Grundschule Altenvoerde: Jedem Kind seine Zeit : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Seit dem Schuljahr 2013/14 arbeitet die Ganztagsgrundschule Altenvoerde im südlichen Ruhrgebiet mit Jahrgangsübergreifendem Lernen.

Zum Schuljahr 2013/14 entschloss sich die Grundschule Altenvoerde in Ennepetal zu einer einschneidenden Maßnahme: Als eine der ersten Schulen im nordrhein-westfälischen Ennepe-Ruhr-Kreis führte die offene Ganztagsschule das Jahrgangsübergreifende Lernen (JÜL) in den Klassen 1 bis 4 ein. Dem Leitgedanken „Miteinander und voneinander lernen“ entsprechend lernen die Kinder seitdem in sechs jahrgangsgemischten Klassen. Das Lernangebot richtet sich nicht mehr nach dem Alter der etwa 130 Kinder, sondern nach ihre individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen.

Wissen unabhängig vom Alter als Ressource nutzen

„Die Leistungsspanne zwischen unseren eingeschulten Kindern war so groß, dass wir zu dem Schluss gekommen sind, dass eine Einteilung nach Alter wenig Sinn macht. Das Entwicklungsalter kann bis zu vier Jahre vom Lebensalter abweichen“, meint Schulleiterin Judith Clever. „Es gibt Kinder, die keinen Buchstaben kennen, und andere, schon nach dem Alphabet sortieren oder ganze Bücher lesen können.“ Hinzu kommen unterschiedliche Muttersprachen. Auch die soziale Spannbreite ist sehr hoch: Von "sehr behütet aufwachsenden Kindern" bis zu Kindern, bei denen „mal irgendwann im Jahr geguckt wird, was im Schulranzen ist“, reiche das Spektrum.

Schulleitung und Kollegium beschlossen, das Wissen der Kinder unabhängig von ihrem Alter als Ressource zu nutzen. Nach zweijähriger intensiver Vorbereitung und Hospitationen an acht bereits jahrgangsübergreifend arbeitenden Schulen entschied sich die Schulkonferenz für die Einführung des altersgemischten Lernens. „Wir haben bei diesem ganzen Prozess die Eltern beteiligt“, berichtet die Rektorin.

Gegenseitige Akzeptanz steigt

Nach über einem Jahr fällt die Bilanz der Schulleiterin positiv aus: „Die Kinder fühlen sich wohl, die Eltern begleiten uns mit konstruktiver Kritik, und es funktioniert mit unserem tollen Team und vielen Absprachen.“ Das Kollegium habe schulinterne Lehrpläne erstellt und das geforderte Wissen in „kleine Häppchen“ heruntergebrochen, sodass nun jedes Kind nach seinem Tempo lernen kann. Der gesamte Prozess werde ständig evaluiert.

Jedes Kind bekommt laut Judith Clever nun so viel Zeit zum Lernen, wie es benötigt. Die Schülerinnen und Schüler können den Stoff bei Bedarf mehrmals wiederholen. Dabei sorge das unauffällige Miteinander von leistungsstarken und leistungsschwachen Schülerinnen und Schülern auch dafür, dass kein Kind beschämt werde. Bei Wiederholungen oder Überspringen werde kein Klassenwechsel nötig. Die Kinder lernten viel, indem sie anderen Kindern etwas erklären. Es ergäben sich auch Gelegenheiten für vertiefendes Durchdringen und vorausgreifendes Lernen für Jahrgangsjüngere. „Ich könnte in einer Klasse - würde ich die Kinder nicht kennen - nicht mehr sagen, wer denn nun Zweit- oder wer Drittklässler ist“, meint die Rektorin.

Die Schülerinnen und Schüler nehmen ständig unterschiedliche Positionen in der Lerngruppe ein. Helfersysteme, Patenschaften, Partnerarbeit und Kooperation bekommen eine große Bedeutung. „Die Kinder prügeln sich fast darum, Pate zu sein“, berichtet Judith Clever. Die gegenseitige Akzeptanz steige, und das Helfen sei gut für das Selbstwertgefühl der Kinder. Das gelte auch für Kinder mit einem besonderen Förderbedarf: „Das jahrgangsübergreifende Konzept ist eine tolle Grundlage, Kinder zu fördern. Sie arbeiten an etwas, sind einfach da. Sie bekommen zwar andere Hausaufgaben, aber das fällt ja gar nicht auf.“

Zuspruch der Eltern ließ Ganztagsschule wachsen

Auch in der von der Stadt getragenen offenen Ganztagsschule lernen die Mädchen und Jungen in drei altersgemischten Gruppen. Der Ganztag besteht bereits seit dem Schuljahr 2005/2006. Anfangs als einzügige Einrichtung geführt, sorgte der große Zuspruch der Elternschaft dafür, dass bereits im Schuljahr 2012/2013 schon mit einer dritten Gruppe gestartet werden konnte. Die Ganztagsschule findet von 11.30 Uhr bis 16.00 Uhr statt. Darüber hinaus ist ab 7.30 Uhr bis zu Beginn der ersten Unterrichtsstunde ein Frühdienst eingerichtet. In den Oster-, Sommer- und Herbstferien sowie an beweglichen Ferientagen findet die Ferienbetreuung in Kooperation mit den anderen Ennepetaler Ganztagsschulen an einem Standort statt.

Die Ganztagsschule besteht aus der Mittagsverpflegung, der Hausaufgabenbetreuung, den Arbeitsgemeinschaften und dem freien Spiel. Die Hausaufgabenbetreuung findet direkt nach dem Unterricht – die Kinder hatten sich das gewünscht - in Kleingruppen in den Klassenräumen statt. Jeder Klasse ist eine Hausaufgabenbetreuerin als feste Bezugsperson zugeordnet, die nicht wechselt. Diese stehen im engen Austausch mit den Lehrerinnen, die auch selbst in den Hausaufgabeneinheiten mitarbeiten. „Die Erledigung der Hausaufgaben hat einen hohen Stellenwert für uns“, so Schulleiterin Clever, „aber wir sind kein Nachhilfeinstitut. Wir achten auf das richtige Verhältnis zwischen Selbstständigkeit und Hilfestellungen.“

Jedes Kind erhält eine warme Mahlzeit. Das Mittagessen bezieht die Grundschule Altenvoerde von einem Menü-Lieferdienst und bereitet es nach dem „Cook and Chill“-Verfahren zu. Es findet zwischen 12.30 Uhr und 14.00 Uhr in zwei bis drei Schichten in der Mensa statt. Familien in finanzieller Notlage können Unterstützung durch den Kinderschutzbund Ennepetal erhalten.

„Rechtschreibwerkstatt“ und „Wörterklinik“

Täglich finden verschiedene Arbeitsgruppen statt, die teils frei wählbar, teils in festen Gruppen organisiert sind. So gibt es unter anderem eine Schwimm-AG, eine Tischtennis-AG sowie eine Kooperation mit einem Turnverein. Im kreativen Bereich finden die Kinder Nähen, Filzen, Malen, Kochen, Schach, Lesen, Comiczeichnen und Basteln. Auf dem großen Außengelände der Schule sind ein Kartoffelacker, Blumenbeete und ein Weidenzelt für die Natur-AG entstanden.

Die vierte Säule im Ganztagsschulkonzept ist das freie Spiel. Die Kinder bekommen Zeit und Raum, sich frei zu bewegen und zu entfalten. Aus dem freien Spiel ergeben sich immer mal wieder Impulse zur Durchführung von Projekten und für neue Arbeitsgemeinschaften.

In den Klassenräumen stehen den Schülerinnen und Schülern verschiedene Arbeitsmittel zur Verfügung. Jedes Kind weiß nach der morgendlichen Eingangsbesprechung, was es zu tun hat. In der „Igel“-Klasse sitzen einige gerade in der „Rechtschreibwerkstatt“, andere in der „Wörterklinik“. Die Klassenlehrerin gibt bei Bedarf Unterstützung, bespricht auch mit einzelnen Kindern ihre Aufgaben. Schülerinnen und Schüler, die Hilfe benötigen, können dies durch einen Aufkleber an der Wand signalisieren.

Anforderungen an die Lehrkräfte

Manche Kinder arbeiten still alleine, andere stecken die Köpfe zusammen. Auch die Klassenarbeiten sind individualisiert und heißen hier „Teste dein Wissen!“ Hält sich ein Kind für bereit, dann nimmt es den Test in Angriff. „Das ist keine Drucksituation, sondern hier zeigen die Kinder angstfrei, was sie können“, berichtet die Schulleiterin.

Das jahrgangsübergreifende Arbeiten stellt hohe Anforderungen an die Lehrerinnen und Lehrer: Sie müssen alle vier Jahrgangspläne im Kopf haben, in denen die einzelnen Kompetenzen definiert sind. „Das ist viel Arbeit, weil sie immer genau schauen, wo welches Kind steht“, so die stellvertretende Schulleiterin Kathrin Baader. Auf der anderen Seite sind die Lehrerinnen eher davon entlastet, neue Regeln und Rituale einzuführen. Die Kinder erledigen dies weitgehend in Eigenregie und gewinnen eine gewisse Routine und auch ein höheres Selbstbewusstsein.

Individuellen Lernprozess berücksichtigen

„Die Schule ist ein Lern- und Lebensraum, wir wollen hier nicht nur kognitive Fähigkeiten vermitteln, sondern auch Werte und ein Gemeinschaftsgefühl geben“, befindet die Schulleiterin. Dazu hilft das multiprofessionelle Team aus Lehrkräften, Sonderpädagogen, Schulsozialarbeitern und Mitarbeitern in der offenen Ganztagsschule, das laut Judith Clever „engagiert ist und weit mehr macht, als es muss“. Die OGS-Leiterin Jutta Segler ist bereits seit 1991 an der Schule und bei allen Konferenzen und Besprechungen mit dabei.

Das Wesentliche ist für Judith Clever indessen, den individuellen Lernprozess der Kinder zu berücksichtigen: „Die leistungsstärkeren Schüler nicht bremsen, langsameren mehr Zeit zum Üben lassen.“ Manche Eltern kritisierten, die Schülerinnen und Schüler würden nicht ausreichend auf die Drucksituation in der Sekundarstufe I vorbereitet. Das sieht die Rektorin anders: „Nach vier Jahren haben die Schülerinnen und Schüler viel Selbstbewusstsein aufgebaut, das sie durch die Schule tragen wird. Unsere Kinder haben die besseren Startbedingungen.“

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