandel von der Sekundar- zur Gemeinschaftsschule nicht geschafft haben, so hat der Wechsel der Schulform eine wertvolle Beschäftigung mit unserem Schulkonzept mit sich gebracht.“

Schlicke versucht stets, seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter zu motivieren, das Beste aus den Möglichkeiten zu machen. Eine stellt das zweiwöchige Projekt der Truppmannausbildung bei der örtlichen Feuerwehr dar. Alle zehnten Klassen nehmen daran teil und sind im wahrsten Sinne des Wortes mit „Feuereifer“ dabei. Der Gewinn für sie: Die Tür zur späteren Arbeit bei der Wehr ist ihnen geöffnet. Und die örtliche Feuerwehr freut sich über potenzielle Nachwuchskräfte.

Für das Leben lernen

Die Schülerfirma „Fontanesnack“ übernimmt die Pausenversorgung
Die Schülerfirma „Fontanesnack“ übernimmt die Pausenversorgung © GmS Arendsee

Als eine perfekte Verzahnung von Ganztag und Unterricht hat sich das Thema Technik und Hauswirtschaft entpuppt. Wechselweise nehmen die Schülerinnen und Schüler an einem der Themen im Fachunterricht teil, während sie in einer am Vormittag platzierten Arbeitsgemeinschaft am Umgang mit Holz und Handarbeit feilen.

Apropos Arbeitsgemeinschaften: Jede Schülerin, jeder Schüler soll an einer AG teilnehmen. Möglichkeiten gibt es ausreichend. Eine vom Schulleiter selbst initiierte AG Bühnentechnik nutzten einige Schülerinnen und Schüler. Sie trafen sich für viele Stunden, übten gemeinsam den Aufbau einer Bühne und deren Ausleuchtung. Wenn ihre Mitschülerinnen und Mitschüler dann für ihre Tanz- oder Gesangsdarbietungen Applaus erhalten, schwingt auch beim Bühnenteam Stolz mit. Sie haben wesentlich zum Erfolg der Aufführung beigetragen.

Schlicke hebt hervor: „In solchen AGs lernen viele mehr als im Unterricht und nehmen konkrete Erfahrungen für ihr Leben, möglicherweise auch für ihren späteren Beruf mit.“ Das trifft auch auf die Schülerfirma „Fontanesnack“ zu, die sich 2013 mit Unterstützung von Lehrer Hans Georg Kempke gegründet hat und seitdem die Pausenversorgung übernimmt. Bald werden die Schülerinnen und Schüler auch wieder die weihnachtliche Gala mit Verkauf von Selbstgemachtem, Präsenten, Tanz und Musik vorbereiten. Jede Klasse stellt etwas auf die Beine. Und wer weiß, vielleicht sitzt auch jemand am von Seiteneinsteigerin Bettina Schmidt eigens über private Kanäle beschafften Schlagzeug.

Schülerinnen und Schüler ernst nehmen

Möglichst viel soll mit den Schülerinnen und Schülern gemeinsam vorbereitet und entschieden werden. „Sie sollen eigene Ideen und Interessen einbringen“, wünscht sich Thomas Schlicke. Die von Schulsozialarbeiterin Jana Zachhuber begleitete Wahl des Schülerrates ergänzte die Beteiligungsmöglichkeiten um demokratische Erfahrungen. Jenni Hoyer findet das „klasse“, weil „ich in meiner Schulzeit keinerlei Erfahrungen mit politischer Bildung sammeln konnte.“

Verzahnung von Ganztag und Unterricht durch Technik und Hauswirtschaft
Verzahnung von Ganztag und Unterricht durch Technik und Hauswirtschaft © GmS Arendsee

Wichtig sei nur, die Meinungen ernst zu nehmen. Nicht immer macht diese Einstellung das Leben an der Schule einfacher. „Als wir ,Schule ohne Rassismus und Gewalt` werden wollten, kam die erforderliche Mehrheit von 70 Prozent der Schülerinnen und Schüler nicht zustande“, erinnert sich Schlicke. Er könnte ein „zunächst“ hinzufügen. Denn in intensiven Gesprächen in allen Klassen leistete er offensichtlich gute Überzeugungsarbeit. Inzwischen darf sich die Schule mit dem Titel schmücken.

Die Theodor-Fontane-Schule, die dem örtlichen Netzwerk „Stark vor Ort“ sowie dem Netzwerk „Schulentwicklung“ angehört, hat 2023 im Kontext der Bildung für nachhaltige Entwicklung nicht nur landes-, sondern bundesweit auf sich aufmerksam gemacht: Für ihr Vorhaben einer „Klima-Radtour“ von der Altmark in den Harz wurde sie als einer der 16 „Energiesparmeister“ ausgezeichnet. 2024 werden Schülerinnen  und Schüler, die ihr Abschlusszeugnis übrigens im ehrwürdigen Kloster Arendsee überreicht bekommen, von Arendsee auf den Brocken radeln.

Auf den 214 Kilometern werden sie sich mit den 17 Nachhaltigkeitszielen auseinandersetzen. Diese hängen deutlich sichtbar im Erdgeschoss der Schule. Eine Etage höher zieren Originaltrikots der Fußball-Bundesligisten die Wand. Die Tabelle wird von Spieltag zu Spieltag in Eigenregie von Schülerinnen und Schülern aktualisiert. Nur ein Trikot fehlt in der Sammlung noch: Jenes von Aufsteiger Heidenheim. Noch.

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