Hellwinkelschule Wolfsburg: Offene Ganztagsschule – aber verzahnt : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Die Hellwinkelschule in Wolfsburg beweist, dass auch für eine Offene Ganztagsschule viel an Verzahnung und Team-Strukturen möglich ist.

Oft ist davon die Rede, dass in Offenen Ganztagsschulen die Verzahnung zwischen Vor- und Nachmittag nicht gegeben sei. Während am Vormittag ganz normal der Unterricht wie ehedem stattfinde, gebe es am Nachmittag davon unabhängige Betreuungsangebote für eine kleinere Gruppe von Schülerinnen und Schülern. Dieser strukturelle Knackpunkt mag in vielen Fällen ein Hindernis für eine Ganztagsschule aus einem Guss sein – dass es nicht unüberwindbar ist, beweist die Hellwinkelschule, eine Offene Ganztagsgrundschule in Wolfsburg.

„Bei uns ist der Anspruch sowohl von Schulleitung und Kollegium als auch pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, uns zu vernetzen. Wir können uns nicht vorstellen, den Vor- und den Nachmittag voneinander getrennt zu denken“, formuliert Schulleiterin Christel Schlegel den Leitgedanken, der hinter der Schulentwicklung ihrer seit fünf Jahre bestehenden Ganztagsschule steht.

Vor zwölf Jahren übernahm sie die Leitung der Schule, die auf drei Standorte verteilt ist, was „die ganze Verwaltung schon schwierig macht“, wie es Christel Schlegel formuliert. „Als ich kam, war an Schulentwicklung kaum etwas gelaufen“, erinnert sich die Rektorin. Das sollte sich von da an ändern, denn die Pädagogin besaß den Ehrgeiz, nach Jahren als Konrektorin an einer kleineren Grundschule nun eine größere Schule nach ihren Vorstellungen gemeinsam mit den Lehrerinnen und Lehrern zu verändern. Das Stichwort: „Individuelle Förderung“. Das Schulprogramm, das mit dem Kollegium erarbeitet wurde, wurde unter die Leitfrage gestellt: „Was benötigt ein Kind, um sich in unserer Schule wohlzufühlen?“ Auch die Vermittlung von Werten und die Zusammenarbeit mit den Eltern wurden zu Schwerpunkten.

Schulvertrag verpflichtet zur Einhaltung von Regeln des Miteinanders

Die individuelle Förderung ist an der Hellwinkelschule um so wichtiger, als laut der Schulleiterin die Schule „die ganze gesellschaftliche Palette widerspiegelt“: „Wir haben Schülerinnen und Schüler aus Hartz-IV-Familien und aus Doppelverdienerfamilien, aus bildungsorientierten Familien mit hohen Ansprüchen an die Schule und Familien, die ihre Kinder wenig unterstützen können, von Alleinerziehenden, aus Migrantenfamilien. Inzwischen haben wir auch Flüchtlingskinder aus Syrien, Simbabwe oder Rumänien, die nicht selten traumatische Erfahrungen hinter sich haben.“

Auf diese ganze Bandbreite einzugehen, der Heterogenität gerecht zu werden, ist die große Herausforderung – der sich alle bewusst sein und für die sich auch alle verantwortlich fühlen sollen. Sämtliche Schülerinnen und Schüler, Eltern, Lehrkräfte und die pädagogischen Partner unterzeichnen einen Schulvertrag, in dem für alle am Schulleben beteiligten Personengruppen verbindliche Regeln aufgestellt sind. „Auch wenn Ihnen die eine oder andere Regel als selbstverständlich erscheint, wünschen wir uns, dass diese Regeln beachtet und eingehalten werden“, heißt es im Vorwort zum Schulvertrag. Der Vertrag soll zusätzlich für ein Miteinander, in dem sich alle wohlfühlen, sensibilisieren.

316 Schülerinnen und Schüler lernen derzeit an der dreizügigen Grundschule. 25 Lehrkräfte sowie 18 außerschulische Pädagoginnen und Pädagogen arbeiten dort. Träger des Nachmittagsangebots ist der Evangelische Kirchenkreis. Auch die Stadt Wolfsburg investiert als Schulträger in die Ganztagsschule, wie Schulleiterin Schlegel lobend hervorhebt. Dadurch konnten Stunden „am Nachmittag freigeschaufelt werden“, um die pädagogischen Partner auch in Doppelbesetzungen am Vormittagsunterricht einzusetzen.

Nachmittags Erfahrungen aus dem Vormittag aufgreifen

„Die Pädagoginnen und Pädagogen am Nachmittag sollen auch sehen, wo die Förder- und Forderbedarfe der Schülerinnen und Schüler am Vormittag liegen“, berichtet Tim Mrzyglod, der Leiter des Nachmittagsbereichs. „Und am Nachmittag können dann dieselben Erzieherinnen, die im Unterricht dabei waren, daran anknüpfen.“ Die Kinder wachsen mit den gleichen Teams auf. Die über Jahre festen Bezugspersonen erleichtern es den Schülerinnen und Schülern, ihre Schule, die farblich ansprechend und leitmotivisch mit dem von den Kindern gewählten Logo einer Sonne gestaltet ist, als zweites Zuhause wahrzunehmen.

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter können einzelne Kinder individuell unterstützen. Schulleitung, Kollegium und die pädagogischen Partner sind dabei größtenteils sowohl vom fächer- als auch vom jahrgangsübergreifenden Lernen überzeugt und wollen dieses schrittweise einführen. Und sie steuern möglicherweise auf eine Teilgebundenheit der Ganztagsorganisation zu, um Vernetzung und vor allem die Rhythmisierung noch besser zu erreichen. Denn trotz aller Bemühungen bildet die 13 Uhr-Grenze immer noch einen Bruch im Tagesablauf. Von den den 316 Schülerinnen und Schülern bleiben 148 Kinder bis 17 Uhr – immerhin 78 Prozent davon sind an vier und fünf Tagen dabei.

Immer mehr Kinder wollen am Nachmittag teilnehmen

„Es gibt noch so viel ungenutztes Potenzial“, zeigt sich Christel Schlegel überzeugt. „Wir könnten den gesamten Tag über viel mehr Lernzeiten einbauen und auch andere Arten des Lernens besser verwirklichen.“ Vorerst überzeugt aber auch das vorhandene Angebot. Der Rektorin zufolge steigt die Zahl der Kinder, die an der Ganztagsschule auch am Nachmittag teilnehmen oder diese auch an mehr Tagen als bisher besuchen wollen, stetig an.

Der Tag ist in Lernblöcken organisiert, was „effektiver ist“, wie die Schulleiterin meint. „Wir können die Kinder im Team auch von anderen Seiten kennenlernen und auf Augenhöhe unterrichten. Dabei haben uns Hospitationen an anderen Schulen, zum Beispiel in Berlin, geholfen. Dort schauten wir uns an, wie diese Ganztagsschulen gestartet sind, wie die Schulkonzepte aussahen, mit welchen Stolpersteinen sie es dort zu tun bekamen.“

Diese Hospitationen mit den Kolleginnen und Kollegen durchgeführt zu haben, war für Christel Schlegel entscheidend für die Akzeptanz der Ganztagsschule und der damit verbundenen Änderungen in Richtung Teamarbeit: „Vor Ort direkt zu erleben, wie phantastisch das funktioniert, wie die Kinder mitgenommen werden, war viel eindrücklicher, als es eine Schilderung je hätte sein können.“

Kinder an Planungsprozessen beteiligt

Die räumliche Umwandlung in eine Ganztagsschule ist mit den bekannten „Kinderkrankheiten“ verbunden gewesen: Das über 50 Jahre alte Schulgebäude war für den Paradigmenwechsel in der Lehr- und Lernkultur einer Ganztagsschule nicht vorgesehen worden und daher nicht geeignet. Inzwischen haben allerdings umfangreiche Bauarbeiten für zusätzliche Räume begonnen. Ein Berliner Architektenbüro, das die Partizipation der Schülerinnen und Schüler beim Planungsprozess berücksichtigt, unterstützt das Vorhaben.

„Die Kinder nehmen an allen Entscheidungen teil“, erzählt Schulleiterin Schlegel. Bei der einmalig gestalteten Dschungel-Bücherei oder den maritim umgebauten Schultoiletten ist der Einfluss der Schülerinnen und Schüler deutlich sichtbar. Ein nicht zu unterschätzender Nebeneffekt: „Die Toiletten werden deutlich weniger beschädigt oder beschmutzt“, freut sich die Rektorin.

Einmal im Monat treffen sich jeweils zwei von den Klassen gewählten Vertreterinnen und Vertreter mit der Schulleitung, um eigene Ideen für das Schulleben einzubringen und Ideen kritisch zu hinterfragen. Alle Entwicklungsprozesse werden hier besprochen, dann in die Klassenräte zurückgespielt und schließlich in einer Gesamtabstimmung darüber entschieden. „Es sind manchmal scheinbar Kleinigkeiten, die aber für die Kinder wichtig sind“, hat Christel Schlegel erfahren.

Mit den Eltern ins Gespräch kommen

Neben der Betonung einer wertschätzenden Atmosphäre – ab 7.30 Uhr stehen alle Klassentüren offen, die Lehrkräfte begrüßen die eintrudelnden Schülerinnen und Schüler und diese sich auch alle gegenseitig – ist die Einbindung der Eltern ebenso wichtig. 14-tägig findet ein von Müttern gestaltetes gesundes Frühstück statt. Auch diese Gruppe wächst und bildet ebenfalls das breite soziale Spektrum gut ab.

Am Nachmittag können Tim Mrzyglod und sein Team ungezwungen mit den Eltern ins Gespräch kommen. „Der Ganztagsbereich bietet eine andere Ebene des Kontakts“, meint der Nachmittagskoordinator. „Die Eltern merken, dass die Mitarbeit schön sein kann. Wir wiederum lassen die Eltern spüren, dass wir ihnen helfen und allen Familien gerecht werden wollen, dass sie hier Vertrauen erfahren. Auch die Kinder selbst fassen Vertrauen, uns ihre möglichen Sorgen mitzuteilen.“

Derzeit stellt das Kollegium Themenkisten für die 1. und 2. Klassen zusammen, um das differenzierte Lernen zu strukturieren. „Diese Kisten sollen auch von Nachmittagskolleginnen und -kollegen genutzt werden“, erläutert Christel Schlegel. Hausaufgaben sind an der Hellwinkelschule seit zwei Jahren abgeschafft. Stattdessen gibt es den „Plan zum übenden Lernen“. Nach dem Mittagessen wird dieser von den Ganztagsschulkindern in zweistündigen „Übendes Lernen“-Zeiten bearbeitet.

„Die Saat geht auf“

Die Aufgaben sind in ein „Pflicht-„ und in ein „Kürprogramm“ aufgeteilt. „Die Kinder sollen frei entscheiden, wann sie was machen“, berichtet Christel Schlegel. „Sie erlernen so viel mehr Eigenständigkeit.“ Werden Defizite festgestellt, setzen sich die beteiligten Lehrkräfte und außerschulischen Fachkräfte zusammen, um über Fördermaßnahmen nachzudenken. „Das klappt noch unterschiedlich gut“, gibt die Schulleiterin zu. „Wir suchen noch nach verlässlichen Kommunikationsmitteln.“

Neben einer festen Kooperation im Sportbereich mit dem VfL Wolfsburg besticht die Hellwinkelschule auch durch ihr phantasievoll gestaltetes Außengelände, das ebenfalls unter Mitwirkung der Schülerinnen und Schüler geplant und umgesetzt worden ist und seit drei Jahren kontinuierlich wächst. Ein Gemüsegarten, eine Kräuterspirale, Spielgeräte, eine Jurte mit Lagerfeuerplatz, die Möglichkeit, mit Naturmaterialien zu bauen und zu gestalten, und vieles mehr können zum Lernen genutzt werden. „Auch hier hat uns die Stadt Wolfsburg bei der Umsetzung unterstützt. Der Partizipationsgedanke spiegelt sich in vielen Projekten der Stadt wider. Für uns ist das eine Luxussituation, und es ist genial, wie wir uns entfalten können“, freut sich Mrzyglod.

All die Mühen und zusätzliche Arbeit lohnen sich, bestätigen Christel Schlegel und Tim Mrzyglod: „Die vergangenen zwei Jahre zeigen, dass die Saat, die wir durch die Vernetzung von Vor- und Nachmittag gesät haben, aufgeht. So sinkt die Wiederholerquote, die Akzeptanz der Erwachsenen sorgt für zusätzliche Motivation, und die Kinder fühlen sich durch Lob und Wertschätzung, durch das Fördern und Fordern hier wohl.“

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