Grundschule Heiligenhaus: Ganztag als „Paket“ : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Mit dem „Deutschen Schulpreis Spezial“ erhielt die Grundschule Heiligenhaus in Overath eine Bestätigung ihrer pädagogischen Vision: Mitbestimmung, Augenhöhe und Bildung „den ganzen Tag“.

Gefragt nach ihren „Zuständigkeiten“ tun sich Jürgen Koch, Schulleiter der Grundschule Heiligenhaus, und Rainer Krohn, der Leiter des Offenen Ganztags in Trägerschaft des DRK-Kreisverbandes Rheinisch-Bergischer Kreis, eher schwer. „Wir bemühen uns eigentlich gemeinsam, Formulierungen wie ‚Unterricht’ und ,außerunterrichtlich’,’ Unterricht am Vormittag und Betreuung am Nachmittag’ aufzugeben.“

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Grundschule Heiligenhaus in Overath © Jürgen Koch/Anne Lachmuth

Und fügen schmunzelnd hinzu: „Wahrscheinlich fällt uns jetzt auch keine wirklich passende Bezeichnung ein.“ Beide sind felsenfest überzeugt, dass Lernen, Bildung und Entwicklung „immer passieren“, überall und am ganzen Tag, und die Bereiche nicht zu trennen sind. Die Zusammenarbeit der Fachkräfte beider Einrichtungen umfasst alle organisatorischen und pädagogischen Ebenen, sie findet informell ebenso wie formell in festen Strukturen und Gremien statt.

Deshalb bekomme man sie beide auch nur „im Paket“. In diesem Paket stecken engagierte Pädagogen, die der Auffassung sind, dass die Spielräume, die sich für die Bildung der Kinder bieten, auch genutzt werden sollten. Koch und Krohn diskutieren gerne, im Interesse der Kinder.

Die kongeniale Zusammenarbeit wurde in diesem Jahr über die Stadt Overath im Rheinisch-Bergischen Kreis hinaus bekannt: Die Grundschule Heiligenhaus hat es mit ihrer „maßgeschneiderten Lern-App für Grundschulkinder“ in die Endrunde der 18 Besten von fast 400 Bewerberschulen beim Deutschen Schulpreis Spezial 2020/2021 geschafft. Die Auszeichnung ist Ausdruck für die erfolgreiche Arbeit, bei der die Interessen und Bedürfnisse der Kinder im Mittelpunkt stehen.

Zuerst Ziele formulieren

Die Mutter eines Schülers, die der Autor vor der Schule trifft, unterstreicht das. „Hier wird zuerst geschaut, was unsere Kinder brauchen. Vor allem aber wird hier weniger beurteilt und in Schubladen gesteckt“, berichtet sie freudig. Ihr herbeieilender Sohn nickt heftig mit dem Kopf: „Ich finde es klasse, dass bei uns nicht alles in Fächer unterteilt ist. Wenn ich morgens das Gefühl habe, dass ich was für Mathe tun muss, dann darf ich das. Das ist cool.“

Schulleiter Jürgen Koch wird auf dem Gang immer wieder von den Schülerinnen und Schülern angesprochen: „Du schau mal…“. Die Philosophie der Grundschule formuliert er in seiner Vision von Bildungszielen: „Wir brauchen eigentlich nur ein Unterrichtsfach. Und das beinhaltet die Frage, wie wir in Zukunft auf diesem Planeten miteinander leben wollen.“

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„Zuerst gemeinsam das Ziel formulieren...“ © Jürgen Koch/Anne Lachmuth

Er nennt Beispiele. „Wenn wir gesund leben wollen, müssen wir uns unter anderem um Sport kümmern. Wenn wir Freude haben möchten, müssen wir kreativ sein, Musik und Theater spielen. Wenn wir wollen, dass es allen in der Seele gut geht, benötigen wir Ethik. Wenn wir zielführend miteinander kommunizieren wollen, benötigen wir Sprache und Technik. Wenn wir die Umwelt schützen und erhalten wollen, müssen wir forschen.“

Koch ist überzeugt: „Wir sollten zuerst gemeinsam das Ziel formulieren und dann Aktivitäten entwickeln, die für das Erreichen des Ziels geeignet sind.“ Das sei mitunter eine Umkehrung zu der Art, wie Schule und Bildung funktionierten.

48 Monate Zeit

Das Team der Grundschule Heiligenhaus sucht das beschriebene Idealziel fortlaufend im Blick zu behalten. In vier Jahren Grundschulzeit kommen dabei nahezu automatisch alle Kompetenzen, die in den Lehrplänen verankert sind, zur Förderung. Die Verantwortung dafür, dass die geforderten Lernziele verfolgt und erreicht werden, bleibt selbstverständlich bei den Lehrkräften. Sie wissen aber auch: Ihre Schülerinnen und Schüler haben 48 Monate Zeit, die angestrebten Kompetenzen zu erwerben.

Manchmal komme die Debatte auf, ob ein Kind in die vierte Klasse versetzt werden könne, obwohl es eine Kompetenz, die formal bis dahin erreicht sein sollte, noch nicht erworben habe. Schulleiter Koch und OGS-Leiter Krohn geben einen Einblick in Versetzungsgespräche: „Meistens sagen wir dann, es hat ja noch ein Jahr Zeit, also wird es versetzt.“ Und versichern: „Natürlich kommt es vor, dass ein Kind eine Kompetenz gar nicht erwirbt. Aber ist es nicht völlig normal, dass unterschiedliche Persönlichkeiten mit der ganzen Vielfalt an Talenten nicht alles in gleicher Weise entwickeln und können?“

„Die Kinder sagen schon, was ihnen wichtig ist“

Koch und Krohn sind sich einig: „Von Laissez-faire kann bei uns keine Rede sein. Wir haben klare Vereinbarungen mit den Schülerinnen und Schülern – und mit den Eltern.“ Dazu zählt, dass jedes Kind morgens im Sitzkreis mitteilt, woran es an diesem Tag arbeiten wird. Der Stundenplan ist abgesehen von Religion, Sport und Englisch kein Stundenplan im herkömmlichen Sinne. Auf dem Plan findet sich nur der Name der Lehrkraft, die in der Klasse anwesend ist.

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Radio Morgenmuffel erhielt viele Medienpreise. © Jürgen Koch/Anne Lachmuth

„Oft kann die Lehrerin oder der Lehrer sich auf die Aufgabe des Beobachtens und auf das Beantworten von Fragen zurückziehen. Die Kinder sagen uns schon, was ihnen wichtig ist und was sie benötigen. Sie werden sich wundern. Meistens wollen sie mehr tun, als wir denken! Die Kinder empfinden es manchmal sogar als Störung, wenn einer von uns fröhlich in die Klasse kommt und ‚Guten Morgen’ sagt.“

Manchmal müsse die Lehrkraft einem Kind zwar auch genauer vorgeben, was es vorrangig bearbeiten soll. Doch in der Regel wüssten die Sechs- bis Zehnjährigen, die in den ersten zwei Jahrgängen klassenübergreifend forschen und lernen, sich gut selbst einzuschätzen.

Test, wenn sich ein Kind sicher fühlt

Was auch für die ungewöhnliche Form der Leistungskontrolle gilt. Klassenarbeiten im herkömmlichen Sinne werden nicht geschrieben – allein schon, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass nicht alle Kinder zum gleichen Moment das Gleiche können (müssen). Wer meint, eine Sache oder ein Thema gut zu beherrschen, beispielsweise geometrische Formen zu kennen, meldet sich zum Test an.

Eine Note gibt es nicht, dafür aber eine ausführliche Einschätzung für das Kind, was es schon gut kann und woran es noch feilen sollte. Entsprechend sehen auch die Zeugnisse in den ersten drei Schuljahren aus: Ziffernnoten sind tabu. Stattdessen wird auf dem von der Schule selbstentwickelten Zeugnis detailliert erläutert, wo die Schülerin oder der Schüler „steht“. Denn was, so hat sich das Kollegium gefragt, sagt eine 3 in Mathe aus? Nichts, lautete die Antwort.

Dagegen lassen Kategorien wie „immer/sicher“, „größtenteils“ oder „selten/nicht“ viel besser erkennen, was ein Kind bereits gut kann. Schulleiter Koch: „Da sehe ich doch auf einen Blick, dass es beispielsweise super addieren, aber weniger gut dividieren kann. Und jeder weiß, woran gearbeitet werden sollte.“ Erst in Klasse vier werden – so will es das Schulgesetz – Ziffernnoten erteilt. Die Eltern hat das überzeugt. Das bestätigt die Mutter vor der Grundschule: „Durch diese Aussagen können wir zu Hause auch ein wenig darauf achten, was wir spielerisch üben.“

Radio Morgenmuffel

Viel mehr als ein Spiel ist „Radio Morgenmuffel“, das an jedem Donnerstag während des gemeinsamen Frühstücks ausgestrahlt wird. Seit neun Jahren erstellen die Schülerinnen und Schüler der Radio-AG, unterstützt von Medienpädagogin Anne Lachmuth im Offenen Ganztag, die zwanzigminütige Radio-Sendung im schuleigenen Studio selbst. Gemeinsam entwickeln sie einen Themenplan, legen Autorinnen und Autoren fest, wählen Musik aus und sammeln Hörerwünsche im „MoMu-Briefkasten“, moderieren und kümmern sich um die Tontechnik.

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... und erfüllt auch Hörerwünsche. © Jürgen Koch/Anne Lachmuth

Und so kann es sein, dass dem Schulleiter, dem Leiter des Jugendamtes Overath oder auch dem Bürgermeister des Ortes „kritische“ Fragen gestellt und deren Antworten – unzensiert – ausgestrahlt werden. Selbst im Lockdown wurden Sendungen per Web­ra­dio und Au­dio-Li­vestream produziert. „Radio Morgenmuffel“ hat schon zahlreiche Medienpreise erhalten, vom Leserpreis der „Goldenen Göre“ des Deutschen Kinderhilfswerks bis zum Dieter-Baacke-Preis der Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur. Zur 100. Sendung kamen Jubiläumsgrüße von KIKA-Moderator Ralph Caspers, Kikaninchen-Komponist Udo Schöbel und Kinderbuchautorin Cornelia Funke.

Man darf davon ausgehen, dass die Radio-AG eines „schönen“ Tages auch einen Beitrag über den Neubau ihrer Schule verfassen wird. Das alte Schulgebäude musste wegen einer Schadstoffbelastung abgerissen werden. Nun findet der Unterricht seit 2019 in Containern statt. Der Offene Ganztag muss sich aktuell mit einem kleinen, aber gut gestalteten Nebengebäude zufriedengeben. Die Räumlichkeiten erzwingen „Essen in Schichten“.

Mitbestimmen und Mitentscheiden

Wann die neue Schule eröffnet werden kann, steht noch nicht fest. Sicher aber ist, dass in die Konzeption die Schülerinnen und Schüler einbezogen wurden. Sie wünschten sich besonders spannende Außengelände – eine „gelebte Bildungslandschaft“ nennen es die Erwachsenen, in die auch die Gemeinde einbezogen ist. Es soll viele Möglichkeiten, sich zu bewegen, aber auch Rückzugsmöglichkeiten für die Kinder und viel Natur geben. Gelände und Gebäude sollen auch dazu einladen, das „Soziale“ zu pflegen, zum Beispiel, sich ungestört unterhalten zu können.

Architekt, Gemeinde und Schule nehmen die Anregungen sehr ernst. In einer Kooperation zwischen einer Entwicklungsfirma und dem gesamten Schulteam wurde 2020 die App entwickelt, die mit ihren geschützten digitalen Lernräumen – schon ab Klasse 1 – für den Unterricht, die Kommunikation und für vielfältige Dokumentationen in der Schule genutzt wird, wie Medienpädagogin Anne Lachmuth und Lehrerin Sara Baumann in einem eindrucksvollen Video erläutern. „Kindgerechte Digitalisierung“ nennen sie das Lernen mit #digiclass, „bei der alle sofort mitmachen können“, die Kinder ebenso wie das ganze Kollegium.

Mitbestimmung, „Augenhöhe“ in der Beziehung zu den Kindern und Freiheit werden in der Grundschule Heiligenhaus als hohe Güter betrachtet. Im Kinderrat können die Schülerinnen und Schüler die Pausenorganisation mitgestalten, die Anschaffung von Geräten mitbestimmen oder über Themen für Versammlungen und Projekte mitentscheiden. Über die App „#digiclass“ können sie nun sogar selbst an den Architekten herantreten und ihm ihre Wünsche für die Schulgeländegestaltung mitteilen.

Es gibt noch Träume und Ziele

OGS Zentralraum
„Immer ein Ort, an dem jedes Anliegen jedes Kindes alle etwas angeht“ © Jürgen Koch/Anne Lachmuth

Auch deshalb möchte Rainer Krohn dem freien Spiel in der OGS breiten Raum bieten. „Zumal ich dabei sehr viel über ein Kind erfahre“, betont er. Das Erfahrene kommt, wenn erforderlich, auf den Tisch, wenn sich Lehrkräfte- und Mitarbeiterteam montags zum „pädagogischen Circle“ zusammensetzen. Dort, aber auch in vielen anderen Momenten, pflegen sie ihre Vision von Schule und Ganztag.

Dann „träumen“ sie davon, den OGS-Kindern frei zu stellen, ob sie nach dem Unterricht zunächst essen oder erst ihre Hausaufgaben erledigen. Sie träumen davon, dass Inklusion mehr ist als die Aufnahme eines Kindes im Rollstuhl. Sie träumen davon, dass der in der OGS angestellte Native Speaker auch im Englischunterricht eingesetzt werden und im Gegenzug eine Lehrkraft eine Arbeitsgemeinschaft am Nachmittag anbieten kann. Und sie wünschen sich, dass Schule immer auch ein Ort ist, an dem jedes Anliegen jedes Kindes alle Erwachsenen etwas angeht.

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