Gymnasium Wanne: Stunde des gebundenen Ganztags : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Vor neun Jahren führte das Gymnasium Wanne in Herne den gebundenen Ganztag ein. Die mehr als 700 Schülerinnen und Schüler profitieren von noch mehr individueller Förderung – für Leistungsstarke und Leistungsschwächere.

Schülerinnen und Schüler auf einem Klettergerüst auf dem Schulhof des Gymnasiums Wanne
Ein Klettergerüst und Räume zum Chillen helfen, in den Pausen zu entspannen. © Gymnasium Wanne

Herkunftsgeschichten und Zukunftsvorstellungen gerecht zu werden, hat sich das Gymnasium Wanne in Herne zur Aufgabe gemacht. Herkunftsgeschichten gibt es eine Vielzahl. 33 Nationalitäten und unterschiedliche Glaubensrichtungen finden sich unter den 712 Schülerinnen und Schülern wieder. Dazu gehören auch 45 Kinder und Jugendliche, die mit ihren Familien nach einem schweren Fluchtweg in Herne eine neue Heimat gefunden haben. Mit dieser bunten Mischung einher gehen nach Ansicht der Schule „logischerweise“ ebenso viele Zukunftsvorstellungen.

„Denn jeder Mensch, jedes Kind, jede Schülerin und jeder Schüler ist nun einmal unterschiedlich, muss individuell betrachtet, gefördert und gefordert werden“, sagt Ingo Buderus. Bei ihm laufen die Fäden des gebundenen Ganztags zusammen. Seine Schulleiterin Heike Bennet, bezeichnet das, was sie vor anderthalb Jahren bei ihrem Wechsel hierher vorgefunden hat, so: „Das ist das wahre Leben.“

Ingo Buderus ist Fachlehrer für Biologie und Deutsch. Er kam 2000 ans Gymnasium Wanne und war dabei, als vor knapp einem Jahrzehnt die Stunde des gebundenen Ganztags schlug. Damit gehört er fast schon zum „Lehrerinventar“. Denn in den vergangenen Jahren sank nach einer starken Pensionierungswelle das Durchschnittsalter des Kollegiums von über 50 auf unter 40 Jahre.

Seither ticken hier die Uhren anders

Schülerinnen im Unterricht
„Wir machen dann Pause, wenn es sinnvoll ist, und nicht, weil gerade der Gong ertönt.“ © Gymnasium Wanne

Die Gründe für die Abkehr vom Halbtag mit offenem Ganztagsangebot lagen auf der Hand. „Spätestens durch die Einführung des Abiturs nach acht Jahren waren alle Gymnasien in Wirklichkeit doch so etwas wie Ganztagsschulen. Nur mit schlechteren Rahmenbedingungen“, weiß Buderus. Der gebundene Ganztag habe mehr personelle Möglichkeiten, die Rhythmisierung des Unterrichts und mehr Zeit für die individuelle Förderung geboten. Und zudem den Bedarf der Eltern gedeckt. Die hohe Zahl von Neuanmeldungen 2009 darf als Beleg gelten.

Seither ticken hier die Uhren anders. Was durchaus wörtlich zu verstehen ist. Schnell verabschiedete man sich von der traditionellen, 45 Minuten dauernden Unterrichtsstunde. Wenn eben möglich, sind an den Vormittagen Doppelstunden à 95 Minuten vorgesehen. Gestaltet werden sie mit einem Höchstmaß an Flexibilität. Wann die fünfminütige Pause eingeschoben wird, ob sie eventuell am Schluss liegt und die sich anschließende 20-minütige Unterrichtsunterbrechung verlängert, bleibt Lehrkräften und Schülern überlassen.

„Wir machen dann Pause, wenn es sinnvoll ist, und nicht, weil gerade der Gong ertönt“, sagt Buderus. Vor dem Mittagessen, das die Schülerinnen und Schüler in der vom Förderverein getragenen Mensa für knapp drei Euro pro Mahlzeit einnehmen, stehen zumeist Hauptfächer auf dem Stundenplan.

Den Bedürfnissen aller gerecht werden

Bei der Gestaltung des Unterrichts und des ohne externen Träger gestalteten Ganztags bemüht sich das Gymnasium Wanne, „den Bedürfnissen aller gerecht zu werden“. Für die Lehrerinnen und Lehrer, die im Wesentlichen auch die Arbeitsgemeinschaften leiten, bedeutet dies, dass bei der Stundenplangestaltung individuelle Wünsche berücksichtigt werden. Längst nicht alle Kolleginnen und Kollegen waren bei ihrer Berufswahl von einer ganztägigen Anwesenheit in der Schule ausgegangen. Nicht immer gelingt es, allen gerecht zu werden.

„Doch bei uns herrscht ein positives Klima. Wir wissen, wenn der Stundenplan in einem Jahr einmal nicht optimal für uns ist, wird dies im kommenden Jahr wieder anders sein.“ Individuell geht es besonders im Unterricht zu. Binnendifferenzierung lautet die Devise. Ingo Buderus äußert sich zufrieden mit der Lehrerausbildung: „Sie berücksichtigt die Differenzierung in der Klasse immer stärker.“

Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums Wanne an einem Stand
... und Antworten auf die Frage: Was ist eigentlich deutsch? © Gymnasium Wanne

Er nennt ein Beispiel aus seinem Biologieunterricht. Während einige Schülerinnen und Schüler auf einem Arbeitsblatt den Körperbau von Rabenvögeln identifizieren, bearbeiten andere beispielsweise die Frage, ob Raben in der Stadt nützlich sind. Durch den gebundenen Ganztag habe man nun mehr Zeit und Raum, Leistungsstarke und Leistungsschwächere zu fördern. Letzteres geschieht auch in Tandem- und Gruppenarbeit. „Wir wissen schließlich, dass Leistungsstärkere davon profitieren, wenn sie Inhalte und Zusammenhänge einem Klassenkameraden erklären“, sagt Buderus. Außerdem trage dies zum sozialen Zusammenhalt bei.

Lernzeiten statt Hausaufgaben

Dieses Ziel verfolgt das Gymnasium auch im Umgang mit den Flüchtlingskindern und  jugendlichen. Sie werden von Anfang an in die Klassen integriert. Nur zum zusätzlichen Deutschunterricht treffen sie sich außerhalb des Klassenverbandes. „Integration kann nicht funktionieren, wenn man isoliert“, betont Buderus. Vielmehr sollten die Kinder und Jugendlichen die deutsche Kultur und die Alltagssprache in der Klasse kennenlernen. Und nicht zuletzt Kontakte und Freundschaften knüpfen.

Was für den Unterricht gilt, wird auch in den mit dem Ganztag eingeführten Lernzeiten praktiziert. In ihnen soll erledigt werden, was einst Hausaufgaben hieß. Am Gymnasium Wanne spricht man lieber von Vertiefungsübungen. Dazu werden die Schülerinnen und Schüler in unterschiedliche Gruppen eingeteilt. Als Kriterien gelten nicht die Fächer, sondern individuelle Charakteristika: „Benötigt viel Ruhe, um gut selbstständig arbeiten zu können“ oder „Lernt am besten im Team“.

Manche Lernzeiten werden von Lehrkräften begleitet. In anderen stehen leistungsstarke Schülerinnen und Schüler als Ansprechpartner zur Verfügung. Pro Stunde erhalten sie dafür fünf Euro Honorar. Aus dem Kreis dieser zumeist älteren Schüler kommen auch jene, die in der Mensa helfen oder beim freien Sporttreiben in den zwei Turnhallen während der 60minütigen Mittagspause Aufsicht führen.

Schüler im Musikraum des Gymnasiums Wanne
© Gymnasium Wanne

Sport in der Mittagszeit, Bewegungsangebote wie ein großes Klettergerüst, Räume zum Chillen und Spielen und die Möglichkeit, sich am Spielbauwagen Stelzen oder ein Federballspiel auszuleihen, tragen zu einem harmonischen Verhältnis von Konzentration und Entspannung bei. Mit Blick auf den Unterricht räumt Ingo Buderus ein: „Es ist sicher nicht mehr wie früher, wo wir als Schüler ruhig zu sitzen und zuzuhören hatten. Dazu nutzen wir viel zu viele kooperative Lernmethoden. Aber den so genannten bewegten Unterricht könnten wir wohl noch stärker ausbauen.“

Schwerpunkt Elternarbeit

Stark ausgebaut wurde in den vergangenen Jahren die soziale Betreuung der Schülerinnen und Schüler. Vier Tage pro Woche stehen eine nur für die Schule zuständige Sozialarbeiterin und zwei psychologische Beratungslehrer zur Verfügung. Sie sind es auch, die unterstützend und vertiefend agieren, wenn Lehrkräfte mit ihrem Coachingangebot an ihre Grenzen stoßen. Neun Kolleginnen und Kollegen bieten außerhalb ihrer Lehrtätigkeit – und damit ohne Bezahlung – Rat bei Problemen an, seien es menschliche oder fachliche.

„Das Coaching, zu dem die Schülerinnen und Schüler freiwillig kommen, umfasst in der Regel nicht mehr als acht bis neun Stunden. Und niemals coacht ein Lehrer einen Schüler, den er selbst unterrichtet“, berichtet Ingo Buderus. Er unterstreicht die Bedeutung einer intensiven und vertrauensvollen Kommunikation auf allen Ebenen: „Nur dann gelingt erfolgreiches Lernen.“ Auch deshalb seien die Lehrkräfte jederzeit per E-Mail zu erreichen.

Auf der individuellen Ebene funktioniere die Kommunikation recht gut. Allerdings habe sich in seiner Wahrnehmung die Erreichbarkeit von Eltern für erzieherische und pädagogische Fragestellungen in den vergangenen Jahren eher verschlechtert. Es sei zunehmend schwierig geworden, Eltern auch zur Mitarbeit im System zu bewegen. Buderus: „Diese beiden Aspekte haben uns auch in der 2. Projektphase des Ganz In-Projektes bewegt, uns am Schwerpunkt Elternarbeit zu beteiligen und mit anderen Schulen zu vernetzen, um zeitgemäße Formen der Elternarbeit zu entwickeln.“

Zwischen Neuem und Traditionellem

Nicht freiwillig ist die Teilnahme an der Medien-Arbeitsgemeinschaft in Klasse 5. Dort sollen schon die Jüngeren die Grundlagen für Textverarbeitung und besonders auch einen verantwortungsvollen Umgang mit den Medien lernen. Das Thema nennt Buderus „zwiespältig“. Denn einerseits existiere ein Handyverbot auf dem Schulgelände („aber nur wegen missbräuchlicher Nutzung in der Vergangenheit“), anderseits zählten Handy, PC, Tablet oder Laptop längst zur Lebensrealität.

Lehrer mit Schülern in der Roboter-AG
Roboter-AG für die 5. und 6. Klasse © Gymnasium Wanne

Dieser Realität stellt sich das Gymnasium Wanne. Im Unterricht wird das Handy für Recherchen eingesetzt, im Selbstlernzentrum stehen Computer mit Internetverbindung. Zugleich aber stärkt die Schule traditionelle Lernwege, fördert unter anderem in eigenen Unterrichtseinheiten, aber auch durch Wortschatzarbeit im Fachunterricht, die Lese- und Schreibkompetenz.

„Wir stellen schon fest, dass diese Kompetenzen heute schwächer ausgeprägt sind, als wir das bislang gewohnt waren“, erklärt Buderus. Der Druck, leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler zu unterstützen, sei mindestens ebenso groß wie der, Leistungsstärkere zu fördern. Das Kollegium wird die Begabtenförderung mit der Rückkehr zum neunjährigen Abitur und dem damit verbundenen Zeitgewinn noch stärker in den Fokus rücken können. Die Talentscouts der Hochschule Bochum und der Ruhr-Universität Bochum, die seit Jahren die Schülerinnen und Schüler der Oberstufe beraten, wird es freuen: Ihre Fundgrube dürfte noch größer werden.

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