Ganztagsschule als Magnet im Stadtteil : Datum: Autor: Autor/in: Claudia Pittelkow

Architektonisch und pädagogisch ein Hamburger Vorzeigeprojekt: In der Geschwister-Scholl-Stadtteilschule am Osdorfer Born zwischen Osdorf und Lurup haben Kinder und Jugendliche einen sicheren Lern- und Lebensort.

Der Neubau der Geschwister-Scholl-Stadtteilschule (GSST) am Osdorfer Born war eines der größten Schulbauprojekte in Hamburg überhaupt: Vor gut einem Jahr wurde das hochmoderne Gebäude mit integriertem Haus der Jugend und Dreifeldsporthalle feierlich eingeweiht. Rund 46 Millionen Euro hat die Stadt in das Prestigeprojekt investiert, das „durch seine Magnetwirkung den Stadtteil insgesamt aufwerten wird“, prophezeite damals Hamburgs Bildungssenator Ties Rabe. Der Neubau – ausgezeichnet mit einem BDA-Architekturpreis – setzt jedoch nicht nur in baulicher Hinsicht neue Maßstäbe. Auch das pädagogische Konzept der Ganztagsschule hat es in sich.

Die knapp 900 Schülerinnen und Schüler lernen in sogenannten Jahrgangsclustern, zu denen neben den gewohnten Klassenzimmern kleine Differenzierungsräume sowie eine große, offene Lernlandschaft mit viel Platz für Gruppenarbeiten gehören. Das Raumkonzept unterstützt mit viel Glas die gewünschte Transparenz und Zusammenarbeit. Sichtbeziehungen sorgen für Verbindung, blickdichte Wände sind passé. Die Schülerinnen und Schüler finden in ihren Clustern Sicherheit und eine Heimat. Sie können in den multifunktionalen – und natürlich digital top ausgestatteten – Räumen den ganzen Tag über lernen, sich austauschen, entspannen.

Phase Null mit umfassender Beteiligung

„Die Räume verändern die Pädagogik. Wir arbeiten nicht mehr hinter geschlossenen Türen, es herrscht mehr Offenheit. Das hilft uns sehr“, sagt Schulleiter Dirk Voss. Auch die Lehrkräfte mussten sich auf Veränderungen einstellen: Für sie gibt es beispielsweise kein zentrales Lehrerzimmer mehr, sondern pro Jahrgang eine „Teamstation“. „Unsere Schule soll ein sicherer Lern- und Lebensort für alle Schülerinnen und Schüler sein“, betont Voss. Das sei in einer Ziel- und Leistungsvereinbarung so festgelegt worden.

Schulleiter Dirk Voss vor dem neuen Gebäude
Schulleiter Dirk Voss vor dem neuen Gebäude © Claudia Pittelkow

Die Idee zur Vereinbarung, die auf dem Ganztag und dem architektonisch-pädagogischen Profil der Schule aufbaut, sei vor dem Hintergrund der ausklingenden Pandemie und des von Russland begonnenen Krieges gegen die Ukraine entstanden, berichtet Voss, der die Schule seit 2017 leitet. Die Phase Null, also die Konzeptionsphase, die der Planung vorangeht, wurde ein Jahr lang von der Montag-Stiftung begleitet. „Ohne die Moderation und die Impulse der Montag-Stiftung wäre die aktuelle Ausführung nicht denkbar gewesen“, so Voss.

Bei der Konzeption des Neubaus wurden alle Beteiligten – Eltern, Schülerinnen und Schüler, Vertreter des Stadtteils und des Bezirks, die Landesgesellschaft Schulbau Hamburg und die Schulbehörde – einbezogen. Im Zentrum der Planungen mit der Montag-Stiftung standen die Förderung des selbstverantworteten Lernens und die Ermöglichung partizipativer Prozesse. „Zudem wollten wir Abläufe, Kultur und Klassenraummanagement so gestalten, dass unsere Schule eine Atmosphäre der Verlässlichkeit, des Rückzugs und der Sicherheit bietet“, so der Schulleiter.

Teilgebundener Ganztag als feste Säule

Dazu gehörten eine verbindliche Durchführung des Klassenrats genauso wie verbindliche Angebote im Ganztag. In Krisensituationen müssten Ansprechpersonen und Abläufe geklärt sein, der pädagogische Raum fungiere als Ort zum Rückzug. Voss: „Der Klassenraum ist erster Rückzugsort, der zweite ist das Jahrgangscluster, wo andere Jahrgänge nichts zu suchen haben, und der dritte Rückzugsort ist die gemeinsame Schule!“ Die erste Säule des sicheren Lern- und Lebensorts Schule ist der teilgebundene Ganztag, der selbstverantwortet von der Schule organisiert wird.

Für alle Schülerinnen und Schüler gibt es jeden Tag ein Ganztagsangebot bis 16 Uhr. Dabei variieren die Unterrichtszeiten und die Zeiten für die klassischen Ganztagsangebote. „Wir achten darauf, dass die Entspannung nicht nur am Nachmittag stattfindet und Schule nicht nur am Vormittag“, betont Nicola Sterr, seit elf Jahren Ganztagskoordinatorin der GSST. An drei Tagen werden nachmittags Kurse angeboten, geleitet von Lehrkräften, Oberstufenschülerinnen und -schülern sowie Kooperationspartnern aus dem Stadtteil, darunter die Boxschool, The Young ClassX oder das Deutsche Rote Kreuz.

Außerdem gibt es eine von Lehrkräften betreute Übungszeit zum Vertiefen und Nacharbeiten des Unterrichtsstoffs. Sterr: „Nicht alle unsere Schülerinnen und Schüler finden zu Hause die idealen Lernbedingungen vor, um zum Beispiel gemeinsam ein Referat vorzubereiten.“ Die 5. und 6. Klassen haben zusätzlich noch eine Klassenzeit, in der das soziale Lernen gefördert wird, etwa beim Spielen.

Schule als sicherer Lern- und Lebensort

Täglich gibt es ein Ganztagsangebot bis 16 Uhr.
Täglich gibt es ein Ganztagsangebot bis 16 Uhr. © Claudia Pittelkow

Wichtig ist auch die Organisationszeit im Ganztag: An jedem Schultag haben die Kinder eine Viertelstunde Zeit, mit den Klassenleitungen Organisatorisches zu klären, zu frühstücken oder einfach zu überlegen, wohin der nächste Klassenausflug gehen könnte. „Hier werden Dinge geklärt, die sonst in den Schulstunden stattgefunden haben“, erläutert Ganztagskoordinatorin Christina Titze.

Seit 16 Jahren arbeitet die Sozialpädagogin an der GSST und weiß, dass dieser Extra-Zeit eine große Bedeutung zukommt: „Dadurch ist der Kontakt zur Klassenlehrkraft täglich gewährleistet, auch in den höheren Klassen mit mehr Fachunterricht.“ Hier zeigt sich die Schule einmal mehr als sicherer Ort, als Lern- und Lebensort gleichzeitig. Titze: „Beziehungsarbeit ist dabei sehr wichtig. Die langjährige Klassenlehrerin oder auch Honorarkräfte, die seit Jahren mit uns arbeiten, sind bei den Kindern oft ausschlaggebender für die Kurswahl als die eigentlichen Inhalte.“

Eine Besonderheit des Ganztags an der GSST ist die lange, 45-minütige Mittagspause, in der nicht nur gemeinsam gespeist wird – zubereitet wird täglich frisch in der Produktionsküche –, sondern die Schülerinnen und Schüler haben nach dem Essen noch genügend Zeit, zu entspannen oder sich auszupowern, etwa im Haus der Jugend, das während der Schulzeit geöffnet ist, in der Bibliothek, in der Spieleausleihe draußen oder drinnen im neuen Forum. Das Konzept der Cafeteria ist einfach: Die Mahlzeiten können von Zuhause aus online vorbestellt werden, bezahlt wird über einen Chip, den jeder Schüler und jede Schülerin besitzt.

„Es ist allerdings kein Selbstgänger, dass Schüler vorab das Mittagessen bestellen, denn man muss sich registrieren, und viele Eltern haben gar keine E-Mail-Adresse“, berichtet Jochen Liesebach, Abteilungsleiter der Jahrgänge 5 bis 7. Über 70 Prozent der Eltern bezieht staatliche Transferleistungen. Seit elf Jahren arbeitet Liesebach an der Schule, und nicht wenige seiner Schülerinnen und Schüler kämen ohne Frühstück zur ersten Stunde. Vor Unterrichtsbeginn gibt es deshalb ein kostenloses Frühstücksangebot, unterstützt von der Stiftung Kinderjahre.

Reflexion pädagogischer Berufe

Liesebach: „Das sind die Bedingungen, unter denen wir hier Schule machen.“ Schulleiter Voss verweist auf den erweiterten Auftrag, den die Geschwister-Scholl-Stadtteilschule als sogenannte Kess 1-Schule aufbringen müsse. Dahinter verbirgt sich der Hamburger Sozialindex, der die sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen aller Hamburger Schulen auf einer Skala von 1 bis 6 erfasst und der in der Studie „Kompetenzen und Einstellungen von Schülerinnen und Schülern“ (Kess) erstmals verwendet wurde. „Was in anderen Schulen selbstverständlich ist, die Essensauswahl oder die Kurswahl, ist bei uns nicht selbstverständlich. Wir fordern hier von vielen Kindern und Jugendlichen, die zu Hause kaum Unterstützung bekommen, die meiste Selbstständigkeit“, betont Dirk Voss.

Gleichzeitig mache diese herausfordernde und anstrengende Arbeit sehr viel Spaß und zeige, wie sinnhaft pädagogische Berufe an Schulen sein können, so der Schulleiter weiter: „Oft müssen die Pädagoginnen und Pädagogen auch gesellschaftliche Bilder und die eigene Bildungsbiografie überdenken. Die Arbeit an unserer Schule fordert und fördert solche persönlichen Reflexionsprozesse. Unser Wirken ist sehr häufig erfolgreich. Dies zeigen auch statische Rückmeldungen der Behörde.“

Jochen Liesebach, Abteilungsleiter der Jahrgänge 5 bis 7
Jochen Liesebach, Abteilungsleiter der Jahrgänge 5 bis 7 © Claudia Pittelkow

Der Osdorfer Born, eine Plattenbausiedlung aus den 1960er Jahren an der westlichen Stadtgrenze, wird in den Medien gerne als sozialer Brennpunkt bezeichnet. Doch inzwischen zeigen die in den 1990er Jahren aufgelegten sozialen Förderprogramme, wie etwa das Förderprogramm Soziale Stadt, langsam Wirkung. Dazu zählt auch der Schulneubau, der bewusst als weiteres Quartierszentrum für die Bewohnerinnen und Bewohner des Stadtteils geöffnet wurde – das ist die zweite tragende Säule des sicheren Lern- und Lebensortes der Geschwister-Scholl-Stadtteilschule.

Schule mit großer Leidenschaft

Das integrierte Haus der Jugend und die Dreifeldsporthalle mit Besuchertribünen, die vom benachbarten Sportverein genutzt wird, sollen dazu beitragen, sich zu einem kulturellen Anker im Stadtteil zu entwickeln. „Wir kooperieren sehr eng mit dem Stadtteil“, sagt Ganztagskoordinatorin Christina Titze. Vor allem während der Pandemie habe man erkannt, wie wichtig eine Vernetzung mit den anderen Unterstützungsinstitutionen aus der Umgebung sei. Die Schule habe zu einem Forum eingeladen, um miteinander in Kontakt zu kommen, und besuchte später ihrerseits die Einrichtungen.

Das Resultat: Bei Problemen hilft man sich gegenseitig, kurze Wege statt langsamer Bürokratie. Titze: „Mit diesem Selbstverständnis einer Zusammenarbeit ist auch der Neubau entstanden, mit der Öffnung zum Stadtteil.“ Schule und Bezirk kooperieren miteinander, manchmal seien es nur kleine Projekte, „aber auch die sind Gold wert, denn darüber lernt man Menschen kennen“, betont Dirk Voss. Kürzlich habe die Schule eine Streetball-Skulptur eingeweiht, finanziert vom Bezirk. Die Schülerinnen und Schüler lernten den Künstler kennen und hatten Gelegenheit, selbst Beton zu gießen und Stahl zu verbiegen. Ein Traum sei das gewesen, so der Schulleiter.

„Wir haben viele Strukturen im schulischen Alltag, ohne die klassische Bildungsprozesse nicht möglich wären, nämlich Beziehung und Sicherheit. Damit die Kinder überhaupt gut lernen können, brauchen sie diese Grundlage, die wir hier schaffen“, so Voss. Im Vordergrund stehen eine gute Beziehungsarbeit, ein klarer pädagogischer Rahmen und Verlässlichkeit. Erst dann seien die Kinder und Jugendlichen bereit, sich auch auf Unterricht einzulassen. Es geht also um ein bewusstes Zusammenspiel von pädagogischer Beziehung und Lernen. Einig ist sich das Leitungsteam, dem die meisten schon viele Jahre angehören, darin: „Wir machen diese Schule mit großer Leidenschaft!“

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